Akteur

Wiel Arets
Amsterdam (NL)

„Eine virologische Architektur“

Der Limburger Architekt Wiel Arets

5. April 2002 - Robert Uhde
Mit der Maastrichter Akademie für Kunst und Architektur hat Wiel Arets schon vor Jahren für internationales Aufsehen gesorgt. Seine minimalistischen Bauten interpretieren das bekannte Vokabular der frühen Moderne, wahren aber dabei eine deutliche Distanz zu der in den Niederlanden noch immer populären Neomoderne.

Beim Gang durch das historische Zentrum von Maastricht wird der architekturinteressierte Blick früher oder später auf die rostige Fassade aus Cortenstahl des Herrenausstatters Beltgens treffen. Mit dem 1987 eingerichteten Modegeschäft ist Wiel Arets ein unprätentiöser aber würdevoller Eingriff in die alte, einst von den Römern gegründete Stadt gelungen: Von der Fussgängerzone aus öffnet eine hohe, schmale Tür eine visuelle Schneise zu einem kleinen Patio hinter dem Verkaufsraum, in dessen Mitte die aufgesockelte Büste eines Römers steht. Die deutlich überhöhte, fast schon surreale Ästhetik verwandelt das Modegeschäft in eine Art architektonisches Kunstwerk und lässt die Herrenbekleidung unversehens zur spirituellen Ware werden.


Spitzenleistungen in der Provinz

Einen ganz anderen Eindruck gewinnt man einige hundert Meter weiter südwestlich, wo der 1955 im nahegelegenen Heerlen geborene Architekt vor einigen Jahren ein eigenes Wohn- und Bürohaus fertiggestellt hat - eine minimalistische, längliche Box aus Holz und Beton; nach vorne hin fast verschlossen, nach hinten hin deutlich offener, mit einem langgezogenen horizontalen Fensterband und einem Zugang zum Garten. Trotz seiner festen Verwurzelung in der niederländischen Provinz Limburg versteht sich Arets nicht eigentlich als niederländischer Architekt: „Ich glaube, dass wir eher Kinder unserer Zeit als von einem Ort abhängig sind“, meint Arets, der nach Reisen durch Japan, Russland, Amerika und Europa an der Architectural Association in London (1988-92), an der Columbia University in New York (1991/92) und als Dekan am Berlage-Institut in Amsterdam (1995-98) unterrichtete.

Schon die ersten, zwischen 1984 und 1989 entstandenen Projekte verraten eine deutliche Nähe zur frühen niederländischen Moderne - zu Arbeiten von Johannes J. P. Oud oder Leen van der Vlugt etwa. Mit Gebäuden wie dem Friseursalon in Heerlen (1987) oder der Apotheke in Brunssum (1986) beruft sich Arets noch einmal auf die Forderung, Architektur als Materialisation eines Konzepts zu typisieren und den Ideen von Abstraktion, Universalität, Dauerhaftigkeit und Transparenz eine physische Form zu geben. Von einer „Architektur der Freiheit“ spricht Arets und beschwört dabei die weisse kubische Form, die geschlossene Planung, die Wandstruktur aus Beton und Glas und die patternartige Ausbildung horizontaler Fensterbänder.

Gegenüber den Werken seiner modernen Vorgänger zeichnen sich Arets' Arbeiten jedoch von Beginn an durch einen latenten Bezug zum städtebaulichen Kontext aus. „Wir wollen, dass unsere Gebäude in den existierenden Kontext passen und dabei flexibel und offen für Veränderungen bleiben“, erklärt Arets. Und tatsächlich: Spätestens mit der 1993 fertiggestellten Erweiterung der Akademie für Kunst und Architektur in Maastricht gerät die strenge Geometrie mehr und in Bewegung - die Baukörper schweben, hängen oder überbrücken. Als ein Ergebnis der Massstabsausweitung entwickeln sie sich in Richtung einer verlängerten oder gruppierten Konfiguration. So gelang Arets in Maastricht mit zwei L-förmig angelegten, minimalistisch gehaltenen Blöcken nicht nur eine mutige Zäsur gegenüber der angrenzenden alten Bebauung - durch eine Fussgängerbrücke, die beide Baukörper miteinander verbindet, wurde überdies ein Tormotiv zwischen der historischen Stadt und dem neugeschaffenen „Gedenkplatz“ (Herdenkingsplein) etabliert, wo fast zeitgleich mit der Akademie auch ein durch die Delfter Mecanoo- Architekten entwickelter Wohnkomplex eingeweiht wurde.


Inhaltliche Polyphonie

„Zunehmend hört man, dass es die Aufgabe der Architektur sei, die Städte wieder zu reparieren“, stellt Arets in seinem 1994 veröffentlichten Essay „A Virological Architecture“ fest. Folgt man dem Gedanken, dann stellt sich unweigerlich die Frage nach der richtigen architektonischen Medizin. Im Hinblick auf die Akademie in Maastricht berichtet Arets: „Ich habe intensiv die städtebaulichen Implikationen dekodiert und dann an dieser Stelle ein Gebäude eingefügt, das langsam zwar, aber nachhaltig die Umgebung verändert. Dieser Effekt ist vergleichbar mit einem Virus - einem positiv verstandenen Virus. Ich möchte etwas entwickeln, das aus der Umgebung, also aus dem Organismus selbst hervorkommt, die Codierung dieses Organismus beeinflusst und schliesslich einen neuen Code einfügt.“ Erst durch diese Form der Entschlüsselung kann ein neues Gebäude nach Arets' Überzeugung die Energie erhalten, die es braucht, um die städtebauliche Situation positiv zu verändern und „Räume für das Unvorhergesehene“ und „Spannungen innerhalb der Stadt“ zu schaffen.

Arets will mit seiner Strategie Gebäude entstehen lassen, die zwar „scheinbar einfach aussehen, denen aber eine ungeheure Komplexität innewohnt, so dass man ständig Neues entdeckt“. Bewusst strebt er dabei keine Komplexität der Form, sondern eine „inhaltliche Komplexität“ an: „Ich suche nach inhaltlicher Polyphonie, weil sie ein vielschichtiges Lesen ermöglicht“, meint Arets und vergleicht sein Konzept schliesslich mit den vielschichtig angelegten Filmen von Jean-Luc Godard: „Die Wegführung von Gebäuden entspricht im Prinzip dem Blickwinkel eines Kameramanns.“

Auf den Wahrnehmungsprozess des Betrachters verweist auch das Spiel mit Transparenz und Transluzenz. So besteht die Aussenhaut der Maastrichter Akademie aus massiv aufeinander gestapelten, mattierten Verbundglassteinen oder Betonplatten. Einen ähnlichen Eindruck gewinnt der Besucher auch beim AZL-Pensionsfonds (1990-95) im nahegelegenen Heerlen, einem Erweiterungsbau, dessen rigorose Betonformen in starkem Kontrast zu dem aus mehreren Flügeln bestehenden Ziegelsteinbau von 1941 stehen. Unter einem auskragenden Betonkopfbau hindurch gelangen die Kunden zu einer Freitreppe aus transluzenten Glasbausteinen, die gleichzeitig die Decke des darunterliegenden Archivs bilden. Nachts verwandelt sich der gläserne Boden in einen leuchtenden Teppich, der von der Eingangstreppe aus bis weit in das Gebäude hinein reicht.

„Architektur ist ein Dazwischen, eine Membran, eine Alabasterhaut, ein Ding, das einmal opak und einmal durchsichtig ist, bedeutungsvoll und bedeutungslos, real und irreal“, stellte Arets 1992 in seinem Essay „An Alabaster Skin“ fest. „Wenn man über Haut, Transparenz und Dichte redet, dann soll man nicht nur über das eine Element des Gebäudes, die Fassade, reden. Das Gebäude als Ganzes kann als Haut verstanden werden.“ Ein heikles Unterfangen, schliesslich offenbart die gläserne Haut Geheimnisse aus dem Inneren und hebt die vertrauten Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit auf. Bei der 1998 fertiggestellten Polizeistation in Boxtel - einer von vier realisierten Polizeistationen des Architekten - suchte Arets nach einem spielerischen Kompromiss zwischen notwendigen Sicherheitsanforderungen und dem Bedürfnis, Einblick in die Arbeit der Polizei zu gewähren: Die einzelnen Baukörper wurden so zwar weitgehend von einer Haut aus mattem Industrieglas überzogen, aber nur an einigen Stellen lassen Öffnungen der inne liegenden Betonschale erahnen, was dahinter geschieht. „Reale“ Ein- und Ausblicke werden hingegen erst durch einige wenige horizontal geschnittene Fenster ermöglicht.


Architektur mit Textbezug

Arets' Architektur steht in engem Zusammenhang mit den Schriften, mit denen er sich beschäftigt oder beschäftigt hat. So prägten Nietzsches und Foucaults Schriften den Entwurf für das Gerichtsgebäude in Groningen, und die Amsterdamer Academy for the Arts (1990) weist Bezüge zu den Theorien von Gilles Deleuze und Félix Guattari auf. Im unmittelbaren Kontakt mit den Gebäuden von Arets lassen sich diese Verweise jedoch getrost beiseite schieben. Die suggestive Kraft der stellenweise fast archaischen Architektur spricht für sich selbst. Sie ist stärker als ihre Theorie und strahlt eine Präsenz aus, die jeden Besucher umgehend zum Benutzer werden lässt. Mit einer auf das äusserste reduzierten Architektur zelebriert Arets die rohe Oberfläche, so dass sie einen sinnlichen Reiz und eine haptische Qualität gewinnt. Seine Vorliebe für Beton, Glas (in allen denkbaren Formen), Holz und Zink ist dabei unübersehbar. Gerade der Werkstoff Beton aber gewinnt auf grossen Flächen eine japanisch inspirierte Kargheit.

Ein weiteres Exempel seiner Architektur hat Arets kürzlich mit dem neuen Hauptsitz für den Möbelhersteller Lensvelt in Breda geschaffen: ein langgestrecktes, kristallines Gebäude, das Fabrikhalle, Büros und Showroom unter einem Dach vereint. Auch hier wird der Baukörper zu weiten Teilen von einer transluzenten Hülle umgeben. Das leicht grünliche Glas lässt so schon von weitem die Funktion des Gebäudes erahnen: Hinter der entblössten Tektonik zeichnen sich deutlich sichtbar die Konturen von Paletten und anderem Zubehör der Möbelfirma ab. Beim Gang ins Innere des Gebäudes hält Arets eine weitere Überraschung bereit: Unter einer rund 2,50 Meter über die Erde gehängten Box gelangen die Besucher ganz unverhofft in einen langgestreckten Innenhof, der von den Rotterdamer Landschaftsarchitekten West 8 als ein zenartiges Stilleben mit einer hölzernen Rampe, Ginkgo-Bäumen und einem skulpturalen Wall aus scharfkantigem Schiefer gestaltet worden ist.

Noch nicht fertig gestellt oder noch in Planung sind das multifunktionale Oosterpark-Stadion in Groningen, das bis 2004 als Teil des 54 Hektaren grossen Innenstadtquartiers Europapark realisiert werden soll, und die im Südwesten von Amsterdam entstehenden, 150 Meter hohen Arena-Türme. Fortgeschritten sind auch die Arbeiten auf dem nach einem Masterplan von OMA erweiterten Utrechter Universitäts-Campus „De Uithof“, wo gegen Ende nächsten Jahres die von Arets geplante neue Bibliothek eröffnet wird. Die Entwürfe dieses bisher grössten Projektes des Limburger Architekten zeigen einen neungeschossigen, von einer siebdruckbeschichteten Glashaut umhüllten Bau, der mit den Nachbargebäuden durch zwei Fussgängerbrücken verbunden wird. Durch die transluzente Aussenhaut hindurch offenbart sich ein raffiniertes Puzzle aus hohen Patios, die eine offene Verbindung zwischen Lesesälen und Büros schaffen und die Bibliotheks-Archive aufnehmen sollen. Der Bau fasst die über die gesamte Stadt verstreuten Bibliotheksstandorte an einem Ort zusammen und schafft durch seine Lage im Zentrum des Campus auch einen wichtigen städtebaulichen Schnittpunkt. Das nur einen Steinwurf weit entfernte Educatorium von Rem Koolhaas erwartet also interessante Nachbarschaft.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Kontakt

De Lairessestraat 41
1071 Amsterdam
Niederlande

Tel +31 43 3512200
info[at]wielarets.nl