Akteur

Kazuyo Sejima
SANAA - Tokyo (J)

Meisterin des großen Fastnichts

Die japanische Architektin und Pritzker-Preis-Trägerin Kazuyo Sejima leitete letztes Jahr die Architektur-Biennale in Venedig. Jetzt war sie in Wien und gab eines ihrer seltenen Interviews.

1. Oktober 2011 - Wojciech Czaja
STANDARD: Sie gelten als medienscheu und lehnen fast alle Interviews ab. Warum eigentlich?

Sejima: Mein Englisch ist nicht sehr gut. Das führt manchmal zu Missverständnissen. Lieber lasse ich meine Gebäude für sich sprechen. Da gibt es keine Missverständnisse.

STANDARD: Und was sagen Ihre Gebäude?

Sejima: Sie sagen sehr wenig. Der Raum dient in erster Linie dazu, die Natur und das Licht sprechen zu lassen.

STANDARD: Warum ist alles weiß?

Sejima: Unsere Häuser sind nicht immer weiß. Aber oft. Als ich jung war, habe ich manchmal mit sehr grellen Farben gearbeitet. Meine ersten Bauten waren gelb und blau. Mit der Zeit beginnt man, sich zu reduzieren und zum Einfachen zu streben. Es geht um die Essenz.

STANDARD: Was wären Ihre Gebäude ohne Weiß?

Sejima: Sie wären durchsichtig und unsichtbar.

STANDARD: Letztes Jahr wurde Ihnen der Pritzker-Preis verliehen. Hat sich seit damals etwas verändert?

Sejima: In den ersten Monaten nach der Preisverleihung war alles beim Alten. Wir haben an Wettbewerben teilgenommen, wir haben gewonnen, wir haben gebaut. Doch in letzter Zeit erkennen wir, dass wir nicht mehr ausschließlich auf Wettbewerbe angewiesen sind. Plötzlich gibt es auch Direktaufträge, und wir müssen nicht mehr um jeden Auftrag kämpfen. Das macht das Leben angenehmer.

STANDARD: Im gleichen Jahr wurden Sie zur Direktorin der Architektur-Biennale in Venedig bestellt. Es heißt, Sie hätten am Anfang gezögert.

Sejima: Um ehrlich zu sein: Ich habe Angst gehabt. Als ich angerufen und gefragt wurde, ob ich die Architektur-Biennale in Venedig leiten will, dachte ich mir: Das ist absolut unmöglich! Im Rückblick betrachtet, war die Arbeit für die Biennale eine großartige Möglichkeit, einen Überblick über die zeitgenössische Architekturszene zu gewinnen. Wissen Sie, als Architektin arbeitet man sich von einem Projekt zum nächsten, und der Blick ist sehr eng. Im Alltag fehlt meistens die Luft, um in die Welt hinauszublicken.

STANDARD: Und? Was haben Sie bei diesem Blick in die Welt gesehen?

Sejima: Am tollsten war für mich, dass ich mich mit den vielen jungen Büros in Japan auseinandersetzen musste. Da gibt es spannende Tendenzen. In der Informationsgesellschaft hat man sonst nur mit Stararchitekten zu tun. Das ist langweilig.

STANDARD: Das von Ihnen kreierte Motto lautete „People meet in architecture“. Sind Sie mit den Ergebnissen zufrieden?

Sejima: Ja, sehr sogar. Architektur als Treffpunkt für Menschen - das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Leider ist das oft nicht der Fall. Vor allem in Japan wird oft jeder Quadratmeter mit Funktionen belegt. Alles ist vordefiniert. Für die Menschen bleibt kein Platz. Mit meinem Motto wollte ich das wieder in Erinnerung rufen.

STANDARD: In Ihren eigenen Projekten gehen Sie mit dem Raum manchmal sehr verschwenderisch um. Kostet das mehr?

Sejima: Nein. Es gibt ein Geheimnis: Wir investieren das meiste Geld in die Struktur und somit in die größendefinierende Komponente. Die Oberfläche bleibt meistens roh. Auf diese Weise können wir bei den Materialien viel Geld sparen. Im Rolex Learning Center in Lausanne haben wir uns auf diesen großen, fließenden Raum konzentriert. Und am Ende haben wir einfach nur einen billigen Teppichboden reingelegt, weil wir sonst das Budget überschritten hätten. Eine Universität mit Teppich, wo gibt es das schon!

STANDARD: Gibt es für Sie einen Unterschied, ob Sie in Japan, Europa oder Nordamerika bauen?

Sejima: Nicht prinzipiell. Aber wir passen uns - egal wo wir bauen - den lokalen Rohstoffpreisen an. In Deutschland beispielsweise ist Beton sehr billig. In Manhattan wiederum ist Beton fast unbezahlbar, doch dafür ist Stahl recht günstig. Wenn man diese Grenzen akzeptiert, dann kann man nicht nur günstig bauen, sondern auch den Lokalkolorit erhalten.

STANDARD: Gibt es ein Lieblingsmaterial?

Sejima: Glas ist ein schönes Material, weil es Konstruktion, Füllung und Haut in einem ist.

STANDARD: Und was ist mit Wärmedämmung? Was ist mit Überhitzung?

Sejima: Wir haben in Japan einen anderen Zugang zum Wohnen. Warum muss ein Zimmer im Sommer exakt 21 Grad haben? Und warum muss ein Zimmer im Winter ebenfalls exakt 21 Grad haben? Das ist unlogisch. In Japan verschließen wir uns nicht gegenüber der Natur und den Jahreszeiten. Wir leben nicht gegen sie, wir leben mit ihnen. Wenn es kalt ist, ziehen wir einen Pullover an. Ich verstehe nicht, warum das in anderen Ländern nicht funktioniert.

STANDARD: Dennoch sind die Heiz- und Kühlkosten in Glasgebäuden höher als in anderen.

Sejima: Ich gebe Ihnen recht. Die Projekte, die wir in Japan realisiert haben, sind meist recht energieintensiv. Das liegt daran, dass Strom in Japan sehr billig ist. Zu billig. Außerdem sind die Richtlinien in Japan nicht streng genug. Europa ist da schon viel weiter.

STANDARD: Hat sich der Umgang mit Energie seit Fukushima geändert?

Sejima: Ja, seit dem Erdbeben und dem Tsunami ist alles anders. Die Menschen beginnen plötzlich damit, sich mit Energiekonsum auseinanderzusetzen. Tokio ist nicht wiederzuerkennen. Vor Fukushima war die Stadt bunt und grell, heute ist sie schwarz und dunkel. Die Hälfte der Leuchtreklamen und Lichter ist verschwunden.

STANDARD: Gibt es auch schon Auswirkungen auf die Vorschriften und Richtlinien?

Sejima: Nein, noch nicht. Unsere Lehre aus Fukushima lautet: Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Aus diesem Grund hat bei uns im Büro bereits ein Umdenken stattgefunden. Die Projekte von SANAA werden sich verändern.

STANDARD: Durch den Tsunami wurde auch die Insel Inu-Shima zerstört, auf der Sie viele kleine Galerien errichtet haben.

Sejima: Wir sind gerade mitten im Bau. Einige sind schon fertig, andere noch in Planung. Der Tsunami hat auf Inu-Shima 75 Prozent der Häuser zerstört. Und von den insgesamt 3000 Einwohnern sind 1000 ums Leben gekommen. Die Situation ist dramatisch. Unsere Galerien sind vom Tsunami unversehrt geblieben. Zum Glück. Denn auf diese Weise kommen Touristen und Kunstliebhaber auf die Insel. Auf diese Einnahmen sind die Menschen auf Inu-Shima dringend angewiesen.

STANDARD: Werden Sie das Projekt fortsetzen?

Sejima: Natürlich. Das Projekt ist jetzt wichtiger denn je.

STANDARD: Sie bauen derzeit die Museumsdependance des Louvre in Lens, Frankreich. Die Eröffnung ist für nächstes Jahr geplant. Was können wir erwarten?

Sejima: Der Louvre in Lens wird ohne große Gesten auskommen. Das ist ein stilles Gebäude, das seine Qualitäten erst auf den zweiten Blick entfalten wird. Das ist unsere Stärke.

STANDARD: Gibt es einen Traum für die Zukunft?

Sejima: Eines Tages will ich eine Volksschule bauen. Nirgendwo verbringen Kinder in diesem einprägsamen und lehrreichen Alter mehr Zeit als in der Schule. Das ist ein Umfeld, das das ganze Leben mitprägt. Leider ist man sich dessen in Japan nicht bewusst. Wenn ein Mord oder ein Selbstmord passiert, und das passiert leider viel zu oft, dann zuckt man mit den Achseln und sagt: Das ist so, das kann man nicht ändern. Doch, man kann! Man muss sich nur einen Ruck geben. Ich nehme meine Verantwortung als Architektin wahr und sage: Ich fange an, indem ich eine schöne und respektvolle Umwelt für die Kinder gestalten will.

STANDARD: Kann Architektur solche Katastrophen wirklich verhindern?

Sejima: Nicht verhindern! Aber minimal beeinflussen. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich bin der Meinung: Jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft muss sich mit seinen Kompetenzen einbringen, wenn es darum geht, die Gesellschaft von morgen zu formen. Diese Einstellung vermisse ich.

[ Kazuyo Sejima (55) leitet mit ihrem Partner Ryue Nishizawa das Büro SANAA. Die Tokioter Architektin erhielt letztes Jahr den Pritzker-Preis und war Direktorin der Architektur-Biennale 2010 in Venedig. Vor wenigen Tagen war sie im Rahmen der Mak-Vortragsreihe „Changing Architecture“ zu Besuch in Wien. ]

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