Artikel

Mit Ziegel und Lenden
Spectrum

Warum hat Schokolade Rippen, warum ist ein Gummibär durchsichtig? Und warum sieht ein Fischstäbchen nicht aus wie ein Fisch? Food-Design oder: Essen - die kleine Architektur auf Tisch und Teller.

4. Juni 2005 - Wojciech Czaja
Warum ist der Himmel blau, warum kann ein Flugzeug fliegen, ein Schiff schwimmen, und warum - ja, warum - hat eine Semmel fünf Teile? Mit dieser Frage sind wir schon beim Food-Design angelangt, jener formvollendenden Wissenschaft, die sich der Gestaltung von Lebensmitteln widmet. Ein Haribo-Bär ist transluzent, eine Schokolade hat Rippen, ein Soletto ist lang und bricht. Oder wenn das Motto gilt: Rupp hat's beschte Eck vom Käs. Einem Fischstäbchen darf man dafür den Fisch nicht ansehen, ein Würstl schließlich muss knacken. Food, Design, oder handelt es sich dabei gar um Architektur?

Wer hinter dem anglizistisch fesch dahergekommenen Begriff eine neue Design-Offensive vermutet, der irrt gewaltig. Denn Food-Design widmet sich nicht nur der Form an sich, auch auf dem Gebiet des Essens gilt Louis Sullivans viel zitiertes Allround-Motto „Form follows Function“. Und diese architektonische Erkenntnis geht ja bekanntlich auf das Jahr 1896 zurück, im Geheimen darf man die Genesis dieses Phänomens noch ein paar Jahrhunderte oder Jahrtausende früher vermuten. Essen - die kleine Architektur auf dem Tisch und auf dem Teller, wunderschön und nützlich zugleich? Architekt und Filmemacher Peter Kubelka, im Grunde seines Wesens dann doch kulinarischer Esskultur-Theoretiker, stellt ganz hohe Ansprüche: „Jeder Architekt soll kochen lernen, jeder Architekt muss kochen können.“ Noch eindeutiger lassen sich die beiden Disziplinen des Bauens - einmal mit dem Ziegelstein und einmal mit dem Lendenstück - miteinander nicht verweben.

„Wenn alle Künste untergehn, die edle Kochkunst bleibt bestehn“, sagt der Volksmund, womit die Verwirrung rund um das Essen perfekt wäre: Architektur, Design und jetzt noch die Kunst? In seinem Düsseldorfer Lokal Spoerri hat der gleichnamige Künstler regelmäßig zu Fressgelagen geladen, die ihm mitunter das Grundmaterial für seine sogenannten Fallenbilder lieferten. 1968 bauen Hausrucker & Co ein Architekturmodell aus Brot und Gebäck, 1983 stellt Koch und Food-Stylist (ja, diesen Beruf gibt es) Manfred Buchinger eine Damenfrisur mit applizierten chinesischen Glasnudeln vor, und 1997 darf man im Museum für Angewandte Kunst - zumindest im übertragenen Sinne - Platz nehmen: In der Ausstellung „mäßig und gefräßig“ stellt Jana Sterbak ihre Arbeit „Apollinaire“ aus, ein Fauteuil aus zusammengenähten Rinderkoteletts.

Man kann es also drehen und wenden, wie man will - Essen und wohl auch die Auseinandersetzung damit sind eine grundlegende Voraussetzung fürs Überleben. Sowohl in biologischer als auch in kultureller Hinsicht. Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter, Autoren des jüngst erschienenen Buchs „Food Design - Von der Funktion zum Genuss“, sprechen den ultimativen Verdacht aus: „Essen ist mindestens genauso intim und unerschöpflich wie Sex.“ Die wichtigste Nebensache im Leben braucht sich mit der wichtigsten Hauptsache also nicht mehr zu messen, beide widmen sich der Verschmelzung, der Aufnahme von Dingen in den eigenen Körper. Die Erfindung des Sauerteigs, laut Stummerer und Hablesreiter die zweite große kulinarische Revolution nach der Entdeckung des Feuers, gab schließlich auch Auskunft über die Fruchtbarkeit der Frau: Blieb der Teig trotz der Hefekulturen sitzen, wurde dies als Indiz für die Unfruchtbarkeit der Köchin gedeutet.

Vom historischen Handwerk zurück in die Industriegesellschaft. Alle Mythen sind längst verblasst, an ihre Stelle treten Berechenbarkeit und Marktforschung. Ein Gummibär hat demnach eine bestimmte Größe, damit selbst das Kindergebiss mit ihm so lange ringen kann, bis er sich chancenlos ergibt. Die Schokoglasur der Sachertorte etwa ist dick genug, um dem Wiener Souvenir selbst auf langen Postwegen hohe Widerstandsfähigkeit zu gewährleisten. Und die Toblerone, ein Produkt von Theodor Tobler, der davon geträumt hatte, ein Symbol für sein Heimatland zu schaffen, muss dank der Kerben nicht gebrochen werden - das sachte Zusammendrücken zweier Matterhorn-Gipfel reicht aus, um den Schokoriegel in mundgerechte Stücke zu zerteilen.

Herstellungsbedingte Machbarkeit, Grundeigenschaften der Zutaten oder schlicht und einfach die Erwartungshaltung des Konsumenten bestimmen die Eigenschaften des jeweiligen Produkts. Viele Entscheidungen am Kühlregal spielen sich unterbewusst ab und werden aus dem sprichwörtlichen Bauch heraus getroffen. Vor allem Kinder sind in ihrer konsumfreudigen Offenheit dem krachenden und knirschenden Fun-Food gegenüber leicht zu ködern, hat man erst einmal die elementaren Parameter in Bezug auf Gestalt, Größe, Farbe, Konsistenz und nicht zuletzt Sound erforscht und in die Produktentwicklung einfließen lassen.

So testet die Firma Nestlé anhand eigens entwickelter „Krustimeter“ die akustischen Eindrücke während des Bruch- und Essvorgangs. Ottakringer wiederum hat vor kurzem erst eine neue Produktverpackung am Markt lanciert: Statt des vertrauten „Zisch“ beim Öffnen des Flaschenkorkens soll eine spezielle Plastikapplikation an der Unterseite der Bierkappe nun „Plopp“ machen. Plopp, so der Vorstand von Ottakring, stehe nämlich für noch mehr Frische. Ich muss gestehen, trotz Plopp-Korkens ist es bei zwei von zwei Versuchen beim bewährten Zisch geblieben. Womöglich war der Flaschenöffner ganz einfach nicht foodfreundlich genug designed.

So viel ist nach einem Spaziergang durch den Supermarkt klar: Die Globalisierung hat vor Food-Design gewiss nicht Halt gemacht. Produkte können neuerdings in Symbiose treten, denn vom Toastblock und seinem Schmelzkäse bis hin zur Kaisersemmel und ihrer Extrawurst wurden sämtliche Nahrungsmittel dieser Welt anhand von Normen und empirisch generierten Definitionen aufeinander abgestimmt. Der hungrige und nach Experimenten dürstende Kunde macht es einem dabei aber nicht leicht. Denn die Avantgarde macht der Nahrungsmittel-Industrie immer wieder einen Strich durch die Rechnung - und spornt sie im Gegenzug zu immer neuen Geschmackskombinationen an.

So rasch, wie sich die Stile in der Architektur ändern und die Modekollektionen in und gleich wieder out sind, geht es auch in der kulinarischen Branche zu. Immer rascher und immer unvorhersehbarer verhalten sich Angebot und Nachfrage zueinander, die Kreativität der Konkurrenz schläft freilich auch nicht. „Avantgarde gibt es immer“, konstatiert Peter Kubelka, „doch wenn sie Galerien, Gourmetlokale, Kunstzeitschriften und Restaurantführer erreicht hat, ist sie meist schon gegessen.“ Aus einer Not stets eine Tugend, Unverwechselbarkeit ist das Nonplusultra. Und so wird so mancher Produzent durch ein herausstechendes Produkt- und Marketingkonzept zum Trendsetter. Es ist wie in der Architektur. Sagen Sie also niemals Leberkäse zu ihm. Das verleiht Flügel.

Das Buch „Food Design“ von Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter (Springer Verlag) wird am 7. Juni, 18 Uhr, im Ferstl-Trakt der Universität für angewandte Kunst, Wien I, Oskar-Kokoschka-Platz 2, präsentiert.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: