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Ein Haus von Dr. Flex
Der Standard

Die einen sprechen von einer Modeerscheinung, die anderen von der lang ersehnten Emanzipation in der Architektur: Multifunktionalität goes cubic. And beyond

9. September 2005 - Wojciech Czaja
„Ich bin 24 Jahre jung, ledig, ehrgeizig und halte mich für flexibel.“ Ausschnitt aus einem Bewerbungsschreiben um einen Universitätsposten, aus irgendeinem Chat-Forum herausgegoogelt, recht flexibel erarbeitet also. Angesichts der Tatsache, diese gegenstandslose Eigenschaft mittlerweile jeder Zahnbürste abzuverlangen, ist Flexibilität heutzutage keine großartige Ressource mehr. Dr. Flexens Beitrag zur Flexibilität ist die eine Art, andere wiederum buhlen mit dem Zuckerl der mobilen Videotelefonie um neue Handykunden - now you can, now you have to! Egal wie und wo, was bleibt, ist der unausweichliche Trend, der Flexibilität in erster Linie mit Mobilität und Multifunktionalität gleichsetzt.

Ein bisschen schwieriger gestaltet sich die ganze Sache, wenn justament die Immobilie zum mobilen Etwas werden muss. Heidegger meint: „Wohnen? Das gotische Wort Wunian bedeutet: zufrieden sein, zum Frieden gebracht sein, in ihm bleiben. Das Wort Friede meint das Freie, bewahrt vor Schaden und Bedrohung.“ Nicht befreit wird die Wohnung jedoch von anbahnender Unruhe, sogar der letzte Rückzugspunkt der eigenen vier Wände muss sich dem Kanon der heiß umgarnten Unterhaltungsgesellschaft beugen. Heidegger muss enttäuscht werden, alles muss sich drehen, klappen, wenden, schieben, sich sonst irgendwie fortbewegen. Je mehr, desto besser, und je unterschiedlicher, desto cooler. Ohne Unruh' also kein Friede, am besten überhaupt, die gesamte Wohnung lässt sich auf Knopfdruck umbauen.

„Flexibilität ist ein ungemein modisches Füllwort geworden. Wenn etwas gut verkauft werden muss, wird es sofort als flexibel bezeichnet, und schon fährt der Markt darauf ab“, so Architektur-Absolventin Stephanie Joussein, die sich eingehend mit ebengleichem Thema im sozialen Wohnbau beschäftigt hat, „vielleicht ist diese Eigenschaft also nur eine Mode- erscheinung?“ Als so ein - auf den ersten Blick - einmaliges Wow kommt das multiple Hamsterrad „turn on“ der Wiener Architektengruppe AllesWirdGut daher. Weit draußen die unendlichen Weiten der Natur, doch innen ist alles minutiös durchexerziert bis ins letzte Detail. Die unterschiedlichen Funktionen von Kochen und Essen bis hin zu Arbeiten, schließlich bis zur freizeitlichen Ruhe des Nichtstuns und des Schlafens sind im Kreis angeordnet. Was man gerade braucht, wird in die gewünschte Position gedreht, der Rest harrt einer späteren Nutzung und hängt als Fledermaus kopfüber einfach von der Decke herab.

Alles Utopie, könnte man meinen. Doch nicht zuletzt der intensiven Vorarbeit solcher visionärer Experimente ist zu verdanken, dass beispielsweise auch Ikea so erfolgreich zum Zug kommt: 2003 stand der Ikea-Katalog ganz unter dem Motto „Go cubic“ - ein neues Konzept im erschwinglichen Einrichtungssektor zwar, in der restlichen Welt der Architektur und des Designs aber längst schon ein alter Hut. Ganz dem Zeichen des Dreidimensionalen hat sich auch Barbara Pitschmann verschrieben. Ihr Projekt „Notpalast“ ist eine Art Ikea für Arme, konkret ein mobiles Minihaus für Obdachlose. Geschoben und gezogen, quer durch die ganze Stadt - sogar zwischen den Entwerter-Backen auf den U-Bahn-Steigen passt er hindurch - wird das mobile Zuhause soweit befördert, bis der Obdachlose im Heidegger'schen Sinne zur Ruhe kommen möchte. Untertags ein Koffer auf Rädern, in dem alles vom Flaschenöffner bis zur Konservendose seinen Platz hat, in der Nacht entwickelt die weiße Box hingegen campingplatztaugliche Qualitäten.

Mobilität an ihrem Höhepunkt also. Da lächelt der moderne Mensch zwischen dem leeren Begriff der Freiheit und dem Zwang zur Beweglichkeit. Doch das ist zeitgemäß, vor allem aber ist es erwünscht: „In den 60er-Jahren war das alles nur eine Lifestyle-Bewegung, die von den Architekten ausgegangen ist“, erklärt Gerhard Kalhöfer, der mit seinem Partner Stefan Korschildgen schon manches Haus und manche Küche in Bewegung gebracht hat, „doch die Nutzer sind in der Zwischenzeit emanzipierter geworden.“ Ein Tribut an den Menschen, voller Variabilität und Anpassungsfähigkeit - nicht zuletzt wird auch noch der Spieltrieb des Bewohners befriedigt. Die Architekten Kalhöfer-Korschildgen sprechen auch von der Ästhetik des Unvorhergesehenen.

Schöner wohnen also. Im Nu gelangt ein oft missbrauchtes Schlagwort zu neuer Bedeutung. Denn kaum ist so ein Wohnraum mit vielen potenziellen Urzuständen einmal bewohnt, hält einen nichts mehr davon ab, die jahrelange Erkundungsreise durch alle Launen, Höhen und Tiefen der eigenen Befindlichkeit anzutreten. In einer Villa in Bordeaux (Architekt Rem Koolhaas) wird die Veränderung öfter stattfinden, denn hier ist sie ein raumgewordener Aufzug, der den gehbehinderten Bauherrn auf und ab hievt. In den Berliner Estradenhäusern von Wolfram Popp dagegen ist die Klapp-Schiebewand eine spielerische Matrix, die sowohl mit der Privatheit als auch mit der Repräsentanz zu liebäugeln vermag. Der beinahe verschwindende Aspekt des Nötigen wird hier einzig durch die alltägliche Phobie dreckigen Geschirrs getragen. Immerhin.

Der wohnbauerprobte Helmut Wimmer bringt es auf den Punkt: „Wir sollten die Mittel, die Bedingungen und die Möglichkeiten dafür schaffen, dass jedes einzelne Individuum in eigener Regie seine Umwelt gestalten und nach Bedarf, Lust und Laune immer wieder verändern kann.“ Übertroffen wird er nur noch durch Bertolt Brecht, denn dieser meint: „Die wirklich groß geplanten Werke sind unfertig.“

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