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Das gibt es nur auf dem Papier
Der Standard

Architekten haben eine sonderliche Sprache. Wenn sie den Mund aufmachen, versteht sie keiner. Um diesem Problem vorzubeugen, wurde vor vielen, vielen Jahren der Plan erfunden.

26. Mai 2006 - Wojciech Czaja
Vor einiger Zeit erreichte ein Leserbrief unsere Redaktion. Frau S. fragte darin ganz klipp und klar: „Wie wär's mal mit Grundrissen auf der Architekturseite? Oder überhaupt eine philosophische Betrachtung über die Schönheit von Grundrissen und deren Bedeutung in der Architekturgeschichte?“ Gähnende Leere machte sich bei uns breit. Grundrisse? Grottenfad.

Zur Erklärung an Frau S. möchten wir hiermit antworten: Wir zeigen äußerst selten Grundrisse. Denn ein Grundriss ist nichts anderes als ein grafisches Werkzeug der Architektur, und dieses möge doch bitte unter den Architekten bleiben. Aber warum nicht einmal eine Ausnahme machen?

Der französische Architekt Le Corbusier alias Charles Edouard Jeanneret vertrat zwar schon im Jahre 1923 die Meinung, aus dem Grundriss entstehe alles, und ohne Grundriss sei alles Unordnung, sei alles Willkür. Doch im gleichen Jahr schrieb er in seinem Buch „Vers une architecture“ noch ein anderes gewichtiges Satzerl nieder, das da lautet: „Alles ist Betrug, ist Blendwerk.“ Denn man dürfe beim Zeichnen eines Grundrisses nie vergessen, dass es das menschliche Auge ist, welches die Wirkungen aufnimmt.

Doch das vergisst man gerne, von diesem Fliegen und Schweben über die Lüfte und die Länder hat sich schon so mancher Architekt und Künstler verleiten lassen. Das Re- sultat sind fesch geformte Städte und Städtchen. Mit einem Wermutstropfen: Wenn man nicht gerade die Stadt überfliegt oder über den ausgebreiteten Stadtplan gebeugt ist, dann bekommt man von den städtebaulichen Bemühungen der plansinnenden Avantgardisten nicht all zu viel mit.

Ein frühes und prominentes Projekt, das auf dem radikalen Reißbrett entstand, ist die norditalienische Idealstadt Palmanova, ein Aushängeschild der Renaissance. Palmanova wurde 1593 als Festungsstadt der Republik Venedig zum Schutz vor den Türken angelegt, die massiven Stadtmauern erinnern noch heute an die groß geschmiedeten Pläne. Vor allem aber wollte man die Stadt zum wichtigsten Stützpunkt der Venezianer auf dem Festland ausbauen. Wenn man sich heute in die Mitte der sechseckigen Piazza stellt und ein bisschen die zentrale Einsamkeit über sich ergehen lässt, dann wird bald klar, dass aus dem stolzen Vorhaben nicht allzu viel geworden ist. Palmanova ist ein verträumtes Open-Air-Museum mit einem Hauch nordischer Italianità. Ein genießerischer Cappuccino mit einer großen, fetten Milchschaumhaube zählt so ziemlich zum Besten, was die Stadt heute zu bieten hat.

Haben sich die Mühen des 16. Jahrhunderts bezahlt gemacht? Aus der Vergangenheit lernt man, möchte man meinen. Doch 200 Jahre später passiert das Gleiche nochmal. Diesmal sind es die Franzosen, die an das grundgerissene Glück glauben. Claude Nicolas Ledoux, der französische Revolutionsarchitekt schlecht- hin, entwarf die Salinenstadt in Chaux. Innerhalb einer perfekten Kreiskontur sind Salinen-und Verwaltungsgebäude sowie eine Wagenremise und diverse Arbeiterhäuser untergebracht. Eine hermetisch geschlossene Arbeitswelt ganz im Sinne des Absolutismus. Betont wird dieses politische System einmal mehr durch die Tatsache, dass in der Mitte der kreisförmigen Anlage das Haus des Direktors thront. Doch das absolutistische Projekt, das Geburt, Arbeit und Tod in eine geometrische Form pressen wollte, ist missglückt. Die erste Hälfte wurde gebaut, die andere wollte dann keiner mehr. Der Halbkreis dient heute als Ausstellungs- und Seminarzentrum.

Reist man in der Architekturgeschichte ein weiteres Mal zwei Jahrhunderte in Richtung Gegenwart, wird einem der wiederholte Beweis erbracht, dass die Menschheit noch immer keines Besseren belehrt wurde. Denn immer noch werden die Pläne aus der Vogelperspektive ausgebrütet, immer noch verliebt man sich in die planerische Ästhetik des Zweidimensionalen. Beispielsweise während der Planungsarbeiten der Großstadt Brasilia. Die Idee einer eigenständigen brasilianischen Hauptstadt gibt es schon seit über hundert Jahren. Doch der endgültige Entwurf geht auf eine gekritzelte Skizze auf einem Stück Papier zurück, das der Stadtplaner Lúcio Costa mit Verspätung der Wettbewerbs-Jury in die Hand drückte. Es war das Jahr 1956. Der „Plano Piloto“ - wie der Grundriss in Form eines Vogels mit ausgebreiteten Flügeln kurzum genannt wird - wurde in planerischer Zusammenarbeit mit Oscar Niemeyer in nur vier Jahren realisiert. 1960 war das Prestigeprojekt der Moderne dann fertig. Zumindest baulich.

Heute leidet Brasilia an katastrophalen demografischen und sozialen Werten. Seitdem das großspurige Kulturdenkmal 1987 in die Unesco-Liste aufgenommen wurde, geht nichts mehr. Der Plano Piloto darf nicht angetastet werden, ein Speckgürtel aus Favelas und Satellitenstädten hat sich rund um die Kapitale angesiedelt. In einem Dokumentarfilm von Jens Dücker heißt es, die brasilianische Normalität habe die Retortenhauptstadt eingeholt. „In alten Städten wirkt eine Atmosphäre aus Geruch und Körperlichkeit. In Brasilia überwiegt das Visuelle.“ Ist das also der nüchterne Siegeszug jener architektonischen Vokabel, die wir Grundriss nennen?

Grundrisse sind nichts anderes als ein Mittel zum Zweck. Sie können funktional sein, sie können soziale Spielregeln determinieren, ja sie können bisweilen sogar ästhetisch sein. Doch letztere Qualität ist eine rein intellektuelle. Denn mit Ausnahme städtischer Freiräume ist die Gesamtform eines Grundrisses niemals mehr rezipierbar - schon gar nicht für einen Laien. Wir wissen, dass die Piazza del Campo in Siena halbkreisförmig ist, dass die Place Vêndome einem Achteck gleicht, und wir wissen nur zu gut, dass es sich beim christlichen Petersplatz um eine symbolische Ellipse handelt.

Doch wer ist schon ernsthaft in der Lage, den Stadtplan von Brasilia durch die reine Begehung zu rekonstruieren? Wer kann das komplexe Gefüge einer barocken Kirche nachzeichnen? Und wer findet sich im Schloss Versailles zurecht?

Wie unwichtig Grundrisse abseits ihrer kommunikativen Funktionalität sind, zeigt sich anhand eines ehemaligen Tempels in der sizilianischen Stadt Siracusa. Im 7. Jahrhundert wurde der griechischen Urform auf brutalste Art und Weise ganz einfach eine Kirche übergestülpt. Eine Art Umbau mit etwas martialischen Spielregeln, die heute - so viel ist sicher - absolut undenkbar wären. Der Experte erkennt im Grundriss gewiss eine Ähnlichkeit, der Laie jedoch verlässt sich auf die optische Erkundungstour durch die zeitlichen Überlagerungen. Und mit Sicherheit - Letzterer wird der Klügere sein.

„Die zentralen Bauten der Architekturgeschichte und -gegenwart sind häufig Gebäudetypen, bei denen die Nutzungsqualitäten hinter den symbolischen Ausdrucksgehalt zurücktreten“, schreibt der deutsche Architekturdenker Riklef Rambow, „zum Beispiel Kirchen, Museen, Konzerthallen und andere Repräsentationsgebäude.“ Was jedoch passiert, wenn die Symbolik überhand nimmt, beschreibt Le Corbusier anhand von Versailles, dem eitlen Projekt von Ludwig XIV.: „Zu Füßen des Thrones legen ihm die Architekten Baupläne in Vogelperspektive nieder, die einer Sternkarte gleichen: ungeheure Achsen, Sterne. Der Sonnenkönig bläht sich vor Stolz, die gigantischen Arbeiten werden ausgeführt.“ Und Le Corbusier lacht sich ins Fäustchen: „Jedoch hat der Mensch nur zwei Augen in 1,70 Meter Höhe über dem Boden, und sie können auf einmal nur einen einzigen Punkt erfassen.“

Der stolze Sonnenkönig ist seiner eigenen Propaganda zum Opfer gefallen. Das Argument mit den zwei Augen ist in der Tat ein hieb- und stichfestes. Selbst die besten Architekten Österreichs werden uns vom Gegenteil nicht überzeugen können. Denn wir nehmen die Welt nicht in Plänen wahr, sondern in unendlichen Blickachsen und verzerrten Perspektiven, in bewegten Bildern und belebten Momenten. Jeder Grundriss ist - sofern er mehr erfüllen möchte als seinen ureigentlichen Zweck des architektonischen Behelfs - nur eine fahle Ästhetik von kurzer Dauer und von geringem Genuss. In diesem Sinne: Liebe Frau S., genießen Sie diese Grundrisse! Denn sie werden die letzten sein, für eine lange, lange Zeit auf dieser Seite.

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