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Fazlur Rahman Khan (1929–1982)
deutsche bauzeitung

Wegbereiter der Second Chicago School

In keinem der diesjährigen Hefte würde sich unser »Ingenieurporträt«, das wir nur noch themenbezogen veröffentlichen, mehr anbieten als in diesem: Ausgewählt haben wir hierfür Fazlur Rahman Khan. Er arbeitete als Ingenieur und Tragwerksplaner in dem nach wie vor bedeutenden Chicagoer Architekturbüro SOM und hat durch seine Überlegungen und Entwicklungen nicht nur den Hochhausbau revolutioniert, sondern somit auch die Architektur in den USA des 20. Jahrhunderts wesentlich beeinflusst.

1. Mai 2008 - Werner Sobek
Fazlur Rahman Khan wurde am 3. April 1929 in Faridpur in der Nähe von Dhaka im heutigen Bangladesh geboren. Nach der Schulausbildung studierte er am Benghal Engineering College der Universität Dhaka, wo er 1950 als Jahrgangsbester mit einem Bachelor of Sciences abschloss. Er unterrichtete zunächst zwei Jahre in seinem Heimatland, bevor er ein Fulbright-Stipendium für einen Studienaufenthalt in den USA erhielt. An der University of Illinois at Urbana-Champaign erlangte er in nur zwei Jahren Master-Abschlüsse im Bauingenieurwesen und in Angewandter Mechanik. Bereits im Jahr 1955 promovierte er, ebenfalls in Urbana-Champaign, in »Structural Engineering«.

Dank seiner offenkundigen akademischen Brillanz erhielt Khan kurze Zeit nach seinem Abschluss Stellenangebote von führenden amerikanischen Ingenieurbüros. Bevor er sich entschied, traf er zufällig einen Freund, der bei Skidmore, Owings and Merrill (SOM) arbeitete – zu jener Zeit bereits eines der weltweit führenden Architektur- und Ingenieurbüros. Darüber informiert, dass SOM ebenfalls neue Mitarbeiter suchte, begab er sich sofort in das Büro seines Freundes und bat um ein Vorstellungsgespräch. Khan wurde nicht nur innerhalb von fünf Minuten eingestellt, sondern zu seiner Überraschung auch gleich mit der Leitung eines Projekts beauftragt, das unter anderem den Entwurf von sieben Autobahn- und Eisenbahnbrücken umfasste.

1957 kehrte er in sein Heimatland zurück, um die mit seinem Fulbright-Stipendium verknüpften Bedingungen einer Berufstätigkeit in seinem Herkunftsland zu erfüllen. Er wurde Direktor des Building Research Centre von Pakistan (zu dem Bangladesch zum damaligen Zeitpunkt noch gehörte). Nach einem Militärputsch im Jahr 1958 verlor er diesen Posten jedoch aus politischen Gründen wieder. Khan arbeitete in den folgenden zwei Jahren für die Karachi Development Authority und übernahm verschiedene Aufträge als Bauingenieur. 1960 kehrte er in die USA zurück, da er nur dort komplexe, seiner Begabung angemessene Aufgaben übernehmen konnte.

Khan nahm seine Tätigkeit bei SOM in Chicago wieder auf und avancierte dort in verschiedenen Positionen und Verantwortungsbereichen zu einem der wichtigsten Ingenieure des 20. Jahrhunderts. Bereits 1961 wurde er »Participating Partner«, 1966 »Associate Partner« und 1970 – als erster Bauingenieur bei SOM überhaupt! – »General Partner«. Sein Weg an die Spitze eines der bedeutendsten Büros der USA dauerte somit nur zehn Jahre. In dieser Zeit plante Khan zusammen mit den Architekten Myron Goldsmith und Bruce Graham eine Reihe von Gebäuden, die revolutionäre Neuerungen im Hochhausbau darstellten und die die sogenannte Second Chicago School begründeten.

Das Zusammentreffen von Khan, Goldsmith und Graham zu einer Zeit allgemeinen wirtschaftlichen Wachstums und einer gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung, wie sie in den USA der sechziger Jahre herrschte, muss als einmaliger Glücksfall gewertet werden. Myron Goldsmith hatte bereits 1953 in seiner Master Thesis am Illinois Institute of Technology in Chicago bei Mies van der Rohe grundlegende Konzepte für eine Revolutionierung des Hochhausbaus skizziert. In der Zusammenarbeit mit Khan fand Goldsmith einen brillanten Partner für die Weiterentwicklung und Umsetzung seiner frühen Ideen. Khan selbst entwickelte darüber hinaus seinerseits die Outriggersysteme, die »framed tubes« und – besonders wichtig – die »bundled tubes«. Er kombinierte diese Tragwerkskonzepte mit anderen Werkstoffen als dem bis dato in den USA im Hochhausbau ausschließlich verwendeten Profilstahl. Dadurch beflügelte Khan nicht nur die Weiterentwicklung der Leichtbeton- sowie der Verbund- und der Betonfertigteilbauweisen, sondern er legte – zusammen mit Mark Fintel von der Portland Cement Association – den Grundstein für die Entwicklung hochfester, schnell härtender und in große Höhen pumpbarer Betone, die später den Hochhausbau bestimmten.
Nur durch diese Entwicklungen war es möglich, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts in der so genannten First Chicago School entwickelten Konzepte auf eine völlig neue Basis zu stellen. Mit einem Feuerwerk brillanter Ideen zur tragenden Struktur hoher Häuser, gekoppelt mit einer meister¬lichen architektonischen Umsetzung, revolutionierten Khan, Goldsmith und Graham innerhalb von zehn Jahren den Hochhausbau ein zweites Mal. Nahezu alle diese Entwicklung repräsentierenden Gebäude stehen übrigens in Chicago.

Entwicklungen

»Outrigger«
Das wichtigste von Fazlur Khan entwickelte Tragsystem für Hochhäuser ist sicher das sogenannte Outriggersystem, das eine wesentliche Effektivitätssteigerung ermöglichte. Ein Outriggersystem entsteht durch die Einführung einer steifen, typischerweise geschosshohen Konstruktion, die den Kern mit den tragenden Außenstützen verbindet. Eine horizontale Auslenkung des Kernes induziert somit automatisch eine axiale Dehnung (Zug/Druck) der Außenstützen. Der innere Hebelarm der Konstruktion wird hierdurch deutlich vergrößert. Das Einfügen eines Outriggersystems auf halber Gebäudehöhe erhöht die Steifigkeit des Tragsystems um 30 Prozent. Durch Anordnung mehrerer Outrigger in unterschiedlichen Gebäudehöhen kann man eine weitere Effektivitätssteigerung erzielen. Outriggersysteme sind bis in Höhen von rund 65 Stockwerken wirtschaftlich sinnvoll. Das 42 Stockwerke zählende, 1983 fertiggestellte First Wisconsin Center in Milwaukee von SOM war das erste Hochhaus mit einem Outriggersystem.
Mittlerweile ist die Anordnung von Outriggern ein weit verbreiteter Kunstgriff zur Erhöhung der Gebäudesteifigkeit. Typischerweise sind diese Outrigger nicht in der Außenhaut der Gebäude ablesbar, sondern werden in Installationsgeschosse oder in Wandzonen integriert.

»framed tubes«
Eine weitere wichtige, von Fazlur Khan entwickelte Neuerung war das Tragsystem der »framed tubes«, das heißt ein biegesteifes System aus fassadennahen Stützen und Riegeln. Dieses wurde beim Bau des 43 Geschosse umfassenden Chestnut-De-Witt-Apartmentgebäudes von SOM erstmals 1965 in Chicago eingesetzt.
Die Effektivität eines einfachen »framed tube« nimmt bei Betontragwerken ab einer Höhe von etwa 50 Geschossen und bei Stahltragwerken ab einer Höhe von rund 80 Geschossen infolge von Abschereffekten (»shear-lag«) deutlich ab. Die Effektivität eines »framed tube« kann jedoch erhöht werden, indem man den Aufzugskern als tragendes Element heranzieht. Insbesondere bei schlanken Bürohochhäusern sind die Grundrissabmessungen des Aufzugskernes in der Regel groß genug, um den Kern selbst als eine effiziente Röhrenstruktur nutzen zu können.

»tube in tube«
Wird die äußere Röhre über die Deckenscheiben mit der inneren Röhre – dem Kern – gekoppelt, entsteht ein Tragwerk, das als »tube in tube«-System bezeichnet wird. Durch die Kopplung von innerer und äußerer Röhre kann die Steifigkeit des Tragsystems nachhaltig erhöht werden. Diese Systeme sind bei Stahlkonstruktionen bis zu einer Höhe von rund 80 Stockwerken und bei Betonkonstruktionen bis zu einer Höhe von etwa 60 Stockwerken wirtschaftlich sinnvoll.
Eines der ersten Gebäude, das auf dem »tube in tube«-System basierte, war das 1962–64 errichtete Brunswick Building in Chicago von SOM. Fazlur Khan war sowohl hier als auch beim 1971 fertiggestellten 52 Stockwerke hohen One Shell Plaza Building von SOM in Houston (Bild 2) für die Tragwerksplanung verantwortlich. Die Grundrissabmessungen des One Shell Plaza betragen 58,52 m x 40,23 m, die Höhe liegt bei 218 m. Bis heute ist es das höchste aus Leichtbeton errichtete Hochhaus der Welt.

1964 veröffentlichte Fazlur Khan gemeinsam mit John A. Sbarounis einen wegweisenden Artikel über das Zusammenwirken von Wandscheiben und Rahmen. Mit einem speziellen Algorithmus (erzwungene Konvergenz) zeigte er, dass die Steifigkeit von traditionellen Rahmenkonstruktionen – bei gleichbleibenden Kosten – durch den Einsatz von Wandscheiben oder stehenden Verbänden wesentlich verbessert werden konnte. Die Anwendung eines einfachen mathematischen Ansatzes für die Interaktionskräfte ermöglichte die grafische Aufbereitung in Abhängigkeit vom Steifigkeitsverhältnis Rahmen/Wandscheibe. Diese von Khan erarbeiteten Lösungen gehörte über viele Jahre zum Handwerkszeug eines jeden mit dem Hochhausbau befassten Ingenieurs.

»bundled tubes«
Neben dem tube-in-tube-Prinzip ist die Anordnung eines vertikalen Diaphragmas eine weitere Methode, die Effektivität des Röhrenprinzips zu steigern: Durch eine Kombination aus biegesteif verbundenen Stützen und Riegeln kann der »shear-lag«-Effekt deutlich reduziert werden. Gleichzeitig nimmt die horizontale Steifigkeit zu. Nach diesem Prinzip entworfene Tragwerke haben das Aussehen gebündelter Röhren. Sie werden deshalb »bundled tubes« genannt. Deren Entwicklung ist – neben dem Outriggersystem und dem »framed tube« – einer der wichtigsten Beiträge Khans zum Hochhausbau. Das »bundled tube«-Prinzip lässt die Zahl der in Stahlbauweise wirtschaftlich herstellbaren Geschosse auf etwa 110 steigen; im Bereich des Betonbaus wird diese auf 75 erhöht. Der 1974 von SOM fertiggestellte Sears Tower in Chicago (Bild 5) war das erste Hochhaus mit einem solchen Tragwerk. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre war es die Weiterentwicklung von Verbundkonstruktionen, die von entscheidender Bedeutung für die Weiterentwicklung des Hochhausbaus war. Der Hauptvorteil der Verbundbauweise (also einem Rahmentragwerk aus Beton und Stahlbauteilen) liegt dabei vor allem in einer gegenüber herkömmlichen Betonkonstruktionen deutlich erhöhten Baugeschwindigkeit. Wieder war es Fazlur Khan, der als wichtiger Impulsgeber für diese Neuerung auftrat. Das erste Gebäude in Verbundbauweise errichtete Gebäude war das zwanzigstöckige Control Data Building in Houston, das 1969 unter der Planung von SOM fertiggestellt wurde. Bei diesem Gebäude wurde außerdem – erstmalig im Hochhausbau und ebenfalls auf eine Initiative Khans zurückgehend – eine vorgefertigte Haut als verlorene Schalung eingesetzt.

»diagonal truss tube«
Um noch höhere Tragwerke realisieren zu können, entwickelte Fazlur Khan den »diagonal truss tube«. Der »tube« besteht hierbei ausschließlich aus Diagonalen, die die Windlasten und die anteiligen Belastungen aus Eigengewicht abtragen. Goldsmith hatte bereits 1953 die grundlegenden Prinzipien der Anordnung diagonaler Aussteifungselemente in der Außenhaut von Hochhäusern untersucht. Zusammen mit Graham war es Khan, der den Ideen von Goldsmith den Durchbruch verschaffte: Das 1970 fertiggestellte John Hancock Center, der »Big John« in Chicago mit hundert Stockwerken und einer Höhe von 344 m ist ein exzellentes Beispiel für ein solches »diagonal truss tube«. Die innenliegenden Stützen sind nur für Eigenlasten bemessen; die außenliegenden Stützen, die Diagonalen, die primären und die sekundären Zugbänder formen eine röhrenartige Struktur, die die Horizontallasten abträgt. Das John Hancock Center ist das erste »multi-use«-Hochhaus der Welt: Auf 260  000 m² Bruttogeschossfläche verteilt besitzt das Gebäude neben einer mehrgeschossigen Verkaufszone im unteren Bereich eine Parkgarage, darüber eine Büronutzung und vom 45. bis zum 95. Stockwerk insgesamt 711 Apartments. Eine Umsteigezone mit Schwimmbad, Fitnessbereich, Lebensmittelgeschäft und vielem mehr im 44. Stock dient den Bewohnern als zusätzliche Annehmlichkeit – genauso wie ein öffentliches Restaurant und ein Bar in der Spitze des Gebäudes, in der außerdem noch eine Fernsehanstalt und ein Aussichtsgeschoss untergebracht sind.

Wegbereiter

Das letzte von Fazlur Khan bearbeitete Hochhaus ist das Onterie Center in Chicago, ein 174 m hohes Gebäude mit 58 Geschossen, das als »diagonal truss tube« in Stahlbeton ausgeführt wurde. Fazlur Khan hat die Fertigstellung des Onterie Center allerdings nicht mehr erlebt: Am 27. März 1982 starb er im Alter von 52 Jahren unerwartet an den Folgen eines Herzinfarkts und hinterließ seine Frau Liselotte, seine Tochter Yasmin Sabina und seinen Stiefsohn Martin Reifschneider. Khan befand sich zu jener Zeit in Jeddah, Saudi Arabien, wo er für SOM die Arbeiten am Haj Terminal betreute, der bis heute mit 40.5 ha Gesamtfläche größten Dachkonstruktion der Welt aus PTFE-beschichteten Glasfasergeweben. Nach den großen und wegweisenden Arbeiten im Hochhausbau hatte sich Khan den weitgespannten Dachkonstruktionen zugewandt. Mit der gleichen Energie, dem gleichen Enthusiasmus, der gleichen Professionalität und Kreativität wie bei den Hochhäusern versuchte er auch hier, Neuland zu beschreiten, die Grenzen des Möglichen auszuloten und sie hinauszuschieben – allerdings nie um des reinen Selbstzwecks willen, sondern stets auf der Suche nach den angemessenen architektonischen Lösungen.

Während seiner Zeit bei SOM zeichnete Fazlur Khan für mehr als vierzig Projekte verantwortlich. Viele dieser Projekte gelten als Meilensteine des Hochhausbaus, ja der Baukunst überhaupt. So ist es nicht verwunderlich, dass Fazlur Khan mit fachlichen und wissenschaftlichen Ehrungen geradezu überhäuft wurde: vier Ehrendoktorwürden, darunter der Northwestern University (1973) und der Lehigh University (1980). Der Thomas A. Middlebrooks Award der American Society of Civil Engineers (1973), die Aufnahme in die National Academy of Engineering (1973), die Oscar Faber Medaille (1973), die J. Lloyd Kimbrough Medaille des American Institute of Steel Construction (1973), der Ernest Howard Award (1977), der Aga Khan Award (1983) und der John Palmer Award (1987) seien hier stellvertretend für die zahlreichen Ehrungen genannt, die Fazlur Khan im Lauf seines kurzen Lebens erhielt.
Fazlur Khan war nicht nur Ingenieur, sondern in seinem Handeln auch stets geprägt von dem Bemühen, Architektur und Ingenieurwesen wieder zusammenzuführen. Darüber hinaus war er ein bewusst politisch handelnder Bürger: Bereits 1971 führte er die Bangladesh Liberation Bewegung in den USA an. Er unterstützte Kongressabgeordnete und Senatoren in Washington in ihrem Engagement für die Unabhängigkeit von Bangladesh, seiner Heimat. 1980 wurde er Gründungspräsident der »Bangladesh Association of Chicagoland«. Er war sowohl fachlich als auch menschlich ein Vorbild, an das sich viele Menschen nach wie vor gerne erinnern. Auch wenn Fazlur Khan viel zu früh verstarb – der Nachruf, der in Engineering News Record erschien, formulierte treffend: »The consoling facts are that his structures will stand for years, and his ideas will never die«.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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