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Ein Pragmatiker mit Visionen
Neue Zürcher Zeitung

Der niederländische Architekt Kees Christiaanse

Durch ihre einfachen geometrischen Volumen wirken die Arbeiten des Holländers Kees Christiaanse zunächst eher unauffällig. Die städtebauliche und gestalterische Qualität der oftmals terrassenförmig aufsteigenden oder mäandernd ineinandergreifenden Baukörper - überwiegend Wohnbauten - erschliesst sich meist erst auf den zweiten Blick.

7. April 2000 - Robert Uhde
Direkt am Wasser erhob sich schon eines der ersten Projekte von Kees Christiaanse: Als Teil eines grösseren städtebaulichen Entwurfs zur Umgestaltung des nördlichen Rotterdamer Maasufers (1988-91) errichtete der 1953 in Amsterdam geborene Architekt eine schwarze Terrazzo-Arkade mit einer zum Wasser hin gerichteten Tribüne und entwickelte damit eine gelungene Überbrückung des Höhenunterschieds zwischen dem Boompjes Boulevard und dem tiefer gelegenen Quai. Christiaanse schuf mit seiner eleganten Inszenierung nicht nur einen visuellen Rahmen für den angrenzenden Fluss, sondern auch eine würdige Bühne für den verspielten Boompjes-Pavillon, den die Delfter Mecanoo-Architekten als Bestandteil des Entwurfs ans Maasufer stellten.


Rationale Entwurfsprozesse

Vom Boompjes Boulevard aus schliesst sich nach Norden die sogenannte Wijnhaven-Insel an. Das Herz der «Rotterdamer Wasserstadt» wurde nach dem Krieg mit geschlossenen Büroblöcken mit einer Traufhöhe von 20 Metern bebaut, doch heute steht ein Grossteil der Gebäude leer. Um aus dem niedergehenden Dienstleistungsgebiet ein lebendiges Quartier mit Funktionsmischung zu entwickeln - ohne dabei die wirtschaftliche Entwicklung des Stadtteils zu blockieren -, schlug der 1993 erstellte Bebauungsvorschlag von Christiaanse Spielregeln vor, die gleichsam selbstregulierend Höhe und Dichte im Quartier steuern sollen. Die wichtigste Regel ist dabei die Schlankheitsregel, die (ähnlich wie in Greenwich oder Soho) die Höhe der einzelnen Baukörper an ihre Schlankheit koppelt. Mit einem Minimum an derartigen städtebaulichen Regeln gelang es Christiaanse, ein System zu erzeugen, das der Architektur grösste Freiheiten gewährt und gleichzeitig Besonnung, Aussicht und Orientierung im Quartier garantiert.

«Entwerfen ist kein romantisches Abenteuer, sondern ein logischer und rationaler Prozess, der hauptsächlich aus Ja/Nein-Entscheidungen besteht», behauptete Christiaanse 1990 in einem ausgerechnet als «Manifesto» überschriebenen Essay. Eine deutliche Absage an die Vorstellung eines visionären Masterplans, mit der Christiaanse zwar keine Rückkehr in die städtebaulichen Irrwege der sechziger Jahre verfolgt, aber immerhin feststellt, dass reine Bildentwürfe keine adäquate Antwort auf die komplexen ökonomischen und politischen Bedingungen der Gegenwart seien. «Stadtplanung organisiert die öffentlichen Belange und muss zur Architektur ein bestimmtes Mass an Neutralität wahren, damit die Architektur 1000 Blumen blühen lassen kann», meint Christiaanse statt dessen und lässt dem Architekten und Städtebauer dabei die Rolle eines jonglierenden Navigators innerhalb einer komplexen Dynamik zukommen - ein Pragmatismus, den Christiaanse bereits während seiner neunjährigen Tätigkeit als Partner in Rem Koolhaas' Office for Metropolitan Architecture (OMA) in Rotterdam (1980-89) entwickelt hat. So ist es nicht zuletzt Christiaanse zu verdanken, dass auch in der Anfangsphase von OMA nicht nur theoretisiert, sondern hin und wieder auch gebaut wurde.

Unmittelbar im Anschluss an seine Zeit bei OMA eröffnete Christiaanse seine eigenen Büros in Rotterdam (seit 1989) und in Köln (seit 1990). Neben der Entwicklung von städtebaulichen Konzepten gilt sein Engagement seitdem vor allem dem grossflächigen Wohnungsbau. Von Beginn an gelang es Christiaanse dabei, das Ideal von einer lebenswerten Umwelt in abwechslungsreicher, lebendiger Stadtlandschaft mit sozialem Engagement zu verbinden - kaum verwunderlich also, dass er 1993 zum Leiter der Architekturabteilung des niederländischen Rijksgebouwendienst berufen wurde. Beim Entwurf für das Delfter Studentenheim «Westlandhof» (1991-93) etwa, das zu grossen Teilen von ausländischen Studierenden bewohnt wird, ermöglichte Christiaanse, dass diese für unterschiedlich lange Zeit auch Familienangehörige mit nach Delft bringen können: Die einzelnen Wohneinheiten lassen sich problemlos zu Dreipersonenhaushalten umrüsten. Urbanistisch folgt der «Westlandhof» dem Verlauf einer stark befahrenen Strasse vor dem Gebäude; der bananenförmig geschwungene, von vier auf neun Etagen anwachsende Bau wurde deshalb mit zahlreichen Lärmschutzvorkehrungen ausgerüstet und fungiert gleichzeitig als breiter Lärmschutzwall für die dahinterliegende Wohnbebauung.


Materialkontraste

Ähnlich war auch die Ausgangssituation für den ebenfalls in Delft angesiedelten Hooikade- Wohnkomplex (1994-97), wo vier abstrakte, fast minimalistische Blöcke einen breiten Lärmschutzwall zwischen der Bahnlinie und einem nach hinten sich anschliessenden Wohngebiet bilden. Um einen einheitlichen Gesamteindruck und einen fliessenden Übergang zwischen den einzelnen Volumen zu erreichen, legte Christiaanse an den Stirnseiten der Gebäude eine Hülle aus Beton um die sonst überwiegend mit Holz verschalten Fassaden. Zur Strassenseite hin fungiert statt dessen eine zwei Meter breite Wintergartenzone als Lärmpuffer. Auffällig dabei, dass die so oft konstatierte Nüchternheit der Architektur von Christiaanse keineswegs in eine schlichte Materialästhetik mündet: Das warme Zedernholz bildet einen spannenden Kontrast zu den eher kühlen Materialien Beton, Glas und Stahl.

Etwa zur gleichen Zeit (1994-98) stellte Christiaanse zwei ebenso elegante wie freundliche Wohnkomplexe in einer Amersfoorter Nachkriegssiedlung fertig. Ihm gelang dabei ein neuer Typus von Galeriewohnung, bei dem der von der Holzfassade abgelöste Laubengang zu einer drei Meter breiten Wohnstrasse erweitert wurde. Auf diese Weise wird nicht nur die Privatsphäre der Bewohner gewahrt, sondern auch das bei Galeriewohnungen sonst übliche Problem der Verschattung stark gemindert. Die Zugänge zu den einzelnen Wohnungen in der Spreeuwen- und Koekoek-Strasse führen über jeweils 3 mal 3 Meter grosse Brücken - eine Art Zwischenzone zwischen der öffentlichen Wohnstrasse und den eigentlichen Wohnungen, die von den Bewohnern als private Terrasse genutzt werden kann, die aber auch Raum für Nachbarschaftskontakte schafft.


Wohnbauprojekte

Einen ganz anderen Massstab galt es in Berlin zu bewältigen. Die künftige «Wasserstadt am Spandauer See» soll bis zum Jahr 2010 rund 14 000 neue Wohneinheiten für rund 35 000 Bewohner bereitstellen - eine «städtische Landschaft» mit hoher Dichte in topographisch einmaliger Lage. Teil des gigantischen Projektes ist ein 1994 von Christiaanse eingereichter und inzwischen fast vollständig realisierter städtebaulicher Entwurf für rund 1800 Wohnungen und 45 000 m² Büro-, Einzelhandels- und Dienstleistungsflächen auf dem sogenannten Siemens- Quartier, einer Halbinsel im westlichen Uferbereich der Oberhavel, die sich bereits seit Jahrzehnten im Besitz des Elektronikherstellers befindet und wo aus den Anfangsjahren noch die 1929 von Hans Poelzig erbaute Fertigungshalle erhalten ist. Christiaanses Entwurf, an dessen architektonischer Umsetzung neben ihm auch Josef Paul Kleihues beteiligt gewesen ist, überzeugt vor allem durch seine Betonung des Inselcharakters und seine sensible Gestaltung der Uferzonen als wichtigster öffentlicher Raum: Die Strassenzüge öffnen sich zum Wasser hin konisch und formen sich in entgegengesetzter Richtung unter dem Einfluss des kurvigen Ufers zu unregelmässigen Vierecken. Dadurch ergeben sich interessante Sichtbeziehungen vom Wasser zur terrassenförmig angelegten Dachlandschaft und umgekehrt.

Durch ihre Lage am Wasser zeichnen sich auch zwei gegenwärtige Projekte von Christiaanse aus: Im östlichen Hafengebiet von Amsterdam, wo der Architekt bereits 200 Wohnungen auf dem nach einem städtebaulichen Konzept von Sjoerd Soeters bebauten «Java-Eiland» (1992-98) und 44 Wohnungen auf der nach Plänen von West 8 bebauten Mole «Borneo-Sporenburg» (1994-98) realisieren konnte, wurde vor kurzem mit der Umgestaltung der alten Speichergebäude entlang dem langgestreckten IJ-Ufer begonnen. Nach den Entwürfen von Christiaanse wird der heute ungenutzte Gebäudezug zu einem zusammenhängenden Ensemble mit Büroflächen, Wohn- und Arbeitslofts, Luxusappartements und Sozialwohnungen umgestaltet, wobei neben neuen Volumen auch die alten Speichergebäude «Afrika», «Asien» und «Europa» integriert werden sollen. «Es sind die Grenzen zwischen den alten und neuen Stadtfragmenten, die die Stadt bewusst machen», erklärt Christiaanse. «Wir versuchen sie zu stärken und ihnen eine Identität zu geben. Die Stadtteile bekommen so einen neuen Eingang zur Geschichte.»

Unmittelbar vor der Ausführung stehen auch drei Gebäude am Holzhafen in Hamburg-Altona, die auf Grund ihrer zentralen, elbnahen Position ein wichtiges Element bei der weiteren Entwicklung der Hamburger Wasserfront bilden sollen. In städtebaulicher Hinsicht wird das Elbufer hier vor allem durch die Abwechslung von massiven Speichergebäuden und offenen Zwischengebieten bestimmt - durch Christiaanses Bebauung wird das Gebiet um einen weiteren dieser typischen «trichterförmigen Räume» erweitert, die die Elbe mit weiter zurückliegenden Gebieten wie Fischmarkt oder Fischereihafen verbinden: Zwei Backsteinbauten sollen einen wuchtigen Rahmen für das alte Hafenbecken und einen Vorplatz formen; etwas zurückversetzt plant Christiaanse ausserdem einen kristallinen Wohnturm. Um die ufernahe Lage noch weiter zu betonen, sollen mäandrierende Grundrisse und Fassaden sowie das Aushöhlen der Bauvolumen durch grosszügige Innenhöfe vielfältige Ausblicke aufs Wasser gewähren.


Schulhaus mit gummiartiger Hülle

Eine Bauaufgabe ganz anderer Art hat Christiaanse unlängst auf dem Rotterdamer Maashalbinsel Kop van Zuid fertiggestellt: Von der anliegenden Strasse aus zeigt sich die inmitten des Wohngebietes Stadstuinen angesiedelte Pijler Grundschule (1996-98) als minimalistischer, nahezu geschlossener Baukörper. Die eher aneinandergeleimten als mit Mörtel vermauerten und dabei mit ihren Grundflächen nach aussen gekehrten Ziegel erzeugen den Eindruck einer nahtlosen und straffen, fast gummiartigen Aussenhaut mit gleichzeitig abstrakter und taktiler Textur. Zum Innenhof hin hat Christiaanse dagegen mit grossen Glasflächen für helle Klassenräume gesorgt. Besonders begeistert aber sind die Schüler über eine ganz in Holz ausgeführte Veranda - ein «Open-air Klassenraum», von dem aus sie über eine externe, ebenfalls in Holz ausgeführte Aussentreppe direkt hinunter in den Schulhof gelangen können!

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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