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Die Stadt in den Wolken
Der Standard

Nächste Woche findet in Wien die MIT Europe Conference 2011 statt. Einer der Vortragenden ist der italienische Architekt Carlo Ratti, Direktor des Senseable City Lab am MIT. Ein Ausflug in die digitale Stadt von morgen.

19. März 2011 - Wojciech Czaja
Standard: Sind Sie Stadtmensch oder Landei?

Ratti: Eine schwierige Frage um sieben Uhr in der Früh. Keine Ahnung, ich glaube, ich bin beides. Ich gehe gerne in den Weinbergen von Asti spazieren. Das ist in Piemont, nicht weit von Turin entfernt. Oder ich fahre zum Skifahren nach Salt Lake City oder nach Vermont.

Standard: Und was ist das Interessante an der Stadt?

Ratti: Die Stadt ist ein Platz für Tausende von Möglichkeiten. Mir gefallen die zufälligen Begegnungen auf der Straße, im Café, im Supermarkt. Unglaublich, wie viele schöne Bilder man auf diese Weise einfangen kann! Der britische Autor Horace Walpole hat im 18. Jahrhundert einen sehr schönen Begriff dafür geprägt: Serendipität. Das bezeichnet eine zufällige Beobachtung von etwas nicht Gesuchtem, das sich dann aber als überraschende Entdeckung erweist. Ich mag diese Abenteuer.

Standard: 2004 haben Sie am MIT das Senseable City Lab gegründet. Was kann man sich darunter vorstellen?

Ratti: Das Senseable City Lab ist eine Gruppe von Forschern aus vielen Disziplinen, die darüber nachdenken, wie die Stadt von morgen aussehen kann. 30 Leute sitzen in Boston, zehn weitere in Singapur: Mathematiker, Physiker, Stadtplaner, Architekten, Designer, Soziologen und so weiter.

Standard: Und wie sieht sie aus, die Stadt von morgen?

Ratti: Es gibt drei Komponenten, die eine Stadt ausmachen: die menschliche, die räumliche und die technologische. Wichtig ist, dass sich alle drei Komponenten gleichmäßig und parallel weiterentwickeln. Nur dann können wir von einer funktionierenden Zukunftsstadt sprechen.

Standard: Das heißt, wir sprechen hier ausschließlich von hoch entwickelten Städten?

Ratti: Keineswegs! Es mag eigenartig klingen, aber es sind gerade die Städte in den Entwicklungsländern, die riesige technologische Sprünge durchmachen. Das Phänomen nennt sich Leap-Frogging (Bockspringen) und zeigt sich am besten in der Telekommunikation, in der eine Entwicklungsstufe einfach übersprungen wird. Zuerst hatten die Leute gar kein Telefon, heute haben sie ein Handy. Einen Festnetzanschluss kennen viele nicht einmal.

Standard: Heißt das, dass Städte in Entwicklungsländern für Forscher leichter zu handhaben sind?

Ratti: Auf jeden Fall! Es gibt weniger Variablen, die Systeme sind nicht so komplex, man kann besser planen.

Standard: Wie planen Sie?

Ratti: Le Corbusier hat von einer industriellen und mechanischen Revolution der Stadt gesprochen. Heute sind wir im Zeitalter der digitalen, technologischen und biotechnologischen Revolution. Es gibt Internet, es gibt Facebook, es gibt Twitter. Und all diese Kommunikationsformen beeinflussen die Stadtplanung und Gesellschaft mehr, als die meisten bereit sind zuzugeben. Wir müssen neue Wege des Zusammenlebens finden.

Standard: Ein Beispiel bitte!

Ratti: Ich vergleiche die Stadt von morgen gerne mit der Formel 1. Vor 20 Jahren haben Sie ein gutes Auto, einen guten Motor und einen guten Fahrer gebraucht, um zu gewinnen. Heute brauchen Sie auch ein gutes Überwachungssystem. Das gesamte Auto ist mit tausenden Sensoren ausgestattet, die in einer Zentrale kontrolliert werden und auf die Software und Mensch innerhalb weniger Sekundenbruchteile reagieren können. So ähnlich kann man sich das auch in der Zukunftsstadt vorstellen. Die moderne Großstadt wird mit unendlich vielen Sensoren ausgestattet sein. Sie wird funktionieren wie ein Formel-1-Wagen.

Standard: Digitale Beobachtung. Wollen wir das wirklich?

Ratti: Die Digitalisierung hat bestimmte Konsequenzen, und an die hat vor zwei Jahrzehnten noch niemand ernsthaft gedacht. Manche Leute rennen vor Streetview-Autos weg, weil sie mit ihrer Geliebten nicht gesehen werden wollen. Aber wir dürfen nicht vergessen: In der Senseable City geht es in erster Linie nicht um die Überwachung des Individuums, sondern um das Beobachten des Kollektivs und der dynamischen Ströme, um letztendlich eine intelligentere und besser funktionierende Stadt zu bauen.

Standard: Ein Aspekt ist die Mobilität.

Ratti: Das ist ein wichtiger Punkt! Im 20. Jahrhundert glaubte man an die Formbarkeit des Menschen durch das Auto. Heute sind wir klüger. Und trotzdem haben wir es noch immer nicht geschafft, zur Gänze auf öffentlichen Verkehr umzusteigen. Und warum nicht? Obwohl wir wissen, dass Massentransportmittel intelligenter, sauberer und vielfach auch schneller sind, können wir uns nicht zu 100 Prozent auf sie verlassen. Manchmal warten wir 20 Minuten auf einen Bus. Das macht uns nicht glücklich.

Standard: Was tun?

Ratti: Wir können diesem Problem mit „real time technologies“ zuvorkommen. Dabei wissen wir zu jedem Zeitpunkt ganz genau, wo sich der Bus oder die Straßenbahn gerade befindet. Je nach Verkehrssituation kann man die Route verlegen oder mit anderen Transportmitteln befahren. So könnte sich der öffentliche Verkehr die Vorteile des Individualverkehrs zunutze machen. Eine andere Möglichkeit sind Car-Sharing-Systeme und Mobility-on-Demand. Boston war die allererste Stadt, in der dieses Modell umgesetzt wurde. Mittlerweile gibt es die sogenannten Zipcars in vielen Städten in den USA. Jetzt sind auch Peking und Schanghai interessiert.

Standard: Mit „CO2GO“ kann man sogar den eigenen CO2-Verbrauch überprüfen. Funktioniert das?

Ratti: Viele Menschen besitzen ein Smartphone. Und jedes Smartphone ist gleichzeitig ein Bewegungssensor. Bei unserem jüngsten Projekt „CO2GO“ kann man am Ende des Tages sehen, wie viele Kalorien man aufgrund der unterschiedlichen Fortbewegungsmittel verbraucht hat und wie groß dabei der CO2-Verbrauch war. Damit kann man den ökologischen Fußabdruck eines Menschen im Alltag sehr leicht veranschaulichen. Die Grundstruktur ist bereits fertig. Nächstes Jahr soll „CO2GO“ auf den Markt kommen.

Standard: Eines der größten Projekte am MIT Senseable City Lab ist „The Cloud“ in London, die für die Olympischen Spiele 2012 entwickelt wurde.

Ratti: Die Idee war, für die Olympischen Spiele ein Symbol zu kreieren, das sowohl physisch als auch digital ist. „The Cloud“ ist ein Beispiel dafür, wie sich die digitale Welt, mit der wir uns am MIT beschäftigen, auch physisch manifestieren kann.

Standard: Und zwar wie?

Ratti: Die Wolke besteht aus Membranblasen aus dünner ETFE-Folie. Über einen Turm in Form einer spiralförmigen Rampe gelangt man zu Fuß nach oben, wo man durch die unterschiedlichen Blasen wandern kann. Diese wiederum sind eine Mischung aus physischer und digitaler Welt. Man kann einerseits auf die Stadt hinunterblicken, andererseits kann man sich über Augmented Reality auch in virtuelle Welten begeben. Das ist ein schönes Wechselspiel.

Standard: Das klingt wie Utopie!

Ratti: Ja und nein. Es ist unklar, ob das Projekt bis 2012 fertig sein wird. Ich fürchte, wir werden es erst bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro realisieren können. Sie haben schon recht: Natürlich wird die realisierte Wolke nicht 1:1 dem geplanten Entwurf entsprechen. Wir werden höchstwahrscheinlich eine reduzierte Variante um 10 Millionen US-Dollar errichten.

Standard: Das heißt, die Realität hinkt den Forscherplänen hinterher?

Ratti: Eine der wichtigsten Quellen des menschlichen Fortschritts ist die Forschung, ist das intellektuelle Denken über den Tellerrand hinaus. Wenn man zu dieser Entwicklung etwas beitragen will, dann muss man immer mit einem Traum anfangen.
Carlo Ratti, geboren 1971 in Turin, studierte Architektur und Ingenieurwesen in Turin, Paris, Cambridge (Großbritannien) sowie am Massachusetts Institute of Technologies (MIT) in Cambridge (USA). 2004 gründete er das MIT Senseable City Lab, dem er als Direktor vorsteht.

Wirtschaftskammer Österreich, Wiedner Hauptstraße 63, 1045 Wien. Anmeldung unter www.wko.at

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