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Hier lernt man den Lufthaken
Der Standard

Vor wenigen Wochen wurde in Ithaca, Upstate New York, die Milstein Hall von Rem Koolhaas feierlich eröffnet. So sieht Lernen aus.

5. Mai 2012 - Wojciech Czaja
Um sieben Uhr morgens sitzen bereits die ersten Studenten in der Halle, kleben Holz und Karton, bauen Kulissen aus Lego, spannen gelbe Gummiseile quer durch den Raum. Ein paar Meter weiter hört man Stichsäge und Bohrmaschine. Aus dem hintersten Eck dröhnt das Surren eines hörbar überforderten Elektromotors. Ein quietschendes Aufjaulen. Ein dumpfes Fauchen. Und Stille.

„Ich fühle mich hier wie in einem riesigen Traumlabor“, sagt José Tihgerina. Der 22-jährige Bachelor-Student aus Mexiko-Stadt, der Mann mit den gelben Seilen, absolviert in Ithaca bereits sein viertes Jahr. „Noch fühlt sich das Gebäude neu an, und es hat einige Zeit gedauert, bis die Studenten sich wirklich getraut haben, es wie ein Werkzeug zu benützen. Doch nun ist die Stimmung ziemlich perfekt. Einen besseren und lebendigeren Arbeitsplatz kann ich mir nicht vorstellen.“

Verantwortlich dafür ist der niederländische Architekt Rem Koolhaas. Nach einer ganzen Reihe namhafter Kollegen wie etwa Thom Mayne, James Stirling, Richard Meier und Ieoh Ming Pei, die auf dem Campus der Cornell University im hohen Norden des US-Bundesstaats New York bereits ihre Handschriften hinterließen, ist er der Jüngste in der Riege der Bauenden.

Gemeinsam mit seinem Büro OMA plante er diesen 2500 Quadratmeter großen Arbeitssaal für das AAP Institute (Architecture, Art and Planning), das vor wenigen Wochen feierlich eröffnet wurde, unterfütterte es im Erdgeschoß und Keller mit einem Hörsaal und einem riesigen Kuppelraum für Kritiken und Projektpräsentationen, platzierte das Raumprogramm millimetergenau zwischen die beiden denkmalgeschützten Backsteinbauten aus dem 19. Jahrhundert und hängte das gesamte Gebäude schließlich an einer erklecklichen Anzahl Siemens-Lufthaken auf.

Stützen und Säulen

Anders kann man sich das unangestrengt schwerelose Schweben, ohne sich dabei auf die alten Mauern zu stützen, kaum erklären. „Es ist schon lustig“, erinnert sich Shohei Shigematsu, der Chefarchitekt und Projektleiter in der New Yorker OMA-Dependance. „Eigentlich wollten wir Kosten sparen und haben das Gebäude zu Beginn auf Stützen und Säulen gestellt. So wie man sich das halt vorstellt. Es war der ausdrückliche Wunsch der Cornell University, auf diese Maßnahmen zu verzichten und das gesamte Bauwerk stattdessen nach allen Seiten stützenfrei auskragen zu lassen. Meistens ist es der Architekt, der vor dem Auftraggeber darum kämpft, seine Visionen umzusetzen. In diesem Fall war es umgekehrt.“ Die paar Millionen US-Dollar, um die sich das Projekt dadurch verteuerte, schienen die Universität und den ehemaligen Absolventen und Hauptsponsor des Projekts, Paul Milstein, nicht zu kratzen. Am Ende betrugen die Baukosten 37,6 Millionen Dollar (rund 28,5 Mio. Euro). Die Life-Cycle-Kosten mitsamt Nebenkosten, Honoraren und Betriebskosten belaufen sich über die ermittelte Lebenszeit des Hauses auf etwa 55,5 Millionen Dollar (rund 42 Mio. Euro). In der Miteinbeziehung dieses Kostenfaktors sind die Nordamerikaner den Europäern definitiv einen Riesenschritt voraus.

„Das war das Geld schon wert“, meint Kent Kleinman, Dekan der AAP-Fakultät. „Das ist ein intelligent und überaus konsequent geplantes pädagogisches Instrument, das viele verschiedene Formen des Lehrens und Lernens ermöglicht. 300 Studenten, die miteinander in einem Raum arbeiten, kann es etwas Schöneres geben?“ Kurze Pause. „Aber soll ich Ihnen etwas verraten? Am liebsten habe ich es, wenn ich im Hörsaal stehe und durch die große Glasfassade die Leute auf der Straße beobachten kann, wie sie unter der großen Halle auf den Bus warten und sich dabei mit großen Gesten über die Statik dieses Gebäudes unterhalten.“

Es habe sogar schon Anfragen von Orchestern gegeben, die im Hörsaal Kammermusik aufführen wollten. Erst unlängst sei eine Anfrage eines verlobten Paares am Institut eingetrudelt. Mann und Frau wollen sich unter der stützenfreien Auskragung der Milstein Hall das Jawort geben. Kleinman: „Das Gebäude ist schon weit über den Campus hinaus bekannt. Und die Reaktionen der Leute zeigen, dass das Haus mehr ist als nur ein Haus. Es ist ein Symbol für zeitgenössisches Bauen.“

So sieht das Gebäude im Detail aus: Das erste Obergeschoß besteht aus einer wuchtigen Stahlkonstruktion. Unverblümt knallt das Neue auf das Alte. Vor der historischen Backsteinfassade tanzen weiß lackierte Fachwerkträger auf und ab. Ihnen ist zu verdanken, dass die große Halle sowohl an der Süd- als auch an der Nordseite rund 16 Meter weit ins Nichts hinauszischt.

An der Fassade ist das Gebäude nicht etwa mit lackierten Paneelen verkleidet, wie man vermuten möchte, sondern mit Marmor aus der Türkei. Unscheinbar ist der Name des Sponsors in die Oberfläche gefräst. Das ist Understatement pur. „Der Stein stammt zwar aus der Natur, aber aufgrund der Barcode-Optik könnte man es leicht mit einem künstlich hergestellten Baustoff verwechseln“, erklärt der Projektleiter. „Ich finde diese Irritation sehr lustig.“

Skaten und studieren

Unter der Halle bäumt sich die Erde zu einer organisch geformten Stahlbeton-Landschaft auf. Der höhlenartige Massivbau dient einerseits als Sockel, andererseits als Aussteifung. Die Skater haben den Ort längst in Besitz genommen. Nur an der Akustik hapert's noch. Das kathedralische Echo im Innenraum eignet sich mehr für Konzerte denn als Präsentationsraum für Studenten. Nach Auskunft von OMA arbeite man bereits daran, den Mangel zu beheben.

Zu entdecken gibt es genug - etwa die historisierenden Deckenverkleidungen aus Lochblech, die bedruckten Vorhänge mit Zitaten aus der Baukunst, die Hörsaal-Bestuhlung mit seitlich ausklappbaren Tischchen zum Mitschreiben. Sogar an die Linkshänder wurde gedacht. All diese versteckten Hinweise, all diese architektonischen Details mit Schmunzelpotenzial machen die Milstein Hall zu einer würdevollen Visitenkarte für die Studienzweige Kunst und Architektur. Nicht zuletzt ist sie ein Vozeigebeispiel für einen modernen, unverkrampften Umgang mit denkmalgeschützter Bausubstanz.

„Manche Leute finden das Haus echt eigenartig“, sagt Youngjin Yi. „Es gefällt nicht allen, aber alle reden darüber. An der Cornell University hat das Projekt jedenfalls einen Hype ausgelöst.“ Konzentriert schaut die 24-jährige Studentin in ihren Monitor, zeichnet ein paar Striche, blickt wieder auf. „Bis vor kurzem hatten wir unser Studio in ein paar kleinen Zimmern im Altbau. Jetzt sitzen wir hier zu dreihundert in diesem offenen und kommunikativen Raum und arbeiten uns gemeinsam durchs Studium. So stelle ich mir Lernen vor. Hast du schon den Typen mit den gelben Seilen interviewt? Der macht ein echt irres Projekt. Mit dem musst du reden!“

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