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Grün Ding braucht Weile
Der Standard

Am Stadtrand von Seoul entsteht eine ökologische Musterstadt, die dem Meer abgerungen wurde: Songdo New City. Sieht so die Zukunft urbanen Lebens aus?

16. Juni 2012 - Wojciech Czaja
Die Sonne scheint, fröhliche Menschen sitzen unter einer ziemlich großen Pergola, die mit Fotovoltaikpaneelen verkleidet ist, essen und trinken, im Hintergrund Radfahrer und ballspielende Kinder. Plötzlich biegt lautlos ein koreanisches Elektroauto um die Ecke. Stimme aus dem Off: „Songdo. Where future happens.“

Für die Songdo New City - so der offizielle Name - wird eifrig die Werbetrommel gerührt. Während die modernen KTX-Hochgeschwindigkeitszüge mit 300 km/h durch die Landschaft brettern, wandert der Fernsehspot alle paar Minuten über den Flatscreen. Songdo, was übersetzt so viel heißt wie „Zwergkieferninsel“, ist ein 800 Hektar großes künstlich aufgeschüttetes Eiland am südwestlichen Stadtrand Seouls, rund 40 Kilometer und mehr als 30 U-Bahn-Stationen von der Innenstadt entfernt. Und es ist der derzeit größte Stolz der südkoreanischen Wissenschafter und Planer.

Das Kooperationsprojekt des koreanischen Stahlunternehmens Posco E&C, des viertgrößten Stahlerzeugers weltweit, und des amerikanischen Real Estate Developers Gale International mit Sitz in New York, ist die erste bereits realisierte Smart City der Welt. Rund 20 Milliarden Euro wird man am Ende in die Zukunftsstadt insgesamt investiert haben. Dass das größte Konkurrenzprojekt, Norman Fosters Masdar City in Abu Dhabi, seit der Finanzkrise mehr oder weniger auf Eis liegt, wirkt sich auf die Stimmungslage der Südkoreaner nicht gerade negativ aus.

„Songdo ist das Exempel einer modernen, futuristischen Stadt“, sagt Angela Hong von der Incheon Development & Tourism Corporation (IDTC), die für die Vermarktung der Retortenstadt zuständig ist. „In manchen Punkten haben wir uns an der klassischen europäischen Stadtplanung orientiert. Was für die einen altmodisch ist, kann für die anderen eine Revolution sein.“

Das Straßennetz ist dicht, die Fahrbahnen sind verhältnismäßig schmal, die Gehsteige und Radwege dafür umso breiter, und überall Bänke, Bäume, blühende Büsche. Aufgelockert wird das Ganze von ein paar Plätzen und einem 40 Hektar großen „Central Park“ mit künstlichem See, Wassertaxis und Tretbootverleih. Eine Idylle wie aus dem Almanach für Stadtplanung. Fragt sich nur: Wo sind die Menschen? Und was ist smart an alledem?

„Die Metropolregion Seoul stößt mit ihren 25 Millionen Einwohnern allmählich an ihre topografischen und geografischen Grenzen, daher war klar, dass man eines Tages neues Land gewinnen muss“, erklärt Tom Murcott, Vizepräsident von Gale International, auf Anfrage des STANDARD. „Bei so ei-nem großen Projekt ergibt sich die einmalige Chance, neue technische Entwicklungen und Erkenntnisse aus der Wissenschaft und Stadtplanung einfließen zu lassen.“

Das flache Neuland, das mit einigen namhaften Software- und Hardware-Unternehmen wie etwa Arup, Cisco, LG, 3M und United Technologies entwickelt wurde, verfügt in allen Wohnungen und öffentlichen Gebäuden über „Telepresence“, ein neuartiges Kommunikationstool mit hoher akustischer und optischer Qualität, über Real-Time-Fahrpläne für U-Bahn und Busse, die online ersichtlich sind, sowie über Regen- und Salzwassernutzung.

Die wohl ungewöhnlichste infrastrukturelle Errungenschaft betrifft jedoch die Müllentsorgung: Stinkende Müllwagen wird man hier niemals zu Gesicht bekommen, denn die gesamte Müllentsorgung funktioniert unterirdisch und vollautomatisch über ein eigens entwickeltes pneumatisches Unterdrucksystem.

Müllentsorgung per Rohrpost

„Im Grunde genommen ist das nichts anderes als ein klassisches Rohrpostsystem, wie man es im vorigen Jahrhundert immer wieder in Bürogebäuden verwendet hat“, sagt James von Klemperer, Chefarchitekt bei Kohn Pedersen Fox Associates (KPF) in New York, das für den Masterplan der Songdo New City verantwortlich ist, „nur eben ein bisschen größer und ein bisschen weiter.“ Auf Knopfdruck wird der Mist durch die halbe Stadt gejagt, wo er am Ende in einem Kraftwerk zur Biogasgewinnung genutzt wird.

Ein Musterbeispiel für ökologische Stadtplanung - bloß warum ist von der im Film versprochenen Solarenergienutzung nichts zu sehen? Und wo sind die vielen E-Bikes oder E-Autos, mit denen im ganzen Land geworben wird und auf die man so sehnsüchtig wartet? „Diese Technologien sind leider noch nicht zur Genüge ausgereift“, so von Klemperer. „Die Ausbeute von Fotovoltaik ist noch viel zu gering, eine solche Anlage würde sich in Südkorea erst innerhalb von 20 Jahren rentieren. Und solange die koreanischen Autohersteller kein serienreifes Elektroauto produzieren, sind uns die Hände gebunden.“ Mit dem ersten Stromwagen am Markt werde sich die Situation ändern.

Bis dahin begnügt man sich mit einem ausgebauten Fuß- und Radwegnetz sowie strengen ökologischen Richtlinien für die Architektur. Sämtliche Bürotürme verfügen über begrünte Atrien, die die Luftfeuchtigkeit regeln. Das zentrale Konferenz- und Ausstellungszentrum „Convensia“ und das benachbarte Luxushotel Sheraton sind bereits nach LEED-Kriterien zertifiziert. Eines Tages, so jedenfalls lautet der Traum von Gale International, wolle man eine LEED-Zertifizierung für die ganze Stadt erreichen.

Auch um kulturelle Nachhaltigkeit ist man in Songdo bemüht. In der Mitte der Stadt steht das Hello Kitty Planet, ein Ausstellungshaus für die weißen Cartoon-Katzen. Daniel Libeskind hat ein Luxus-Shoppingcenter geplant, das demnächst in Bau gehen soll. Und der Schweizer Pritzker-Preis-Träger Peter Zumthor hat nach Auskunft von KPF ein Museum für zeitgenössische Kunst entworfen. Noch ist das Projekt nicht ausfinanziert.

Wunderbare Zukunft. Doch die Gegenwart sieht anders aus. Von den geplanten 70.000 Einwohnern, die hier eines Tages leben sollen, sind erst 22.000 vor Ort. Bis Jahresende wolle man 5000 weitere anziehen. „Wenn man bedenkt, dass hier vor zehn Jahren noch Meer war und dass die Stadt erst seit kurzem existiert, dann haben wir schon viel erreicht“, sagt Gale-Chef Tom Murcott. „Und ich bin mir sicher, dass Songdo eines Tages die smarteste Stadt der Welt sein wird.“ Denn eines dürfe man bei aller „Smartness“ nicht außer Acht lassen: „Eine grüne Stadt zu bauen bedarf nicht nur Architektur, Infrastruktur und Technologie, sondern vor allem Zeit.“

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