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Ba­de­ho­se und Bau­stel­le
Der Standard

In Lon­don fällt neu­er­dings nicht nur das Wet­ter ins Was­ser. Im King’s Cross Pond kann man in­mit­ten von Bag­gern und Krä­nen ein Bad in ei­nem Kunst­werk von Mar­je­ti­ca Potrč neh­men. Ein frös­teln­der Lo­ka­lau­gen­schein.

6. Juni 2015 - Wojciech Czaja
Kalt. Ver­dammt kalt. 14,2 Grad Cel­si­us kalt, um ge­nau zu sein. Und wäh­rend der ge­sam­te Kör­per lang­sam von ei­ner pri­ckeln­den Taub­heit über­zo­gen wird, dre­hen sich im Him­mel ein Dut­zend Bau­krä­ne im Kreis, mit an den Ha­ken baum­eln­den Stahl­trä­gern, Be­ton­fer­tig­tei­len und glä­sern glit­zern­den Fass­ade­ne­le­men­ten. Grü­ne Gras­hal­me, die wa­cker dem stür­mi­schen Lon­do­ner Sau­wet­ter trot­zen, brin­gen et­was Grün in die­ses von Lärm, Staub und Ze­ment durch­wühl­te Am­bien­te. Ir­gend­wo da­zwi­schen, quak, hört man im Schilf die Hei­mat der jüngs­ten Be­woh­ner.

King’s Cross, die­ses ab­ge­schnitt­ene, von Glei­sen durch­zo­ge­ne Stück Stadt hin­ter dem gleich­na­mi­gen Bahn­hof im Nor­den der In­nens­tadt, ist ei­nes der größ­ten Stadt­ent­wi­cklungs- und Stadt­ver­dich­tungs­ge­bie­te Lon­dons. Wo einst Gas­ome­ter, Fa­bri­ken und La­ger­hal­len stan­den, ent­steht nun ein Grät­zel mit Kunst und Kul­tur, mit Uni­ver­si­tät, Woh­nen, Bü­ros und vie­len schö­nen Frei­räu­men ent­lang des Re­gent’s Ca­nal. Die Ini­tia­ti­ve da­für kommt nicht et­wa von der öf­fent­li­chen Hand, son­dern von pri­va­ten, ge­winn­orien­tier­ten In­ves­to­ren, die seit Mar­ga­ret That­cher in Lon­don das Sa­gen ha­ben. Auf ins­ge­samt 27 Hek­tar Flä­che to­ben sie sich mit ih­ren Pro­jek­ten aus.

Ein paar Tem­pi noch. End­lich spürt man wie­der sei­ne ei­ge­nen Glied­ma­ßen im Nass. Ei­ner der hier um­trie­bigs­ten Im­mo­bi­lien­ent­wi­ckler, die 1981 ge­grün­de­te Ar­gent LLP, die kur­zer­hand selbst ei­ne der erst kürz­lich von ihr re­vi­ta­li­sier­ten Fa­briks­hal­len in King’s Cross be­zog, wünsch­te sich für die Mit­te des neu­en Stadt­quar­tiers et­was Be­son­de­res und lud die slo­we­ni­sche Künst­le­rin Mar­je­ti­ca Potrč da­zu ein, ihr die­sen Wunsch zu er­fül­len. Potrč, ei­ne Meis­te­rin des Ver­stö­rens, zö­ger­te nicht lan­ge und schlug ih­ren Auf­trag­ge­bern ei­nen öko­lo­gi­schen, na­tur­be­las­se­nen Schwimm­teich vor. Mit­te Mai wur­de die feucht-fröh­li­che At­trak­ti­on „Of So­il and Wa­ter: King’s Cross Pond Club“, so der of­fi­ziel­le Ti­tel, er­öff­net.

„Ich fin­de es span­nend, die Na­tur zu in­sze­nie­ren“, sagt die 62-Jäh­ri­ge. „Vor al­lem hier, in King’s Cross mit sei­nem Ka­nal und sei­nen vie­len Bau­stel­len, spie­len Was­ser und Er­de ei­ne wich­ti­ge Rol­le. In ge­wis­ser Wei­se ist die­ses Pro­jekt in­mit­ten des Bau­stel­len­thea­ters ei­ne Art leicht er­ho­be­ne Büh­ne für die Na­tur und für die Schwim­mer. Das Haupt­au­gen­merk gilt der Ba­lan­ce und der Ko­exis­tenz die­ser bei­den Pro­ta­go­nis­ten.“

230 Qua­drat­me­ter misst das nie­ren­för­mi­ge Be­cken, ei­ne Art rot-weiß ge­streift um­ran­de­te Boh­ne in­mit­ten von Bag­gern und Krä­nen. Teich­ro­sen, Bach­min­zen, Was­ser­ster­ne, Stern­mie­ren, Laich­kraut, Was­ser­kraut, Zy­perng­ras und Tan­nen­we­deln sor­gen da­für, dass das Was­ser auf na­tür­li­chem We­ge ge­fil­tert und mit Sau­er­stoff ver­sorgt wird. Al­gen, Phy­to­plank­ton und di­ver­se an­de­re Mi­kro­or­ga­nis­men er­le­di­gen den Rest. Auf die­se Wei­se kann auf Chlor und che­mi­sche Fil­tra­ti­on des Was­sers gänz­lich ver­zich­tet wer­den.

Vor der Kunst bit­te du­schen

Klir­rend kalt. Das Blut schießt ei­nem durch die Adern. Die Re­zep­tur für das Bio-Schwimm­be­cken stammt von King­com­be Aqua­ca­re, dem bri­ti­schen Part­ner des ös­ter­rei­chi­schen Un­ter­neh­mens Bio­top. „Das Öko­sys­tem ist sehr fra­gil“, sagt John Col­ton, Ge­schäfts­füh­rer von King­com­be. „In ge­wis­ser Wei­se ver­su­chen wir, in die­sem künst­li­chen, mit Re­cyc­ling-Plas­tik­pla­nen aus­ge­klei­de­ten Teich die Spiel­re­geln von Mut­ter Na­tur nach­zu­emp­fin­den. Wenn man auch nur ei­nen Bruch­teil da­ran ve­rän- dert, könn­te das ge­sam­te Sys­tem kip­pen.“

Da­mit das nicht pas­siert, ist die An­zahl der Be­su­cher li­mit­iert. „Ma­xi­mal 40 Men­schen im Was­ser, mehr geht nicht“, sagt Ga­vin Roo­ney (33) ro­tes Bay­watch-T-Shirt am Leib, im tief­sten Cock­ney. Er ist Li­fe-Gu­ard und küm­mert sich da­rum, dass die Dos and Don’ts ein­ge­hal­ten wer­den. „In ei­nem Mu­se­um darf man auch nicht je­des Bild an­grei­fen, wenn ei­nem da­nach ist, oder? Zu den Be­nimm­re­geln für die­ses Kunst­werk ge­hört eben, dass man vor dem Schwim­men du­schen muss. Und bit­te auch nicht rein­pin­keln! Man muss Kunst und Na­tur ja nicht gleich über­for­dern.“

Pro Tag kom­men an die 100 bis 120 Schwim­mer zum Pond. Auch bei Wind und Wet­ter wie zu die­ser un­er­bitt­li­chen Stun­de. Es stürmt. „Die meis­ten un­se­rer Be­su­cher sind Bu­si­ness­leu­te vor Ar­beits­be­ginn oder in der Mit­tags­pau­se, Stu­den­ten, Pen­sio­nis­ten und ab­ge­brüh­te Eis­bä­ren, die sich vor dem kal­ten Was­ser nicht scheu­en“, er­zählt Ga­vin. Manch­mal kom­men auch die Bau­ar­bei­ter von ne­ben­an, tau­schen für ein paar Mi­nu­ten Blau­mann ge­gen Ba­de­ho­se. „Und im­mer öf­ter ha­ben wir Be­such von den Eu­ros­tar-Ge­schäfts­rei­sen­den aus Deutsch­land und Frank­reich, die in St. Pan­cras an­kom­men, nur we­ni­ge Schrit­te von hier.“

Paul Whi­te­he­ad ist ei­ner von ih­nen. Der 60-Jäh­ri­ge trägt Po­los­hirt und Son­nen­bril­le. Vol­ler Op­ti­mis­mus blickt er in die dun­kel­grau­en Wol­ken hoch. „Ich woh­ne an der Küs­te und bin 365 Ta­ge im Jahr im Meer“, sagt er. Das sei gut fürs Im­mun­sys­tem. „Jetzt ha­be ich end­lich auch in Lon­don die Mög­lich­keit, mei­nem täg­li­chen Ri­tu­al nach­zu­ge­hen. Ich fin­de den King’s Cross Pond groß­ar­tig. Das ist ei­ne für Lon­don ganz neue Out­door-Kul­tur, die hof­fent­lich noch vie­le Nach­ah­mer fin­den wird.“ Und er ver­schwin­det in der rot-weiß ge­streif­ten Um­klei­de­ka­bi­ne.

Die nack­te De­mo­kra­tie

Der King’s Cross Pond ist der er­ste künst­lich ge­schaf­fe­ne Na­tur­teich in ganz Groß­bri­tan­nien. Ei­ne er­fri­schen­de Pre­mie­re. Doch was ist der künst­le­ri­sche Aspekt an die­sem Pro­jekt? „Es geht um den Kon­text“, sagt Eva Pfan­nes vom Rot­ter­da­mer Bü­ro Oo­ze Ar­chi­tects. Schon seit vie­len Jah­ren un­ter­stützt sie Mar­je­ti­ca Potrč in der Pla­nung ih­rer Kunst­pro­jek­te. „In der Ba­de­ho­se zeigt man sich nackt und ver­letz­lich, und das in­mit­ten ei­ner der größ­ten Bau­stel­len Lon­dons, mit all den lau­ten Ma­schi­nen rund­he­rum. Es ist span­nend, hier so ei­nen Raum zu öff­nen. Das ist nicht all­täg­lich.“

Die größ­te Qua­li­tät die­ses Kunst­pro­jekts im öf­fent­li­chen Raum – über die ge­nau­en Bau­kos­ten schweigt sich der In­ves­tor Ar­gent LLP lei­der aus – ist sei­ne so bo­den­stän­di­ge De­mo­kra­tie. Es rich­tet sich an Künst­le­rin­nen und Kunst­lieb­ha­ber, an Schwim­mer, Öko-Fre­aks und Nach­hal­tig­keits­ak­ti­vis­ten, an An­zug-und-Kra­wat­ten-Trä­ger so­wie an ganz nor­ma­le Be­su­cher von Kunst im öf­fent­li­chen Raum. Im Was­ser sind al­le Men­schen gleich.

Der King’s Cross Pond ist als tem­po­rä­res Zwi­schen­nut­zungs­pro­jekt kon­zi­piert. Zwei Jah­re lang soll es Be­stand ha­ben. Da­nach, wenn das Vier­tel mit all sei­nen Im­mo­bi­lien­ent­wi­cklun­gen be­kannt ge­wor­den ist, so der Plan, soll es ab­ge­baut wer­den und ei­nem lu­kra­ti­ve­ren Pro­jekt Platz ma­chen. Am En­de wird wie­der die Ren­di­te sie­gen. Das ist Gen­tri­fi­ca­ti­on in Rein­kul­tur. Doch die Künst­le­rin und die Ar­chi­tek­ten zei­gen sich op­ti­mis­tisch: „Das ist ein ur­ba­nes Ge­mein­schafts­pro­jekt. Es ist ein Werk­zeug, das da­bei hel­fen soll, ei­ne re­si­lien­te und le­bens­wert­ere Stadt ent­ste­hen zu las­sen.“ Mö­gen sich die In­ves­to­ren von die­sem Glau­ben an­ste­cken las­sen. Nach dem Sprung ins kal­te Was­ser wird ei­nem ganz warm ums Herz.

[ Die Rei­se nach Lon­don er­folg­te auf Ein­la­dung von Bio­top. ]

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