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See­gur­ke im Wun­der­land
Der Standard

Der dies­jäh­ri­ge Ser­pen­ti­ne-Pa­vil­lon von Sel­gas­Ca­no spal­tet die Ge­mü­ter. Es ist gei­ßelnd hell und brü­tend heiß. Je­doch: Das bun­te Bau­werk ge­fällt ge­ra­de je­nen, für die es kon­zi­piert wur­de – der Lon­do­ner Be­völ­ke­rung.

19. Juli 2015 - Wojciech Czaja
Es hat 37 Grad an die­sem Tag. Aus­nah­me­zu­stand in Lon­don. Und wäh­rend die In­fras­truk­tur zu­sam­men­bricht und die Zü­ge und U-Bah­nen auf­grund des kom­plett über­la­ste­ten Net­zes nur noch mit Tem­po 30 durch den Un­ter­grund zu­ckeln, scheut die bri­ti­sche See­le, leicht un­ter­kühlt in ih­rer kli­ma­ti­schen Na­tur, nicht da­vor zu­rück, sich an ei­nen noch hei­ße­ren, ei­nen noch un­er­träg­li­che­ren Ort zu be­ge­ben.

„Oh, es ist ein­fach wun­der­voll“, sagt San­dra Mil­ler. Die Pen­sio­nis­tin trifft sich ein­mal im Mo­nat mit ih­ren Freun­din­nen zum Frau­en­zir­kel, je­des Mal an ei­nem an­de­ren Ort, die­ses Mal ist es der Ser­pen­ti­ne-Pa­vil­lon in den Ken­sing­ton Gar­dens. Der Schweiß rinnt in Strö­men über ih­re Schmin­ke, über die Haut legt sich ein mal grün­li­cher, mal pin­ker Schlei­er. „Es gibt Ge­bäu­de, die las­sen ei­nen die­sen Som­mer in ge­wis­ser Wei­se wür­di­ger und stil­vol­ler er­tra­gen, das kann ich nicht leug­nen. Aber trotz­dem macht mich die­ses Ding, so­bald ich es be­tre­te, auf ei­ne ganz ei­ge­ne Wei­se glü­cklich. Ich füh­le mich hier an mei­ne Kind­heit er­in­nert.“

Jahr für Jahr lädt die Ser­pen­ti­ne Gal­le­ry Ar­chi­tek­ten und Ar­chi­tek­tin­nen aus al­ler Welt ein, für ei­ne Sai­son ei­nen tem­po­rä­ren, öf­fent­lich zu­gäng­li­chen Pa­vil­lon auf das his­to­ri­sche An­we­sen zu stel­len. Man möch­te dem bri­ti­schen Pu­bli­kum zeit­ge­nös­si­sche Ar­chi­tek­tur, ja ein biss­chen so­gar das un­or­tho­do­xe Den­ken von Räu­men nä­her­brin­gen. Nach wohl­klin­gen­den und be­stens ver­trau­ten Na­men wie et­wa Za­ha Ha­did, Frank Geh­ry, Oscar Nie­mey­er, Da­ni­el Li­be­skind, Je­an Nou­vel und Pe­ter Zum­thor hat man be­reits 2013 be­gon­nen um­zu­den­ken und auch we­ni­ger eta­blier­ten Ar­chi­tek­ten ei­ne Büh­ne zu ge­ben. Mit dem spa­ni­schen und in­ter­na­tio­nal kaum be­kann­ten Bü­ro Sel­gas­Ca­no be­strei­tet man nun das 15-jäh­ri­ge Ju­bi­lä­um der Re­nais­san­ce der Pa­vil­lon-Kul­tur.

Far­ben­fro­hes Sel­fie-Pa­ra­dies

„Wir ha­ben uns da­zu ent­schie­den, in Zu­kunft mit ei­ner jün­ge­ren Ge­ne­ra­ti­on von Ar­chi­tek­ten zu­sam­men­zu­ar­bei­ten. Das macht das Spek­trum der Ge­stal­tung rei­cher und brei­ter“, sagt Em­ma En­der­by, zu­stän­di­ge Ku­ra­to­rin in der Ser­pen­ti­ne Gal­le­ry, die die Pa­vil­lons oh­ne För­de­rung ein­zig und al­lein mit Spon­so­ren­geld­ern fi­nan­ziert. „Die fri­sche und in­no­va­ti­ve Her­an­ge­hens­wei­se an das The­ma Licht, Far­be und Ma­te­ri­al, die Aus­ein­an­der­set­zung mit der Na­tur und nicht zu­letzt die Ex­pe­ri­men­tier­freu­de zeich­nen die­ses, wie ich mei­ne, ein­zig­ar­ti­ge Ar­chi­tek­tur­bü­ro aus.“

Von au­ßen be­trach­tet liegt der dies­jäh­ri­ge Pa­vil­lon mit sei­nen vier wur­mar­ti­gen Ein- und Aus­gän­gen wie ein wei­ches, amor­phes X, wie ei­ne dop­pelt sia­me­si­sche See­gur­ke aus Ali­ce’ Wun­der­land in der Wie­se. Far­bi­ge, kreis­chend re­gen­bo­gen­bun­te Fo­lien aus ET­FE, ei­ni­ge da­von ge­tupft, an­de­re mit Me­tal­lic-Ef­fekt, schmie­gen sich über weiß la­ckier­te, ge­krümm­te und ge­knick­te Stahl­rah­men. An man­chen Stel­len so­gar ist die Stahl­kons­truk­ti­on mit an Pa­ket­kle­be­band ge­mah­nen­den Plas­tik­schlei­fen um­wi­ckelt. Ein Sel­fie-Pa­ra­dies für Fa­ce­boo­ker und In­sta­gram­mer.

„Mir ge­fällt das Zu­fäl­li­ge, das Un­vor­her­seh­ba­re an die­sem Ge­bil­de“, meint die eng­li­sche Kunst­kri­ti­ke­rin Han­nah Lan­cas­ter. „Es geht von nir­gend­wo nach nir­gend­wo. Man weiß nie, wo der Ein­gang ist, man weiß nie, wo man wie­der her­aus­kommt. Die Pro­jek­te in den Vor­jah­ren wa­ren lang­wei­li­ger. Das heu­ri­ge Pro­jekt je­doch lie­fert den Be­weis, dass Ar­chi­tek­tur rich­tig Spaß ma­chen kann.“ Ver­schwin­det wie­der im Wurm­loch psy­che­de­li­scher Farb­tän­ze und po­si­tio­niert das Smart­pho­ne am En­de des aus­ge­streck­ten Arms. Und klick.

Al­lein, an­ders als in den Vor­jah­ren darf man kei­nen ar­chi­tek­to­ni­schen Blick auf den Pa­vil­lon wer­fen, be­trach­tet es rat­sa­mer­wei­se vom Stand­punkt des Lai­en, des städ­ti­schen Be­woh­ners, des in die­ser sonst so grau­en Stadt nach Far­ben­rausch trach­ten­den Glücks­rit­ters. Ver­ges­sen sol­len sie sein, all die ge­bas­tel­ten De­tails, all die zu­ge­knif­fe­nen Au­gen im gei­ßeln­den Licht der tau­send­fach ref­lek­tier­ten Son­ne, all die schweiß­trei­ben­den Mi­nu­ten un­ter dem Bal­da­chin des Plas­tik­fo­lie­nin­fer­nos.

„Ich mag mei­nen Job, aber hier zu ar­bei­ten ist ei­ne rich­ti­ge Her­aus­for­de­rung“, sagt Kit­ty Roe. Sie steht an der Bar und ver­kauft Ge­trän­ke an Be­su­che­rin­nen und Be­su­cher. Die Was­ser­fla­schen ge­hen in die­sem Jahr hek­to­li­ter­wei­se über die Schank. „Ich muss zu­ge­ben, dass ich heu­er sehr ent­täuscht bin“, meint An­drew Sta­ple­hurst, der aus den Mid­lands ex­tra nach Lon­don ge­reist ist, um den Pa­vil­lon zu be­su­chen. „Das gan­ze Ding sieht schä­big aus, so als ob man es not­dürf­tig re­pa­riert hät­te. Muss denn Tem­po­rä­res wirk­lich so tem­po­rär aus­se­hen?“ Und The Gu­ar­di­an schreibt in sei­ner Kri­tik gar: „Es ist, als hät­te man ei­nen Clown für ei­ne Kin­der­par­ty or­ga­ni­siert, und dann stellt sich her­aus, dass die­ser gar nicht so lus­tig ist, wie man dach­te.“

Ex­pe­ri­men­tie­ren muss sein

Die Ar­chi­tek­ten Sel­gas­Ca­no stört die­se Kri­tik nicht im Ge­ring­sten. „Das ist kein fer­ti­ges Ge­bäu­de, son­dern mehr ei­ne Skiz­ze für et­was, das sich da­raus ei­nes Ta­ges ent­wi­ckeln könn­te“, er­klärt Jo­sé Sel­gas, der das Bü­ro ge­mein­sam mit sei­ner Part­ne­rin Lu­cía Ca­no be­treibt. „Wir ar­bei­ten ger­ne mit neu­en Ma­te­ria­li­en und neu­en Fer­ti­gungs­me­tho­den. Fort­schritt und über den Tel­ler­rand bli­cken ... das ist un­se­rer Mei­nung nach ei­ne der es­sen­ziel­len Auf­ga­ben der Ar­chi­tek­tur.“

Auch die an­de­ren Pro­jek­te von Sel­gas­Ca­no – da­run­ter et­wa ein Ska­te­park und Ju­gend­zen­trum in Mé­ri­da, ein Kon­fe­renz­zen­trum in Pla­sen­cia so­wie ihr ei­ge­nes, halb im Wald­bo­den ein­ge­grab­enes Ar­chi­tek­tur­bü­ro in der Nä­he von Ma­drid – sind im­mer wie­der Ex­em­pel für das Neue, für das noch nie da Ge­we­se­ne in der Ar­chi­tek­tur. Plas­tik in all sei­nen che­mi­schen und for­ma­len Er­schei­nungs­for­men spielt da­bei ei­ne wich­ti­ge Rol­le. „Ex­pe­ri­men­tie­ren ist der Schlüs­sel in die Zu­kunft“, sagt Sel­gas. Auch wenn das Er­geb­nis, wie The Gu­ar­di­an schreibt, wie ein mü­der, zu­sam­men­ge­sack­ter Luft­bal­lon da­her­kommt.

Der dies­jäh­ri­ge Ser­pen­ti­ne-Pa­vil­lon spal­tet die Ge­mü­ter. Es ist ei­ne Ar­chi­tek­tur, die dem Kol­lek­tiv gut ge­fällt, wäh­rend sie das ar­chi­tek­to­ni­sche, hoch­kul­tu­rel­le Es­ta­blish­ment schau­de­rhaft zu ver­stö­ren weiß. Und das ist gut so. Ge­ra­de in ei­ner Stadt wie Lon­don, die sich tra­di­tio­nell und mehr denn je seit That­cher dem Dik­tat der Pri­va­ti­sie­rung, des Aus­ver­kaufs des öf­fent­li­chen Raums und der mit­un­ter bru­ta­len Ab­kehr je­des Wohl­fahrts­ge­dan­kens un­ter­wor­fen hat, kommt die­ses lus­ti­ge, hu­mor­vol­le und auch ir­gend­wo ge­nuss­vol­le Gu­te-Lau­ne-Na­tur­ell gut zu ste­hen. Die Lon­do­ner Be­völ­ke­rung hat be­wie­sen, dass das Kon­zept auf­geht.

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