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Und wenn es nur ein Tep­pich ist
Der Standard

Die deut­sche So­zio­lo­gin Ya­na Mi­lev be­schäf­tigt sich mit Emer­gen­cy De­sign, al­so mit Ent­wurfs­stra­te­gien in Zei­ten der Kri­se. Gibt es die per­fek­te No­tun­ter­kunft für Flücht­lin­ge? Ja. Man muss nur die kul­tu­rel­len Co­des re­spek­tie­ren.

19. September 2015 - Wojciech Czaja
Stan­dard: Sie ha­ben bul­ga­ri­sche Wur­zeln und sind in der DDR auf­ge­wach­sen. Wie ha­ben Sie die Flücht­lings­de­bat­te und die da­mit ver­bun­de­ne Asyl­quar­tier­kri­se der letz­ten Wo­chen mit­er­lebt?

Mi­lev: Es hat mich emo­tio­nal sehr mit­ge­nom­men. Wenn auch aus am­bi­va­len­ten Grün­den. Ei­ner­seits hat es mich be­rührt zu se­hen, wel­che Zi­vil­cou­ra­ge die Ös­ter­rei­cher und Deut­schen ent­wi­ckelt ha­ben, um sich für die Flücht­lin­ge aus Sy­rien zu en­ga­gie­ren. An­de­rer­seits ha­be ich be­ob­ach­tet, wel­chen Na­tio­na­lis­mus und wel­che Här­te die Län­der in so ei­ner Not­si­tua­ti­on an den Tag le­gen. Ich ha­be die Sou­ver­äni­tät des Wohl­fahrtss­taa­tes ver­misst. Hier ist das Mo­dell schein­bar an sei­ne Gren­zen ge­sto­ßen.

Stan­dard: In Ös­ter­reich wer­den die Flücht­lin­ge in Zel­te und Con­tai­ner ge­steckt.

Mi­lev: So­fern ein Land nicht über per­fekt auf­be­rei­te­te La­ger samt der nö­ti­gen In­fras­truk­tur ver­fügt, kann ich nur sa­gen: Zelts­täd­te und im­pro­vi­sier­te Con­tai­ner­sied­lun­gen sind prin­zi­pi­ell ei­ne sehr gu­te und ef­fi­zien­te Me­tho­de, um rasch auf Not zu rea­gie­ren und in kür­zes­ter Zeit zehn­tau­sen­de Men­schen auf­zu­neh­men – so­fern ge­wis­se Spiel­re­geln be­ach­tet wer­den. Das zei­gen die UN-Flücht­lings­la­ger in Jor­da­nien, aber auch Ja­pans prompt or­ga­ni­sier­te No­tun­ter­künf­te nach Fu­kus­hi­ma.

Stan­dard: Wie lau­ten denn die­se Spiel­re­geln?

Mi­lev: Ob­dach, In­fras­truk­tur wie et­wa Du­schen und WC so­wie Ver­sor­gungs­mög­lich­kei­ten von au­ßen mit Nah­rungs­mit­teln, Klei­dung und Me­di­ka­men­ten. Das ist ein­mal die Hard­wa­re. Die Soft­wa­re al­ler­dings ist min­des­tens ge­nau­so wich­tig. Und da­mit mei­ne ich ei­ner­seits Be­we­gungs­spiel­räu­me wie et­wa ein Tep­pich, ein Blu­men­beet vor dem Zelt, aus­rei­chend Platz zum Ko­chen, Es­sen, Schla­fen so­wie Sport­flä­chen. An­de­rer­seits Hand­lungs­spiel­räu­me für kul­tu­rel­le Co­des, et­wa für kol­lek­ti­ve Ri­tua­le, für Re­li­gi­on, für Mu­sik, für ein­fa­che Tausch­ge­schäf­te, für Dienst­leis­tun­gen im tem­po­rä­ren All­tag – und sei es nur ein Fri­seur, der ei­nem nach ein paar Wo­chen die Haa­re schnei­det.

Stan­dard: Ganz all­täg­li­che Din­ge al­so …

Mi­lev: Im Grun­de ge­nom­men muss ein Auf­fang­la­ger für Flücht­lin­ge all je­ne Mög­lich­kei­ten bie­ten, die sich in in­for­mel­len Sied­lun­gen al­ler Art – so wie et­wa in Slums – ganz von al­lein ent­wi­ckeln, wenn man sie nur lässt. Die Er­fah­rung zeigt, dass die­se Spiel­räu­me ex­trem wich­tig sind.

Stan­dard: Weil?

Mi­lev: Weil die Men­schen ih­re ei­ge­ne Krea­ti­vi­tät aus­le­ben kön­nen müs­sen, da­mit sie sich, wenn sie schon kein mo­ne­tä­res Ka­pi­tal ha­ben, zu­min­dest auf ihr so­zia­les und kul­tu­rel­les Ka­pi­tal stüt­zen kön­nen, da­mit sie nach ein paar Wo­chen nicht durch­dre­hen und sich nicht ge­gen­sei­tig um­brin­gen. Die Pfle­ge der Kul­tur, die Auf­recht­er­hal­tung ei­nes ge­wis­sen All­tags ma­chen die Men­schen psy­chisch im­mun.

Stan­dard: Ha­ben Sie das Ge­fühl, dass die­se Min­dest­stan­dards in den Er­stauf­nah­me­zen­tren und Asyl­quar­tie­ren ein­ge­hal­ten wer­den?

Mi­lev: Da traue ich mir kein Ur­teil zu. In den Me­dien hat man die­sen Ein­druck je­den­falls nicht ver­mit­telt be­kom­men.

Stan­dard: In Ih­rem Buch „Emer­gen­cy De­sign“ schrei­ben Sie, dass ge­si­cher­te in­ne­re Wohn­raum­ver­hält­nis­se am An­fang al­ler Ar­chi­tek­tur- und De­sign- stra­te­gien stün­den. Ab wann kann man von ei­nem sol­chen ge­si­cher­ten in­ne­ren Wohn­raum spre­chen?

Mi­lev: So­bald die Men­schen ei­nen Hauch von Hoff­nung und Si­cher­heit spü­ren und an­fan­gen, sich wohl­zu­füh­len. Da­zu braucht es ei­gent­lich gar nicht viel. Ha­ben Un­garn, Ös­ter­reich und Deutsch­land das bie­ten kön­nen? Da bin ich mir nicht si­cher …

Stan­dard: Sind Ih­nen po­si­ti­ve Bei­spie­le für No­tun­ter­künf­te be­kannt, wo es ge­lun­gen ist, rasch, bil­lig, ef­fi­zient und den­noch hoch­wer­tig zu han­deln?

Mi­lev: Da gibt es vie­le gu­te Bei­spie­le. Ich den­ke et­wa an den Wie­der­rauf­bau von New Or­le­ans nach dem Hur­ri­kan Ka­tri­na, an die Flücht­lings­la­ger der UN, an ein Kunst­pro­jekt von Da­ni­el Ker­ber in Saa­ta­ri, das größ­te Flücht­lings­camp der Welt, oder et­wa an den Flat Pack Shel­ter, den Ikea für die UNHCR ent­wi­ckelt hat. Die Er­fah­rung ist da, das Know-how ist da, man soll die Men­schen nicht un­ter­schät­zen.

Stan­dard: Es gibt ei­ni­ge Un­ter­neh­men, die sich da­rauf spe­zi­a­li­siert ha­ben, schnel­len, kos­ten­güns­ti­gen, mo­du­lar auf­ge­bau­ten Wohn­raum zu schaf­fen, der sich spä­ter sehr leicht für an­de­re Nut­zun­gen adap­tie­ren lässt. Wä­re das nicht nach­hal­ti­ger?

Mi­lev: Ich fin­de es be­ein­druckend, wie sich hier im Lau­fe der Zeit ein ei­ge­ner Markt­zweig ent­wi­ckelt hat. Nur all­zu ver­ständ­lich! Die An­mie­tung von Con­tai­nern ist ja auf Dau­er auch nicht ge­ra­de bil­lig. Und ich den­ke, dass sich hier in den kom­men­den Jah­ren ei­ne ei­ge­ne neue In­dus­trie mit Mehr­weg­häus­ern und re­cy­cel­ba­ren Ein­we­gun­ter­künf­ten eta­blie­ren wird.

Stan­dard: Noch mehr, als das heu­te schon der Fall ist?

Mi­lev: Ja. Und zwar aus ei­nem ganz ein­fa­chen Grund – weil der Not­fall kei­ne ein­ma­li­ge Sa­che mehr ist. Seit den Neun­zi­ger­jah­ren sind wir mit Na­tur­ka­ta­stro­phen und po­li­ti­schen und wirt­schaft­li­chen De­sas­tern in ei­ner wahr­nehm­bar er­höh­ten Fre­quenz kon­fron­tiert. Not­fäl­le und Emer­gen­cies ste­hen mitt­ler­wei­le auf der Ta­ges­ord­nung. Wir bräuch­ten längst schon ei­ne In­dus­trie, die sich auf Con­tai­ner- und Zelt­sied­lun­gen spe­zi­a­li­siert, die auf Knopf­druck auf­ge­baut und ak­ti­viert wer­den kön­nen.

Stan­dard: Was ist mit Im­mo­bi­lien­leers­tand? Laut ei­ner Un­ter­su­chung der bri­ti­schen Ta­ges­zei­tung „The Gu­ar­di­an“ ste­hen in der EU mehr als elf Mil­lio­nen Häu­ser und Woh­nun­gen leer. Al­lein in Deutsch­land sind es über 1,8 Mil­lio­nen un­ge­nutz­te Ob­jek­te.

Mi­lev: Das ist mehr, als ich zu glau­ben ge­wagt hät­te. Schwie­rig! Die Zu­rück­hal­tung von leers­te­hen­den Im­mo­bi­lien ist ein enor­mes Pro­blem der Ka­pi­tal­ge­sell­schaft. Lei­der wird das Zu­rück­hal­ten der pri­va­ten Res­sour­cen um­so stär­ker, je pre­kä­rer die Si­tua­ti­on, je grö­ßer die Kri­se ist. Bei den Pri­va­ten se­he ich al­so schwarz.

Stan­dard: Und was ist mit der öf­fent­li­chen Hand? Wä­re es nicht volks­wirt­schaft­lich sinn­vol­ler, sich kurz­fri­stig in die­sen Leers­tand ein­zu­mie­ten, an­statt das Geld für Zel­te und Con­tai­ner aus­zu­ge­ben? Lässt sich so ein Sys­tem nicht ent­wi­ckeln?

Mi­lev: Theo­re­tisch ist das mög­lich. Hier muss man an die po­li­ti­sche Ebe­ne so­wie an die NGOs ap­pel­lie­ren. Doch prak­tisch hal­te ich die Ak­ti­vie­rung von Im­mo­bi­lien­lees­tand für ei­nen sehr lan­gen, stei­ni­gen Weg. Lei­der. Der be­ste An­satz wä­re hier noch die Nut­zung leers­te­hen­der Ka­ser­nen. Da­von gibt es in Ös­ter­reich und Deutsch­land ja ei­ne Men­ge.

Stan­dard: Ab­schluss­fra­ge: Was ist Ihr Wunsch für hier und jetzt?

Mi­lev: Dan­ke für die­se Fra­ge! Ich wün­sche mir, dass wir uns auf­raf­fen, die In­sti­tu­tio­nen – vor al­lem die po­li­ti­schen – zu über­ge­hen, denn die­se ha­ben auf wei­ter Flur ver­sagt. Wir müs­sen selbst los­ge­hen und han­deln. Jetzt so­fort. Und wir müs­sen an­fan­gen, Ei­gen­ka­pi­tal zu in­ves­tie­ren. Und wenn es nur ein biss­chen un­se­res Reich­tums ist. Das ist un­se­re Ver­ant­wor­tung.

Ya­na Mi­lev, ge­bo­ren in Leip­zig, ist Kul­tur­phi­lo­so­phin, So­zio­lo­gin und Ku­ra­to­rin. Sie ist For­sche­rin am Se­mi­nar für So­zio­lo­gie (SFS) so­wie Do­zen­tin an der School of Hu­ma­ni­ties und So­ci­al Scien­ces (SHSS) an der Uni­ver­si­tät St. Gal­len. 2015 grün­de­te sie das Kyp­ton3000 In­sti­tut für Ge­sell­schafts- und Zu­kunfts­for­schung. 2011 er­schien ihr Buch „Emer­gen­cy De­sign“ (Mer­ve-Ver­lag).

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