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Eineinhalb Erden
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Beim Essen fragen wir uns, woher es kommt. Nun sollten wir beginnen, uns das auch bei technischen und anderen Rohmaterialien zu fragen. Biokleidung könnte kompostiert werden, aus der Erde wird wieder Nahrung: zum Funktionieren der Kreislaufwirtschaft.

5. Dezember 2015 - Harald Gründl
Im Zeitalter des Anthropozäns entwickelt die Menschheit neue Rituale. Wir sind zu einem geologischen Faktor geworden und feiern unsere weltverändernde Macht auf den Klimakonferenzen der Vereinten Nationen. Das Logo der heurigen Zusammenkunft aller Länder, die etwas für den Klimaschutz versprechen, könnte man als grünes Blatt lesen. Die stilisierte Mittelrippe des Blatts ist als Eiffelturm erkennbar. Am linken Rand des Blattes scheint die Sonne durch einen stilisierten Insektenbiss. Die Heraldik des Klimawappens von Paris fügt sich nahtlos in die zahllosen Produktgrafiken ein, die mittels eines stilisierten Blatts ökologisches Gewissen vortäuschen. Der Eiffelturm im Klimawappen erinnert an ein industrielles Zeitalter, das seinen Energiehunger aus nicht erneuerbarenEnergieträgern wie Kohle und später Erdöl gestillt hat.

Eineinhalb Erden ist der ökologische Fußabdruck der Weltbevölkerung zurzeit und stellt somit eine gefährliche Übernutzung der natürlichen Ressourcen dar. Längst ist uns bewusst, dass lineares Wirtschaften nicht zukunftsfähig ist. Das Europaparlament hat im Sommer einen Text verabschiedet, der notwendige Schritte hin zu einer Kreislaufwirtschaft aufzeigt. Design und Architektur sind explizite Überschriften von Maßnahmen, welche die Ressourceneffizienz steigern und die Abhängigkeit der europäischen Wirtschaft von importierten Rohstoffen verringern sollen. Damit werden die angewandten Kunstdisziplinen zu einemgesellschaftspolitischen Katalysator für das, was das Europäische Parlament als einen Paradigmenwechsel und Systemwandel unseres Wirtschaftens bezeichnet. Wir haben uns eine Welt ohne Abfälle vorgenommen. Bis 2050 streben wir eine nachhaltige Verwendung von Ressourcen an. Für den Wandel fehlt es uns nicht an Informiertheit, sondern an Entschlossenheit. Der Maßnahmenkatalog des Europaparlaments führt zahlreiche Kennzahlen an, welche den falschen Weg, den wir Richtung eines Weltressourcenverbrauchs von drei Erden einschlagen, belegen.

Design und Architektur sind jetzt am Zug, Modelle und Alternativen für diesen Wandel zu entwickeln. Wir sollten nicht nur darüber nachdenken, wie die Dinge aussehen und benutzt werden, sondern auch woher die Rohstoffe kommen. Unter welchen ökologischen und sozialen Bedingungen werden Rohstoffe abgebaut? Wie viel Prozent der verwendeten Materialien wurden wiederverwertet? Sind die verwendeten Materialien natürliche Rohstoffe?

Wir haben uns beim Essen angewöhnt zu fragen, woher unsere Nahrung kommt. Wir sollten nun auch damit beginnen, uns das bei technischen und biologischen Rohmaterialien zu fragen. Kleidung aus biologischen Rohstoffen wie Hanf oder Baumwolle könnte kompostiert werden. Und aus der Erde wird wieder Nahrung. Vorausgesetzt, es sind keine giftigen Stoffe in der Kleidung enthalten. Eine Stofffabrik, die ihre Produktion auf kompostierbare Fasern umstellt, hat plötzlich keinen Giftabfall mehr, der verbrannt werden muss und schädliche Emissionen erzeugt, sondern Ausgangsmaterial für Kompost. Der kann sogar verkauft werden, anstatt Entsorgungsgebühren zu bezahlen. Eine Hose, die wie ein Blatt verwelkt, am besten jedes Jahr und damit wieder Platz für eine neue Mode macht. An dieser Stelle könnten die ökonomischen Auswirkungen auf Arbeitsplätze und Unternehmensgewinn aus dem Dokument der EU zitiert werden.

In biologischen Kreisläufen hat es sehr viel Sinn, über Langlebigkeit und Nutzungskaskaden nachzudenken. Zu schnell wird heute, was nicht zu den Filetstücken eines Baums gehört, verbrannt. Das österreichische Forschungshaus „LISI“, das den Solar Decathlon 2013 in den USA gewann, zeigt auf poetische Weise, wie ein Baum als Ressource genutzt werden könnte: Aus den Blättern wird ein Vorhang, aus dem Stamm wird Konstruktionsholz, und aus der Rinde entstehen Innenverkleidungen mit hervorragenden Eigenschaften für Raumklima und Akustik und Schalenmöbel. Das von der Fachhochschule Salzburg auf dem Campus Kuchl entwickelte Materialkonzept hat jedenfalls das Potenzial, mit der Industrie weitergedacht und industrialisiert zu werden. Das Siegerhaus schwimmt in der Blauen Lagune vor Wien im Wasser, doch viele nachhaltige Ansätze konnten nicht in das Serienprodukt übernommen werden.

Baumrinde könnte in Zukunft ein wichtiger Rohstoff für den Innenausbau werden. In einer Zeit, in der es eine Rückbesinnung zum Natürlichen gibt, wäre dieser Rohstoff ein hervorragender Ausgangspunkt für neue Oberflächen. Die für LISI unter der Leitung von Michael Ebner entwickelten Sitzschalen aus gehäckselten Baumrinden zeigen das Potenzial eines Werkstoffs, der in Österreich in Massen anfällt und wenig kostet.

Wir müssen heute intelligenter und wertschätzender mit unseren Materialien umgehen. Zukünftig gibt es keine Abfälle mehr. Vielleicht können die Baumrindenpaneele sogar einen gleich hohen Preis erzielen wie das dekorative Brett, das aus dem Stamm geschnitten wird. Ein Paradigmenwechsel. Kreislaufdenken erfordert Kreativität und die Erschließung neuer Ressourcenquellen. Rinde ist ein natürlicher Hightech-Werkstoff, derden Temperaturhaushalt eines Baums regelt. Was in einer Industrie als Abfall anfällt, kann in einer anderen Industrie als Ressource verwendet werden. So ergeben sich interessante neue Zusammenhänge, die zum Ausgangspunkt von nachhaltigen Produktinnovationen werden.

Ebenfalls ein Projekt der FH Salzburg ist die Weiterentwicklung eines Isolationswerkstoffs aus Tannin. Styropor wird heute massenhaft in der Bauindustrie als Isolationswerkstoff eingesetzt. Grundlage seiner Herstellung ist Erdöl. Styropor kann nicht recycelt werden. Am Ende des Lebenszyklus ist Styropor ein Problemstoff, der nur thermisch verwertet werden kann. Durch die Art, wie er im Fassadenaufbau verwendet wird, ist auch seine Trennung von anderen mineralischen oder natürlichen Baustoffen problematisch. Tanninschaum ist von seinen Eigenschaften her ein vielversprechender Ersatz für Styropor. Doch auch hier ist die Industrie zögerlich. Tanninschaum ist ein Baustoff, der biologisch abbaubar wäre und aus einem industriellen Abfallstoff gewonnen werden kann. Dass die Industrie hier nicht aufspringt, kann nur an verfehlten Rahmenbedingungen liegen, die mit dem politischen Bekenntnis zur Kreislaufökonomie sich hoffentlich schnell ändern werden.

Es liegt an uns allen, zukunftsorientiert zu handeln, lange bevor die Ecodesign-Gesetze durch die Institutionen verabschiedet werden. Wir können heute schon ein Haus bauen, das einen neutralen CO2-Fußabdruck hat. Wir können Kleidung herstellen, die wie ein Blatt wieder zu Erde wird. Wir können aus den Abfällen einer Industrie einen neuen umweltfreundlichen Wertstoff entwickeln. Mit diesen Beiträgen demonstrieren wir, dass ein anderes Gestalten möglich ist. Eine funktionierende Kreislaufwirtschaft würde auch einen entscheidenden Beitrag zur Reduktion von Treibhausgasen leisten.

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