Artikel

„Ich will die Welt seis­mo­gra­fisch er­fas­sen“
Der Standard

Die Aus­stel­lung „Zoom!“ im Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien zeigt Stadt­bil­der aus der Sicht nam­haf­ter Fo­to­gra­fen. Ju­li­an Rö­der wid­me­te sich den in­fras­truk­tu­rel­len Er­schüt­te­run­gen in der ni­ge­ria­ni­schen Me­ga­me­trop­ole La­gos.

2. April 2016 - Wojciech Czaja
Stan­dard: Gel­be, aus­ran­gier­te Bus­se, Well­blech­hüt­ten bis zum Ho­ri­zont, ein ein­zi­ges Meer aus Smog und Staub. Was emp­fin­det man als Fo­to­graf bei so ei­nem An­blick?

Rö­der: Ich bin mir selbst wie ein Fremd­kör­per vor­ge­kom­men. Als Fo­to­graf ist man au­to­ma­tisch im­mer auch Be­ob­ach­ter und Voy­eur, aber in die­sem Fall wa­ren die Kon­tra­ste sehr hart. Ich fühl­te mich als Ein­dring­ling in ei­ne Dys­to­pie, von der ich nichts ver­ste­he. Hin­zu kommt, dass das Fo­to­gra­fie­ren in La­gos nicht ein­fach ist, weil es mit viel bü­ro­kra­ti­schem Auf­wand ver­bun­den ist und man für fast je­des Fo­to ei­ne Be­wil­li­gung be­nö­tigt.

Stan­dard: Wa­rum emp­fin­den Sie La­gos als Dys­to­pie, als Hor­ror­bild ei­ner Stadt?

Rö­der: La­gos ist hart und her­aus­for­dernd. Die Stadt ver­langt ei­nem viel Krea­ti­vi­tät und Ei­gen­en­ga­ge­ment ab. Und sie hat kaum et­was, was ei­ne Groß­stadt zu ei­nem funk­tio­nie­ren­den So­zi­al­raum macht – zu­min­dest nicht in mei­nem Ver­ständ­nis. Es gibt sehr we­ni­ge Stra­ßen, aber sehr vie­le Au­tos. Mor­gens fah­ren al­le in die Stadt rein, nach­mit­tags wie­der raus. Über­all ist Stau, so­ge­nann­ter Slow-Go. Es ist ex­trem. An man­chen Ta­gen ha­be ich von ei­nem En­de der Stadt zum an­de­ren acht Stun­den ge­braucht.

Stan­dard: Die größ­ten Her­aus­for­de­run­gen von La­gos sind Strom, Was­ser und öf­fent­li­che Mo­bi­li­tät. In wel­chem Zu­stand be­fin­det sich die In­fras­truk­tur?

Rö­der: Was die Mo­bi­li­tät be­trifft: Es gibt Sam­mel­ta­xis und gel­be Nah­ver­kehrs­bus­se. Vor kur­zem wur­de nun ein Schnell­bus­sys­tem, ein so­ge­nann­ter Bus Ra­pid Trans­port (BRT), ein­ge­führt. Das ist ei­ne gro­ße Be­rei­che­rung für die Stadt. So­viel ich weiß, ist das das ein­zi­ge BRT-Sys­tem süd­lich der Sa­ha­ra.

Stan­dard: Was ist mit dem Rest?

Rö­der: Im­mer wie­der bricht die öf­fent­li­che Strom­ver­sor­gung zu­sam­men. Wer es sich leis­ten kann, hat ei­nen ei­ge­nen Ge­ne­ra­tor. Ei­ni­ge sind klein wie Kof­fer, an­de­re groß wie ein Lkw. Das Ge­räusch der Ge­ne­ra­to­ren ist an je­der E­cke zu hö­ren.

Stan­dard: Wie fin­den sich die Men­schen da­rin zu­recht?

Rö­der: Wer in La­gos lebt, ist ge­zwun­gen, zu bas­teln und sich selbst zu or­ga­ni­sie­ren. Die Stadt ist ei­ne ein­zi­ge Werks­tatt. Die gel­ben Bus­se auf dem Bus­park­platz, die ich fo­to­gra­fiert ha­be, be­le­gen das sehr gut. Man­che war­ten auf Pass­agie­re, an­de­re wer­den ge­ra­de ge­war­tet. In La­gos ist je­der Ein­woh­ner zu­gleich Im­pro­vi­sa­ti­ons­künst­ler und In­ge­ni­eur.

Stan­dard: Ih­re Bild­se­rie, die nun in der Aus­stel­lung „Zoom!“ zu se­hen ist, heißt „La­gos Trans­for­ma­ti­on“. Wo­rin be­steht die­se Ver­wand­lung?

Rö­der: Das ist ein stadt­be­kann­tes Schlag­wort, ein Slo­gan des frü­he­ren Gou­ver­neurs und heu­ti­gen Mi­nis­ters für En­er­gie, In­fras­truk­tur und Woh­nen, Ba­ba­tun­de Fas­ho­la. Er möch­te La­gos kom­plett um­krem­peln und in ei­ne le­bens­wer­te Stadt trans­for­mie­ren. Zu­min­dest ist das sei­ne Vi­si­on. Mir schien der Be­griff sehr pas­send, denn tat­säch­lich be­fin­det sich La­gos im Um­bruch. Vie­le Bli­cke, die ich da­mals in mei­nen Fo­tos ein­ge­fan­gen ha­be, exis­tie­ren heu­te nicht mehr. Vie­le Be­woh­ner wur­den ab­ge­sie­delt, und an­stel­le der frü­he­ren Slums und in­for­mel­len Sett­le­ments gibt es heu­te Parks, Wohn­häu­ser und lu­kra­ti­ve Bü­ro­bau­ten.

Stan­dard: La­gos zählt zu den teu­ers­ten Im­mo­bi­lien­märk­ten Afri­kas.

Rö­der: La­gos liegt zwi­schen Meer und La­gu­ne ein­ge­zwängt und hat mit rie­si­ger Platz­not zu kämp­fen. Ich ha­be den Ein­druck, dass das ein sehr har­ter und un­re­gu­lier­ter Im­mo­bi­lien­markt ist.

Stan­dard: Mit rund 18 Mil­lio­nen Ein­woh­nern ist der Groß­raum La­gos heu­te die größ­te Stadt Afri­kas und die schnell­stwach­sen­de Stadt der Welt. Laut Prog­no­sen der UN wird La­gos 2020 die dritt­größ­te Stadt der Welt sein. Wird La­gos die­sem Wachs­tum stand­hal­ten kön­nen?

Rö­der: Ich glau­be schon. La­gos hat ge­lernt, mit Cha­os und Plan­lo­sig­keit um­zu­ge­hen, und ir­gend­wie scheint sich die Stadt mit die­sem Know-how gut er­hal­ten zu kön­nen. Ich kann mir nicht vor­stel­len, dass sie ei­nes Ta­ges kol­la­bie­ren wird. Die Men­schen sind gut vor­be­rei­tet.

Stan­dard: Ist die Groß­stadt, die Sie in Ih­ren Bil­dern im­mer wie­der ein­fan­gen, ein ge­rech­ter Le­bens­ort?

Rö­der: Nein. Auf kei­nen Fall. Die Groß­stadt ist der Raum, in dem sich Chan­cen öff­nen kön­nen und der aus die­sem Grun­de auch vie­le Leu­te, sehr vie­le Leu­te an­zieht. Das führt je­doch un­wei­ger­lich zu Macht­ver­hält­nis­sen, zu Kämp­fen um Be­haup­tung von Raum und Ver­tei­lung von Res­sour­cen. Und das ist meist al­les an­de­re als ge­recht.

Stan­dard: Pe­dro Ga­dan­ho, Ku­ra­tor am Mu­se­um of Mo­dern Art in New York, hat ein­mal ge­sagt: „Je­de ein­zel­ne Groß­stadt ist be­schis­sen. Es geht nur da­rum her­aus­zu­fin­den, wel­che der be­schis­se­nen Städ­te am be­sten funk­tio­niert.“ Stim­men Sie dem zu?

Rö­der: Schwer zu sa­gen. Ich den­ke, Groß­städ­te sind ei­gent­lich ei­ne wun­der­ba­re Sa­che. Al­ler­dings sind die Pro­ble­me ei­ner Ge­sell­schaft in der Stadt ein­fach viel sicht­ba­rer. Die Fra­ge ist, ob man das der Stadt als Sied­lungs­form in die Schu­he schie­ben kann und darf.

Stan­dard: Sie ha­ben fast drei Wo­chen in La­gos ver­bracht. Wie ver­än­dert sich in die­ser Zeit der Blick des Fo­to­gra­fen?

Rö­der: Nor­mal­er­wei­se hat man nach zwei Wo­chen schon ein ver­trau­tes Ver­hält­nis zu ei­nem Ort auf­ge­baut. Das ist mir in La­gos nicht ge­lun­gen. Die Stadt ist be­rau­schend und hat mich bis zum letz­ten Tag per­ma­nent über­wäl­tigt.

Stan­dard: Sie sind be­ruf­lich viel in Afri­ka un­ter­wegs. Was reizt Sie an Gam­bia, Ni­ge­ria, Ägyp­ten?

Rö­der: Die Er­dung der Men­schen. Das Er­ler­nen des Frem­den. Der Kon­trast zu mei­nem ei­ge­nen Le­ben.

Stan­dard: Sie be­schäf­ti­gen sich in Ih­rer Ar­beit prin­zi­pi­ell viel mit po­li­ti­scher und wirt­schaft­li­cher Macht und mit Un­gleich­heit und Un­gleich­ge­wich­ten.

Rö­der: Ich be­schäf­ti­ge mich mit in mei­ner Fo­to­gra­fie mit Macht und Öko­no­mie. In die­sen Wi­der­sprü­chen und Un­ge­rech­tig­kei­ten, scheint es, kann ich mich am be­sten ent­fal­ten. Ich brau­che die­se Reib­flä­che für mei­ne Ar­beit. Ich möch­te die­se Span­nun­gen und Un­ge­rech­tig­kei­ten ab­bil­den und the­ma­ti­sie­ren.

Stan­dard: Was sa­gen uns Ih­re Bil­der?

Rö­der: Der Mensch macht, was er kann und wo­zu er ims­tan­de ist, wenn man ihn nicht da­ran hin­dert.

Stan­dard: Wel­chen Bei­trag kann die Fo­to­gra­fie leis­ten, um die­se „Dys­to­pie“, um dies mit Ih­ren ei­ge­nen Wor­ten aus­zu­drü­cken, zu lin­dern?

Rö­der: Mit mei­ner Ar­beit möch­te ich Men­schen die Mög­lich­keit bie­ten, sich beim Be­trach­ten Ge­dan­ken über die Welt zu ma­chen. Manch­mal kommt es mir vor, als sei­en mei­ne Fo­tos ei­ne Mög­lich­keit, die Er­schüt­te­run­gen in der Welt seis­mo­gra­fisch zu er­fas­sen.

Ju­li­an Rö­der ist 1981 in Er­furt ge­bo­ren.

Er stu­dier­te Fo­to­gra­fie an der Hoch­schu­le für Gra­fik und Buch­kunst in Leip­zig so­wie an der Hoch­schu­le für an­ge­wand­te Wis­sen­schaf­ten in Ham­burg und lebt heu­te als frei­schaf­fen­der Fo­to­graf in Ber­lin. 2014 ist sein Buch „World Wi­de Or­der“ (Hat­je Cantz) er­schie­nen.

Die Aus­stel­lung „Zoom! Ar­chi­tek­tur und Stadt im Bild“ im Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien (AZW) um­fasst Fo­to­gra­fien zu Wohn­or­ten und Le­bens­um­stän­den von Men­schen auf der gan­zen Welt, da­run­ter auch Ar­bei­ten von Ju­li­an Rö­der. Ge­zeigt wer­den u. a. Neu­bau­sied­lun­gen in Me­xi­ko, Im­mo­bi­lien­geis­ter­städ­te in Spa­nien und il­le­ga­le Dorf­struk­tu­ren auf den Dä­chern von Hong­kong. Zu se­hen bis 17. Mai. www.azw.at

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: