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Mehr als Woh­nen
Der Standard

Bau­grup­pen­pro­jek­te, Mehr­ge­ne­ra­tio­nen­mo­del­le, res­sour­cen­scho­nen­des Bau­en, leist­ba­res Woh­nen: Seit Jahr­zehn­ten prak­ti­ziert Fritz Mat­zin­ger das, was heu­te en vo­gue ist. Ein Ge­spräch zu sei­nem 75. Ge­burts­tag.

9. Juli 2016 - Reinhard Seiß
Stan­dard: Herr Mat­zin­ger, war das Bun­des­denk­mal­amt schon hier? So ei­nen Ka­non an Far­ben, For­men und Ma­te­ria­li­en aus den 70er-Jah­ren wie in Ih­rem Haus fin­det man heu­te nur noch sel­ten.

Mat­zin­ger: Hier her­in­nen ist noch al­les ori­gi­nal. Aber die Fass­aden wur­den von vie­len Mit­be­wohn­ern im Zu­ge wär­me­tech­ni­scher Sa­nie­run­gen ver­än­dert. Von den bul­lau­ge­nar­ti­gen Fens­tern aus Kunst­stoff­glas bei­spiels­wei­se sind nur noch we­ni­ge üb­rig­ge­blie­ben. Ich freue mich aber viel mehr, wenn Be­su­cher kom­men, die das 41 Jah­re al­te Haus als im­mer noch gül­ti­ges Mo­dell für ei­ne an­de­re Form des Woh­nens be­sich­ti­gen.

Stan­dard: Das heißt, ob­wohl seit Ih­rem Pro­to­typ hier in Leon­ding 35 wei­te­re Bau­ten ent­stan­den, ist das Kon­zept des Atri­um­hau­ses bis heu­te un­ver­än­dert?

Mat­zin­ger: Es gleicht kei­nes dem an­de­ren, al­lein schon, weil je­de Bau­grup­pe, mit der ich pla­ne, ganz ei­ge­ne Vor­stel­lun­gen hat. Im Kern fol­gen aber al­le Häu­ser der­sel­ben Idee. Ich grup­pie­re durch­schnitt­lich acht zwei- bis drei­ge­scho­ßi­ge Wohn­ein­hei­ten um ei­nen ge­mein­sa­men, cir­ca 200 Qua­drat­me­ter gro­ßen Hof. Den nut­zen die Be­woh­ner zum Spie­len, zum Gril­len, für Kon­zer­te, Fes­te, Kin­der­ge­burts­ta­ge oder auch als er­wei­ter­tes Wohn­zim­mer und Win­ter­gar­ten. Das Atri­um hat ei­ne Fuß­bo­den­hei­zung und ist bei Schlecht­wet­ter durch ein Glas­dach ge­schützt. Un­se­re An­la­ge hier be­steht aus zwei sol­chen Wohn­hö­fen, die ich durch ein Schwimm­bad ver­bun­den ha­be. Auch von dort kann man di­rekt hin­aus in den gro­ßen ge­mein­schaft­li­chen Gar­ten, der sich rund um die bei­den Häu­ser er­streckt.

Stan­dard: Über die Atrien er­folgt auch der Zu­gang zu den Woh­nun­gen.

Mat­zin­ger: Das ist so­gar das Wich­tigs­te da­ran. Denn im­mer, wenn ein Be­woh­ner sei­ne ei­ge­nen vier Wän­de be­tritt oder ver­lässt, geht er über den Hof. Dort be­geg­net man sich au­to­ma­tisch und plau­dert kurz mit­ein­an­der, so wie frü­her am Dorf­platz. Und die­se nie­der­schwel­li­ge Kom­mu­ni­ka­ti­on möch­te ich för­dern. Sie ist die Ba­sis für ge­mein­sa­me Ak­ti­vi­tä­ten, aus de­nen sich Freund­schaf­ten oder auch ge­gen­sei­ti­ge Nach­bar­schafts­hil­fe wie von selbst er­ge­ben.

Stan­dard: Ist ge­mein­schaft­li­ches Woh­nen auch manch­mal be­en­gend?

Mat­zin­ger: Mei­ne Frau und ich le­ben seit 41 Jah­ren hier. Wir ha­ben noch von kei­nem un­se­rer Nach­barn ge­hört, dass er ei­nen so­zia­len Druck ver­spürt, für an­de­re da zu sein oder auch nur mit ih­nen re­den zu müs­sen. Aber es be­steht im Atri­um­haus so gut wie im­mer die Mög­lich­keit da­zu. Ich ha­be mich vor Jah­ren so­gar da­zu ent­schlos­sen, in ei­ner frei ge­wor­de­nen Woh­nung in un­se­rem Haus mein Bü­ro ein­zu­rich­ten. Das hät­te ich be­stimmt nicht ge­tan, wenn ich hier ei­ne En­ge emp­fin­den wür­de.

Stan­dard: Sie ha­ben das Atri­um­haus ur­sprüng­lich als kin­der­ge­rech­te Wohn­form ent­wi­ckelt. Die Erst­be­zie­her sind mitt­ler­wei­le aber Se­nio­ren.

Mat­zin­ger: Stimmt, mit dem Atri­um woll­te ich in er­ster Li­nie den Kin­dern die Ent­fal­tungs­mög­lich­keit ge­ben, die ih­nen der nor­ma­le Wohn­bau vor­ent­hält. Dort en­det ihr Ak­ti­ons­raum näm­lich an der Woh­nungs­tür. Wenn da­ge­gen acht oder mehr Fa­mi­li­en ge­mein­schaft­lich woh­nen und es ei­nen zen­tra­len Ort für die­se Ge­mein­schaft gibt, dann wird der für die Kin­der fast zum Le­bens­mit­tel­punkt, der im Grun­de so­gar den Kin­der­gar­ten er­set­zen könn­te. Bald hat sich her­aus­ge­stellt, dass die­ses Zu­sam­men­le­ben auch für Er­wachs­ene vie­le Vor­tei­le bie­tet: ge­teil­te Gar­ten­ar­beit, ge­teil­tes Schwimm­bad­put­zen, ge­gen­sei­ti­ges Ba­by­sit­ten, kei­ne Fahr­ten­dien­ste für Ju­gend­li­che, nur da­mit sie sich mit Gleich­al­tri­gen tref­fen kön­nen. Und je mehr Al­lein­er­zie­her es gibt, um­so wert­vol­ler ist es, Vie­les in der Haus­ge­mein­schaft vor­zu­fin­den. Wis­sen Sie, wie prak­tisch es ist, wenn Sie je­man­den im Atri­um tref­fen, der Ih­nen im Vor­beige­hen sagt, dass er kurz ein­kau­fen fährt, und Sie ihn bit­ten kön­nen, dass er Ih­nen ei­nen Li­ter Milch mit­nimmt?

Stan­dard: Vor al­lem im Al­ter …

Mat­zin­ger: Bei den Äl­te­ren mer­ke ich jetzt, dass sie ei­gent­lich die­sel­ben Be­dürf­nis­se ha­ben wie frü­her un­se­re Kin­der: Wer viel zu Hau­se und nicht mehr so mo­bil ist, braucht in sei­nem Um­feld Men­schen zum Re­den, zum Spie­len, um mit­ein­an­der Zeit zu ver­brin­gen. In­so­fern kann das Atri­um­haus auch das Pen­sio­nis­ten­heim er­set­zen. Wo­bei wir kei­ne Se­nio­ren­re­si­denz sind. Es wur­den über die Jah­re auch Woh­nun­gen neu be­legt oder an die Kin­der wei­ter­ge­ge­ben, so­dass wir hier eher ein Mehr­ge­ne­ra­tio­nen­haus ha­ben.

Stan­dard: Sie ha­ben Atri­um­häu­ser in Ober­ös­ter­reich, Nie­de­rös­ter­reich, Wien, Salz­burg und der Stei­er­mark, aber auch in Deutsch­land rea­li­siert – und über­all be­ste Kri­ti­ken er­hal­ten. Schu­le ge­macht ha­ben Sie da­mit aber nicht. Braucht Ihr Kon­zept Über­zeu­gungs­tä­ter wie Sie, oder könn­te es auch von der Bau­wirt­schaft über­nom­men wer­den?

Mat­zin­ger: Die üb­li­chen Wohn­bau­trä­ger, egal ob ge­werb­lich oder ge­mein­nüt­zig, ma­chen ih­re Ge­schäf­te mit Bli­ckrich­tung auf die Jah­res­bi­lanz, aber nicht mit Bli­ckrich­tung auf Neu­es, In­no­va­ti­ves und schon gar nicht auf die Woh­nungs­wer­ber. Sie ma­chen Wohn­flä­chen­pro­duk­ti­on, und da sind Kon­zep­te wie mei­ne nicht in­te­res­sant – da zäh­len nur die ver­markt­ba­ren Qua­drat­me­ter. Ar­chi­tek­ten wie­der­um dür­fen sich bei Bau­grup­pen­mo­del­len halt nicht als Künst­ler ver­ste­hen. Vie­le Kol­le­gen glau­ben, ih­re Ide­en nicht mehr um­set­zen zu kön­nen, wenn sie im Dia­log mit den Nutz­ern pla­nen. Da­bei ha­be ich die Er­fah­rung ge­macht, dass mei­ne Häu­ser durch die Ge­sprä­che mit den künf­ti­gen Be­wohn­ern im­mer bes­ser wur­den. Wen ich gern für ei­nen neu­en Wohn­bau ge­win­nen wür­de, das ist die Po­li­tik. Die müss­ten ja schon längst nach Al­ter­na­ti­ven zum frei ste­hen­den Ein­fa­mi­li­en­haus su­chen, wenn ich mir an­se­he, was die­se Sied­lun­gen al­les an Stra­ßen, tech­ni­scher Er­schlie­ßung und so­zia­ler Ver­sor­gung kos­ten und da­bei un­se­re Land­schaft zers­tö­ren.

Stan­dard: Die Po­li­tik gibt zu­min­dest vor, mit der För­de­rung von Bau­grup­pen oder ge­ne­ra­ti­ons­über­grei­fen­den Wohn­pro­jek­ten neue We­ge zu ge­hen.

Mat­zin­ger: Das sind aber nach wie vor Son­der­for­men, Aus­nah­men von der Re­gel, die bei uns heißt: Wohn­blö­cke in der Stadt und Ein­fa­mi­li­en­häu­ser am Land. In Deutsch­land und der Schweiz wer­den mitt­ler­wei­le gan­ze Stadt­tei­le von Bau­grup­pen ent­wi­ckelt.

Stan­dard: Viel­leicht müs­sen wir auch in die­sem Be­reich da­rauf hof­fen, dass die über­fäl­li­gen Ver­än­de­run­gen von der Be­völ­ke­rung aus­ge­hen. Se­hen Sie An­sät­ze da­zu?

Mat­zin­ger: Zwei­fel­los ma­chen sich die Woh­nungs­su­chen­den heu­te mehr Ge­dan­ken da­rü­ber, wie sie woh­nen wer­den, wenn sie ein­mal alt sind. Und die Fi­xie­rung aufs Ei­gen­tum ist bei den jun­gen Men­schen auch we­ni­ger aus­ge­prägt. Nicht al­les, was man nutzt, muss man be­sit­zen. Wenn die Kin­der in un­se­rem ge­mein­schaft­li­chen Gar­ten her­um­lau­fen, den­ken sie be­stimmt nicht da­ran, wem das Grund­stück ge­hört. Und ih­ren El­tern wird es auch zu­neh­mend egal.

Fritz Mat­zin­ger, geb. 1941 in OÖ; Ar­chi­tek­turs­tu­di­um an der TU Wien, ab 1971 Bü­ro in Linz, seit 1974 Ent­wi­cklung und Rea­li­sie­rung von Atri­um­häus­ern als ge­mein­schaft­li­che Wohn­form. Der Film „Häu­ser für Men­schen“ (R. Seiß, 125 Min.) por­trä­tiert u. a. Mat­zin­gers Wohn­baum­odell.

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