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„Wir sind in ei­ner Wohn­raum-Kri­se“
Der Standard

Die Wohn­bau­for­sche­rin Or­na Ro­sen­feld hielt ei­nen Vor­trag bei den Bau­kul­tur-Ge­sprä­chen in Alp­bach. Ih­re Bot­schaft: Woh­nen ist zu teu­er, die glo­ba­le Stadt ist nicht smart, die Schaf­fung von bil­li­gen Flücht­lings­woh­nun­gen wä­re ei­ne Idee.

10. September 2016 - Wojciech Czaja
Stan­dard: Wie viel Geld ge­ben Sie per­sön­lich fürs Woh­nen aus?

Ro­sen­feld: Un­ter­schied­lich! Ich bin kein ty­pi­sches Bei­spiel. Ich ha­be schon in vie­len Län­dern ge­lebt, da­run­ter et­wa in Groß­bri­tan­nien, Spa­nien, Un­garn, Ser­bien, Kroa­tien, in den USA und im Mitt­le­ren Os­ten. Der­zeit le­be ich in Frank­reich. Je nach Kul­tur­kreis und Im­mo­bi­lien­markt ha­be ich mich an­ge­passt, war mal Mie­te­rin, mal Ei­gen­tü­me­rin. Aber mit Si­cher­heit kann ich sa­gen: Ich bin de­fi­ni­tiv nicht so reich, dass ich mir in je­der Stadt, in der ich schon ge­wohnt ha­be, ei­ne Woh­nung hät­te kau­fen kön­nen.

Stan­dard: In Ih­rem Vor­trag beim Eu­ro­päi­schen Fo­rum in Alp­bach ha­ben Sie er­wähnt, dass es auf der Nord­halb­ku­gel seit der Fi­nanz­kri­se 2008 mehr als 100 Mil­lio­nen Men­schen gibt, die sich das Woh­nen kaum noch leis­ten kön­nen. Was heißt das ge­nau?

Ro­sen­feld: Die Zahl be­zieht sich auf die 56 Mit­gliedss­taa­ten der UN­ECE – der Uni­ted Na­ti­ons Eco­no­mic Com­mis­si­on for Eu­ro­pe. Da­zu zäh­len auch Nord­ame­ri­ka so­wie die ehe­ma­li­ge UdSSR. Und sie be­deu­tet: In die­sen 56 Län­dern gibt es mehr als 100 Mil­lio­nen Men­schen, die ge­zwun­gen sind, für das Woh­nen mehr als 40 Pro­zent ih­res Haus­halts­ein­kom­mens aus­zu­ge­ben. Das ist be­sorg­nis­er­re­gend.

Stan­dard: In der Re­gel rech­net man da­mit, dass ma­xi­mal ein Drit­tel des Ein­kom­mens fürs Woh­nen auf­ge­wen­det wer­den soll­te.

Ro­sen­feld: Das ist ein gu­ter Richt­wert. Oder, an­ders for­mu­liert: Wenn man das meis­te Geld für den Im­mo­bi­lien­sek­tor auf­wen­det, dann bleibt we­ni­ger üb­rig, um es in den an­de­ren Sekt­oren aus­zu­ge­ben. Das ist ei­ne ein­fa­che Mil­chmäd­chen­rech­nung. Das heißt al­so, dass die Aus­ga­ben für Es­sen, für Klei­dung, für Mo­bi­li­tät ex­trem re­du­ziert wer­den müs­sen. In Län­dern wie den USA bei­spiels­wei­se be­deu­tet es auch, dass we­ni­ger Geld für Bil­dung, Ver­si­che­run­gen und So­zi­al­leis­tun­gen zur Ver­fü­gung steht. Lang­fri­stig be­trach­tet ist das nicht nur ein Scha­den fürs In­di­vi­du­um, son­dern auch für die Wirt­schaft.

Stan­dard: Was ist mit den En­er­gie­kos­ten?

Ro­sen­feld: Dan­ke für den Hin­weis! Das ist ein enor­mer An­teil, der in vie­len Län­dern ste­tig wächst. In ei­ni­gen Wirt­schaf­ten, vor al­lem im Os­ten der UN­ECE-Re­gi­on, ha­ben sich die En­er­gie­kos­ten in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­dop­pelt bis ver­drei­facht.

Stan­dard: Was tun?

Ro­sen­feld: Wir soll­ten schleu­nigst da­rü­ber nach­den­ken, was wir tun kön­nen, um wie­der mehr frei­es Geld zum Ma­növ­rie­ren üb­rig zu ha­ben. Lon­don, wo die Durch­schnitts­mie­te weit über 2000 Eu­ro pro Mo­nat liegt, oder Pa­ris, wo man für ei­ne 25-Qua­drat­me­ter-Woh­nung 800 bis 1200 Eu­ro aus­gibt, sind kei­ne gu­ten Bei­spie­le.

Stan­dard: Und doch gel­ten die­se Städ­te als be­liebt und er­stre­bens­wert.

Ro­sen­feld: Die Wohn­prei­se in den glo­ba­len Städ­ten sind im letz­ten Jahr­zehnt mas­siv in die Hö­he ge­gan­gen. Das for­dert nicht nur nie­dri­ge­re Ein­kom­mens­schich­ten her­aus, son­dern mehr und mehr auch die Mit­tel­klas­se. Ei­nes der ex­trems­ten Bei­spie­le da­für ist Van­cou­ver. Da sind die Prei­se der­ma­ßen nach oben ge­klet­tert, dass es kaum noch Men­schen gibt, die sich dort ei­ne Woh­nung leis­ten kön­nen. In der Re­gel heißt es: Je mehr Ta­len­te ei­ne Stadt an­zu­zie­hen ims­tan­de ist, de­sto hö­her ih­re Po­si­ti­on im Ran­king. Das ist die For­mel für Er­folg. Van­cou­ver hat so vie­le Ta­len­te an­ge­zo­gen, dass die In­dus­trie da­rauf kaum noch rea­gie­ren kann. Ei­ne Stadt kann nicht smart sein, wenn die smar­ten Men­schen es sich nicht mehr leis­ten kön­nen, dort zu le­ben.

Stan­dard: Das klingt ziem­lich hoff­nungs­los.

Ro­sen­feld: Ja und nein. Ich sa­ge noch et­was zum Ja: In Lon­don war­ten 350.000 Men­schen drin­gend auf ei­ne leist­ba­re So­zi­al­woh­nung. In New York sind es 450.000 Men­schen und in Pa­ris 550.000. Und in Russ­land war­tet man durch­schnitt­lich 20 Jah­re, bis man vom Staat bei Be­darf ei­ne leist­ba­re So­zi­al­woh­nung zur Ver­fü­gung ge­stellt be­kommt. So viel zum The­ma der Aus­weg­lo­sig­keit. Doch das Gu­te ist: In je­der Kri­se – und in die­ser be­fin­den wir uns der­zeit oh­ne je­den Zwei­fel – lie­gen auch gro­ße Chan­cen.

Stan­dard: Wie wür­den Sie die Kri­se und die da­mit ver­bun­de­nen Chan­cen be­nen­nen?

Ro­sen­feld: Es man­gelt welt­weit an leist­ba­ren Woh­nun­gen. Die Mie­ten, die Hy­po­the­ken und die En­er­gie­kos­ten sind sehr teu­er. Lan­ge Jah­re hat­ten wir in den UN­ECE-Län­dern das Phä­no­men, dass der Ei­gen­tums­an­teil steigt, wäh­rend die Miet­woh­nun­gen stark zu­rück­ge­hen – vor al­lem in den post­so­zia­lis­ti­schen Län­dern im Os­ten. Ak­tu­ell be­fin­den wir uns in ei­nem Um­bruch, in dem die­se Ver­tei­lung völ­lig neu de­fi­niert wird. In vie­len Län­dern ver­sucht man, die Fol­gen der Pri­va­ti­sie­rung wie­der rück­gän­gig zu ma­chen. Die Wohn­märk­te er­fin­den sich ge­ra­de neu. Es könn­te sich vie­les än­dern. Das ist die Chan­ce.

Stan­dard: Kon­kre­ter?

Ro­sen­feld: Ge­nau das her­aus­zu­fin­den ist mein Job. Wir soll­ten die Ar­beit nicht un­ter­schät­zen. Fra­gen Sie mich in ein paar Mo­na­ten!

Stan­dard: Sie for­schen sehr in­ten­siv zu den UN­ECE-Län­dern. Wie steht Ös­ter­reich da?

Ro­sen­feld: Ös­ter­reich ist ein Schla­raf­fen­land, was die Leist­bar­keit und auch die Zu­gäng­lich­keit zu leist­ba­rem Wohn­raum be­trifft. Es hat ei­nes der be­sten So­zi­al­woh­nungs­sys­te­me der Welt. Das ist ein­zig­ar­tig.

Stan­dard: Ei­ne gro­ße Her­aus­for­de­rung in Ös­ter­reich ist die kurz­fri­sti­ge Schaf­fung von leist­ba­rem Wohn­raum für Flücht­lin­ge. Nie­de­rös­ter­reich ant­wor­tet da­rauf mit ei­nem bil­li­gen Stan­dard-Wohn­mo­dul, das 800-mal ko­piert und quer über das gan­ze Bun­des­land ver­streut wer­den soll. Bau­start ist im Jän­ner.

Ro­sen­feld: Es ist ein Zei­chen hu­ma­ni­tä­rer Qua­li­tät, dass es mög­lich ist, in­ner­halb von zwölf bis 18 Mo­na­ten ein der­art um­fang­rei­ches Pro­jekt zu ma­chen und bis zur Schlüs­sel­fer­tig­keit zu rea­li­sie­ren. Hier sind Tem­po und Ef­fi­zienz ge­fragt. Ich ken­ne das kon­kre­te Nie­de­rös­ter­reich-Pro­jekt nicht im De­tail, aber in man­chen Si­tua­tio­nen ist ei­ne ra­sche Not­maß­nah­me viel­leicht wich­ti­ger als ei­ne per­fek­te, nach­hal­ti­ge Ar­chi­tek­tur, die viel Zeit in An­spruch nimmt und letz­tend­lich auch be­dingt, dass die Men­schen um­so län­ger in Flücht­lings­hei­men und Not­quar­tie­ren aus­har­ren müss­ten. Ich war­ne da­vor, sich in so ei­ner Aus­nah­me­si­tua­ti­on ein vor­schnel­les Ge­samt­ur­teil zu bil­den, oh­ne dies in ei­nem – auch zeit­li­chen – Ge­samt­kon­text zu be­trach­ten.

Stan­dard: Das heißt?

Ro­sen­feld: Wir be­fin­den uns in ei­ner welt­wei­ten Ge­samt­kri­se. Es man­gelt mas­siv an Wohn­raum. Und im Ge­gen­satz zum vor­herr­schen­den Irr­glau­ben wis­sen wir aus un­se­rer For­schungs­ar­beit: Nicht die Flücht­lings­wel­len der letz­ten zwei Jah­re sind schuld da­ran, dass wir zu we­nig Wohn­raum ha­ben, son­dern die Nach­we­hen der Welt­fi­nanz­kri­se, die wir al­le nicht ernst ge­nug ge­nom­men ha­ben – und wenn, dann zu spät.

Stan­dard: An wen rich­tet sich die­se Kri­tik?

Ro­sen­feld: Feh­ler sind pas­siert. Es ist un­mög­lich, auf ir­gend­je­man­den mit dem Fin­ger zu zei­gen. Die Kri­se ist nicht die rich­ti­ge Zeit, um zu kri­ti­sie­ren. Die Kri­se ist die rich­ti­ge Zeit, um ge­mein­sam Lö­sun­gen zu fin­den.

Stan­dard: Zum Bei­spiel?

Ro­sen­feld: Ei­ne er­ste Lö­sung wä­re, den Be­griff „Pro­blem“ durch „Her­aus­for­de­rung“ zu er­set­zen. Pro­ble­me sind da­zu da, den Kopf in den Sand zu ste­cken. Her­aus­for­de­run­gen je­doch wol­len ge­meis­tert wer­den. Hier ist die Po­li­tik ge­for­dert. Das ist viel­leicht nur ein er­ster Trop­fen auf den hei­ßen Stein. Und doch er­öff­net sich da­durch ei­ne voll­kom­men neue Welt.
Or­na Ro­sen­feld (41) ist aus­ge­bil­de­te Ar­chi­tek­tin und plan­te zu Be­ginn ih­rer Kar­rie­re mehr als 6000 Woh­nun­gen. Seit 15 Jah­ren ar­bei­tet sie als un­ab­hän­gi­ge Wohn­bau­ex­per­tin, u. a. für die Welt­bank so­wie für die UN-Wirt­schafts­kom­mis­si­on UN­ECE in Brüs­sel und Genf. Sie un­ter­rich­tet an der West­mins­ter Uni­ver­si­ty in Lon­don und forscht zu Wohn­bau­fra­gen an der Scien­ces Po in Pa­ris.

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