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Staatsbürger, wacht auf!
Der Standard

Wem gehört die Stadt? Warum nicht uns allen? Der Belgier Tom Avermaete, zurzeit Gastprofessor an der Wiener Hochschule für Bildende Kunst, erklärt, warum man kein Kommunist sein muss, um das Gemeingut gut zu finden.

14. Januar 2017 - Maik Novotny
Standard: Die Vortragsreihe zu Ihrer Gastprofessur in Wien haben Sie dem Phänomen der „Commons“, des Gemeinguts, gewidmet. Was verstehen Sie darunter?

Avermaete: Der Begriff kommt ursprünglich aus der Landwirtschaft. Schon im Mittelalter haben sich die Bauern einen Teil des Landes, die Allmende, geteilt und deren Nutzung verhandelt. Die amerikanische Politologin Elinor Ostrom hat den Begriff im 20. Jahrhundert erweitert, im Sinne von gemeinsamen Ressourcen, die wir alle teilen. Ich finde es einen faszinierenden Ansatz, auch Stadt und Architektur unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten.

Standard: Das heißt, es geht um den gemeinsamen Raum?

Avermaete: Ja, aber in sehr umfassendem Sinne. Es gibt drei Aspekte des Gemeinguts: gemeinsame Ressourcen, gemeinsame Regeln im Umgang mit den Ressourcen und die Praxis ihrer Nutzung. Dies können materielle Ressourcen wie Steine, Holz und Ziegel sein oder immaterielle Ressourcen wie kulturelle Praktiken. Also alles, was die Stadt ausmacht.

Standard: Kommt es dabei nicht auch darauf an, wem der Grund und Boden gehört?

Avermaete: Grundbesitz ist ein sehr wichtiger Aspekt. Wenn man die Stadtgeschichte des letzten Jahrhunderts betrachtet, gab es eindeutig zwei Hauptakteure: einen starken Wohlfahrtsstaat, vor allem in Europa, und die Investoren des freien Markts, vor allem am Ende des 20. Jahrhunderts. Aber es gibt auch noch eine dritten Art des Agierens, nämlich den kollektiven Besitz, eine direkte Auseinandersetzung mit der Stadt.

Standard: Das heißt, es geht darum, etwas verändern zu können?

Avermaete: Ja, aber vor allem durch eine starke Zugehörigkeit zu einem Ort. Ich sehe das Gemeingut auch nicht als Gegensatz zum Wohlfahrtsstaat oder zu den Märkten. Ich bin ja kein Antikapitalist! Aber der Wohlfahrtsstaat agiert oft sehr bürokratisch. Das Gemeingut ist eine Möglichkeit, die Ressourcen der Stadt näher zu den Menschen zu bringen, die mit ihnen zu tun haben.

Standard: Städte haben in den letzten Jahren wieder verstärkt auf Partizipation und Bürgerbeteiligung gesetzt. Ist es das, was Sie unter Gemeingut verstehen?

Avermaete: Manche dieser Prozesse waren sehr erfolgreich. Das Problem ist aber, dass sie oft von starken staatlichen oder privatwirtschaftlichen Akteuren initiiert oder missbraucht werden. Die Stadt als Gemeingut versteht sich dagegen mehr als Bottom-up-Prozess. In den Niederlanden gibt es einige solcher Projekte, die von Bürgern initiiert wurden und in denen der Staat nur mehr eine begleitende Funktion hat.

Standard: Welche Projekte sind das?

Avermaete: Oft solche, die aus einer Situation entstehen, in der die normale Investorenlogik nicht greift. Zum Beispiel der Luchtsingel in Rotterdam: eine vernachlässigte Gegend im Stadtzentrum, für die es große Pläne gab, Hotels und Casinos. Dann kam die Finanzkrise, und die Pläne wurden begraben. Dafür wurde das Areal von den Bürgern entdeckt. Es gab einen Ideenwettbewerb und eine Initiative mit Teilnehmern aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Heute verbindet das Projekt mehrere Stadtviertel, aber begonnen hat es ganz einfach: mit einer Treppe, einer neuen Passage durch ein Gebäude. Eine Verhandlung zwischen Grundeigentümern, Anrainern, der Bahn. Es war nicht alles von vornherein geplant.

Standard: Besteht dabei nicht die Gefahr, dass dabei ein Sammelsurium von Ideen herauskommt?

Avermaete: Kollektive Planung heißt nicht, dass egal ist, wie es aussieht. Wenn Sie sich das heute anschauen, ist alles entworfen, und zwar sehr sorgfältig. Ein anderes Beispiel ist De Ceuvel in Amsterdam. Ein Industriegebiet mit Altlasten im Boden, das kein Investor anrühren wollte. Dort haben Experten, Architekten, Ingenieure und andere sich zusammengetan, um ein Projekt zu entwickeln. Heute gibt es ein Café und Büros in alten Hausbooten und ein preisgekröntes ökologisches Gesamtkonzept. Diese Initiativen sind alle noch klein, aber ich glaube, es könnte auch in größerem Maßstab funktionieren.

Standard: Heute, acht Jahre nach der Krise, sind die Investoren präsenter denn je, und der Druck auf den Immobilienmarkt ist enorm. Gibt es überhaupt noch Platz für solche Initiativen?

Avermaete: Nicht im Mainstream natürlich. Aber sie kündigen eine neue und vor allem langfristige Art an, über die Stadt nachzudenken. Der Immobilienmarkt hat einen Horizont von 20 oder 30 Jahren. Aber in Gemeingutprojekten können sich Gruppen etablieren, die sich dauerhaft um einen Ort in der Stadt kümmern.

Standard: Das klingt ein bisschen nach dem heute oft gehörten Slogan „Wir haben genug von Experten“. Welche Rolle spielen Fachleute wie Architekten in Ihrem Szenario?

Avermaete: Wir werden immer Experten brauchen, aber in einer anderen Rolle. Nicht als Allwissende, die Pläne verordnen, sondern als Teilnehmer von Dialogen und Verhandlungen.

Standard: Architektur als Prozess?

Avermaete: Das klingt mir ein bisschen zu sehr nach den späten 1960er-Jahren, als die Architekten Sozialarbeiter wurden und nur noch auf Versammlungen vor Pinnwänden herumgestanden sind.

Standard: Aber das Ende der bombastischen Stararchitektur würden Sie trotzdem gerne einläuten?

Avermaete: Alle Städte brauchen Denkmäler und Museen. Aber in den letzten 20 Jahren ist die Architektur ein bisschen vom Kurs abgekommen. Es geht nur noch um große Gesten. Heute fragen wir uns: Was kommt jetzt? Ich denke, das Teilen von Ressourcen könnte eine Antwort sein. Es gibt überall schon Experimente in dieser Richtung, etwa die Baugruppen in Wien oder Berlin. Ich bin neugierig, ob die IBA 2022 in Wien diese Ansätze aufnehmen wird. Wien hat schließlich eine lange Tradition des Gemeinguts, nur eben meistens von oben organisiert. Ich glaube, das funktioniert auch, wenn die Bürger nicht nur Empfänger sind.

Standard: Sie forschen mit Ihren Studenten immer wieder in Städten in Afrika oder Indien. Wie hat das Ihre Idee des Gemeinguts beeinflusst?

Avermaete: Die Bürger auf der südlichen Hemisphäre haben im Gegensatz zu uns nicht verlernt, wie man in die gebaute Umgebung eingreift. Im Zentrum der Millionenstadt Casablanca zum Beispiel werden die Häuser ständig umgebaut und verändert. Die Bürger haben das Selbstvertrauen und die Fähigkeiten, um ihre Stadt zu verändern. Wir im Norden haben es anderen überlassen, sich um die Stadt zu kümmern, und sind passive Bürger geworden.

Standard: Unsere Normen und Gesetze würden solche spontanen Umbauten auch viel schwieriger machen.

Avermaete: Natürlich. Aber unsere Wohlfahrtsstaaten haben eben bisher auch nicht viel Initiative zugelassen. Sicher, es wird hier und da gegen Großprojekte demonstriert, aber das ist eher ein rhetorischer Protest, keine eigenmächtige Veränderung.

Standard: Sie plädieren also für „weniger Staat“ in der Stadt?

Avermaete: Überhaupt nicht! Es würde schon genügen, dass der Staat den Menschen vertraut. Wenn diese sich für ihr Umfeld verantwortlich fühlen, lassen sich auch viel mehr Probleme lösen. Manche Städte geben den Bürgern schon ein Budget, etwa um eine Straße oder einen Platz umzugestalten. Einer Stadt wie Wien könnte ein solcher kollektiver Ansatz nur gut tun.
Tom Avermaete, 1971 in Belgien geboren, ist Professor an der TU Delft (Niederlande) und hat im Jahr 2016/17 die Stiftungsprofessur für die Erforschung visionärer Formen der Stadt („Stadtkultur und öffentlicher Raum“) an der Wiener Hochschule für Bildende Kunst inne.

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