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„Diese verdammte Küche!“
Der Standard

Die Wiener Architektin und Widerstandskämpferin Margarete Schütte-Lihotzky setzte sich ihr Leben lang für eine soziale und menschenwürdige Welt ein. Zum 120. Geburtstag wird nun ihrer gedacht.

21. Januar 2017 - Wojciech Czaja
Kommen Sie rein, kommen Sie rein!“ Kaum ist die Wohnungstür geöffnet, ist die 100-jährige Margarete bereits in der Küche verschwunden. „Nehmen Sie schon mal Platz, ich bin gleich da.“ Wenig später kommt sie mit einem Tablett mit Kaffee und Kuchen ins Wohnzimmer getrappelt. „Wo sind Sie denn? Ich sehe ja fast nichts mehr.“ Setzt sich aufs Sofa, schnauft einmal durch und legt los. „Nun sagen Sie! Was wollen Sie denn wissen?“

Margarete Schütte-Lihotzkys wechselhaftes Leben überdauerte ein Jahrhundert. 1897 geboren, 2000 im Alter von stattlichen 103 Jahren verstorben, gilt sie bis heute als unangefochtener Mythos der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die Nachschlagewerke rühmen sie als „erste Architektin Österreichs“, als „Pionierin der sozialen Architektur“, als „Erfinderin der Frankfurter Küche“, als „Aktivistin der Frauenbewegungen“, als „Heldin des Widerstands gegen die Nazi-Diktatur“. Morgen, Sonntag, wird sie anlässlich ihres 120. Geburtstags mit einer Lesung im Wiener Filmcasino geehrt.

Die Architektin, Stadtplanerin und Widerstandskämpferin Schütte-Lihotzky ist mit Adolf Loos, Béla Bártok und Max Reinhardt befreundet. Sie arbeitet in Wien und Frankfurt, wo sie sich vor allem im sozialen Wohnbau engagiert, in Rotterdam, Paris, Sofia, Moskau und Magnitogorsk. Sie unternimmt Reisen nach Chicago, nach Japan und nach China, wo sie für das chinesische Unterrichtsministerium Richtlinien für den Bau von Kindergärten erstellt. 1939 wird sie an die Académie des Beaux Arts nach Istanbul berufen.

„Es war schön“, sagt sie im Interview. „Ich habe Herbert Eichholzer kennengelernt und mich seiner antifaschistischen Widerstandsgruppe angeschlossen. Doch ich konnte dort einfach nicht bleiben.“ In ihren 1985 erschienenen Erinnerungen aus dem Widerstand schreibt sie dazu: „Oft fragten mich nach 1945 verschiedenste Leute, auch solche, die keineswegs Nazis waren, warum ich denn aus dem sicheren Ausland nach Wien gefahren bin. Immer wieder empört mich diese Frage, immer wieder bin ich entsetzt über die mir so fremde Welt, in der diese Frage überhaupt eine Frage ist.“

Nach nur wenigen Wochen in Wien, wo sie im Untergrund gegen das Nazi-Regime zu kämpfen beginnt, wird Schütte-Lihotzky verhaftet. Sie wird ins Gestapo-Hauptquartier am Morzinplatz gebracht. Sie wird verhört, geschlagen und gefoltert. Nach einigen Monaten in der Gefängniszelle muss sie sich vor dem Berliner Volksgericht verantworten. „Endlich betraten die Mitglieder des Volksgerichtshofes den Saal. Es waren sieben Gestalten, wie sie für einen Film nicht hätten typischer ausgewählt werden können“, schreibt sie in ihren Memoiren. „Hinter diesen gespenstischen Gestalten prangte ein großes Hitlerbild.“

Schütte-Lihotzky wird zu Tode verurteilt. Der Enthauptung, die ihren Kollegen widerfahren ist, entkommt sie nur knapp, indem ihr Mann Wilhelm Schütte im türkischen Unterrichtsministerium in Ankara für sie einen Arbeitsvertrag mit Briefpapier und Stempel fälscht. Nachdem das Nazi-Deutschland damals um die Gunst der neutralen Türkei buhlte, wird Schütte-Lihotzkys Todesurteil zu 15 Jahren Zuchthaus umgewandelt. „Eine Lebensrettung aus lauter glücklichen Umständen und Zufällen. Wäre ein einziger dieser Umstände ausgefallen … ich wäre seit Jahrzehnten tot.“

Margarete Schütte-Lihotzky sitzt auf der Couch, erzählt aus ihrem Leben, nimmt einen Schluck Kaffee. Über ihre unzähligen Wohnbauten und Kindergärten in Deutschland und Russland, über ihre Tätigkeit in Kuba, in der DDR sowie für die Uno, über die ihr aufgrund ihrer kommunistischen Vergangenheit entgegengebrachte Ignoranz im Österreich der Nachkriegsjahre spricht sie wenig. Die stets mit ihr in Verbindung gebrachte Frankfurter Küche jedoch, die mit ihren kurzen Wegen, ausgewählten Materialien und wohl überlegten Handgriffen den Alltag vieler Frauen revolutionierte und die in den Frankfurter Wohnsiedlungen der späten Zwanzigerjahre rund 10.000 Mal gebaut wurde, erwähnt sie mit keinem einzigen Wort.

Die unausweichliche Frage. Es muss sein. Wie sind Sie eigentlich damit umgegangen, dass Ihre Arbeit so oft auf die Frankfurter Küche reduziert wird? Das beschwingte und beredte Lächeln erstarrt. Kurz wird der Kopf geschüttelt. Dann wird lauter Ärger in die Stimme gepresst: „Wenn ich gewusst hätte, dass alle immer nur davon reden, hätte ich diese verdammte Küche nie gebaut!“ Schweigende Sekunden der Reue.

„Margarete Schütte-Lihotzky war nicht nur eine großartige und unverzichtbare Architektin“, sagt die Wiener Schauspielerin Katharina Stemberger, „sondern vor allem auch eine Pionierin im Widerstand gegen böse Kräfte. Sie war frei von jedem Dogma und hat mit Mut und Vitalität in die Zukunft geblickt – auch in solchen Momenten, wo es für sie kaum noch eine Zukunft zu geben schien.“ Stemberger wird am morgigen Sonntag aus Schütte-Lihotzkys Memoiren lesen. Die Jubiläumsveranstaltung geht auf eine Initiative der Bezirksvertretung Margareten zurück.

„Angesichts der politischen Situation, die heute in vielen Teilen der Erde zu beobachten ist und die die Demokratie mehr und mehr zu untergraben droht“, so Stemberger, „ist Schütte-Lihotzkys Erbe hochaktuell. Die Nationalstaatlichkeit blüht, der Rassismus und Rechtsextremismus nimmt zu, und wenn ich mir die weltweit zynischen Ungenauigkeiten über angebliche Wirtschaftsmigration ansehe, die vor laufender Kamera breitgetreten werden, dann komme ich aus dem Speiben nicht mehr heraus.“

Wie dereinst die Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky, meint Stemberger, müsse uns klar werden, dass wir alle einen aktiven und realen Beitrag für jene Welt leisten müssen, in der wir leben wollen. „Das ist in nur wenigen Köpfen und Herzen angekommen. Die neoliberale Biedermeier-Blase, in der wir heute leben, wird bald platzen.“

„Und jetzt? Zum 120. Geburtstag von Margarete Schütte-Lihotzky“, Sonntag, 22. Jänner, um 11 Uhr. Begleitet wird die Veranstaltung von Kurzdokus (Robert Rotifer, Uwe Bolius, Robert Angst) und Musik (Maren Rahmann). Filmcasino, Margaretenstraße 78, 1050 Wien.

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