Eine Kathedrale des 21. Jahrhunderts

Fünfzig Jahre nach ihrem Wiederaufbau durch Hans Schwippert muss die St.-Hedwigs-Kathedrale in Berlin saniert werden. Doch die Denkmalpflege wendet sich gegen eine Neufassung des Sakralraums.

Jürgen Tietz
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Baustein der Stadtgeschichte – die St.-Hedwigs-Kathedrale soll im Innern umgebaut werden. (Bild: Walter Wetzler)

Baustein der Stadtgeschichte – die St.-Hedwigs-Kathedrale soll im Innern umgebaut werden. (Bild: Walter Wetzler)

Ausgerechnet im einst vorwiegend protestantisch geprägten Berlin, das heute mit seinen weit gefächerten Bekenntnissen von atheistisch über christlich, jüdisch bis islamisch ein Abbild der pluralistischen Glaubensvielfalt abgibt, ist eine Diskussion um die künftige Gestalt der katholischen Hauptkirche der Stadt, St. Hedwig, entbrannt. Es ist ein Streit, der im Kern die Frage nach einer Kathedrale des 21. Jahrhunderts in sich trägt. Am Bebelplatz in Berlin Mitte gelegen, ist die St.-Hedwigs-Kirche ein zentraler Baustein der Stadtgeschichte. Das römische Pantheon schwebte ihrem Bauherrn Friedrich II., dem Grossen, als Referenz vor. Zusammen mit dem angrenzenden Opernhaus und der Bibliothek sollte die katholische Kirche sein «Forum Fridericianum» bilden, einen Prachtplatz, mit dem er die spätbarocke Neuordnung und dringend gewünschte Nobilitierung seiner märkischen Residenzstadt vorantrieb. Den Entwurf für den Zentralbau mit vorgesetztem Portikus lieferte Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff mit Jean Laurent Legeay. Im Jahre 1747 fand die Grundsteinlegung statt, doch bis zur Weihe der neuen Kirche – noch ohne die bekrönende Laterne – gingen mehr als 25 Jahre ins Land.

Wandel und Wiederaufbau

Inzwischen hatte Friedrich II. seine leidenschaftliche Bautätigkeit ins idyllische Potsdam verlagert, worunter das Interesse an seinen Berliner Projekten litt. Im 19. Jahrhundert wurde die Kirche durch kleinere bauliche Eingriffe leicht modifiziert. Doch erst im Zusammenhang mit der Ernennung Berlins zum eigenständigen Bistum 1930 erfolgte eine deutliche Umgestaltung des Kircheninneren durch Clemens Holzmeister, einen der bedeutendsten Vertreter der österreichischen Moderne. Holzmeisters Umbauten betrafen vor allem den Altarbereich, der nun durch eine niedrige Mauer vom übrigen Kirchenraum abgetrennt wurde. Doch diese Veränderungen gingen bei der Zerstörung des Innenraums 1943 zusammen mit der historischen Kuppel vollständig verloren. Nach der Wiederherstellung der äusseren Form der Kirche – ohne die Laterne auf der Kuppel – erhielt der Rheinländer Hans Schwippert (1899–1973) im Jahr 1955 den Auftrag zum Innenausbau des Sakralraums, der nun im sowjetisch beherrschten Ostteil der geteilten Stadt lag.

Hans Schwippert, Schüler des grossen katholischen Kirchenbaumeisters Rudolf Schwarz, bei dem er 1929/30 an der Ausstattung der berühmten Fronleichnamskirche in Aachen mitwirkte, erlangte bundesweite Bekanntheit als Architekt des inzwischen längst entsorgten Plenarsaals des Deutschen Bundestages in Bonn. Eine umfangreiche Monografie, die jüngst im Berliner Jovis-Verlag erschienen ist, würdigt Schwippert als einen Moderator des Wiederaufbaus, der für eine gemässigt moderne Architektur stand. In Ostberlin untersuchte der westdeutsche Architekt mehrere Raumlösungen und baute sie als 1:1-Modelle in der Kirche auf. In seiner 1963 geweihten Variante löste er den Altar von der Rückwand und zog ihn stattdessen auf eine runde Altarinsel vor. Davor placierte er eine grosse kreisförmige Öffnung im Boden.

Über eine breite Treppe bietet diese Öffnung einen Zugang zur Krypta, die einen Kranz von Kapellen aufnimmt. Ober- und Unterkirche sollten durch den Altar «verklammert» werden. Das Ergebnis seiner Intervention war eine einmalige Raumschöpfung – ohne unmittelbare Vorbilder und ohne Nachfolge. Denn so ungewöhnlich Schwipperts Raumgedanke war, der eine senkrechte Achse vom Oberlicht der Kuppel über den Kirchenraum bis in die Unterkirche konstruiert, so erzeugt dieser zwangsläufig eine erhebliche räumliche Distanz zwischen den Gottesdienstbesuchern. Sie sind um die weite Bodenöffnung gruppiert, die von einigen Gemeindemitgliedern in Berlin etwas despektierlich auch als «katholische Tiefgarage» ironisiert wird.

Das Innenraum-Modell der St.-Hedwigs-Kathedrale veranschaulicht das unterbreitete Umgestaltungsprojekt. (Bild: Walter Wetzler)

Das Innenraum-Modell der St.-Hedwigs-Kathedrale veranschaulicht das unterbreitete Umgestaltungsprojekt. (Bild: Walter Wetzler)

Diesen Mangel hinsichtlich der liturgischen Praxis beklagte der Berliner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki, der mittlerweile Berlin verlassen hat und Erzbischof in seiner Heimatstadt Köln ist. Da die St.-Hedwigs-Kirche ohnehin einer Grundsanierung bedurfte, regte er an, im Rahmen eines Architektenwettbewerbs über eine Neufassung des Raumes nachzudenken. Im Sommer 2014 wurde der von den Fuldaern Peter Sichau und Hartmut Walter zusammen mit dem Wiener Künstler Leo Zogmayer erarbeitete Entwurf mit klarer Mehrheit mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Ihr Projekt geht davon aus, die Öffnung in der Kirchenmitte zu schliessen. Eine Entscheidung, die heftigen Protest bei der Berliner Denkmalpflege hervorrief, deren Votum im Preisgericht deutlich unterlegen war.

Neuordnung des Innenraums

Der Entwurf von Sichau, Walter und Zogmayer umfasst vier Teile. Die Umgestaltung der Kirche in einen Ort der «grossen Liturgie», die Sakramentskapelle als Ort der Andacht und des Gebets, die Umgestaltung der Unterkirche zum Ort der (Ganzkörper-)Taufe sowie die Sanierung des angrenzenden Lichtenberghauses, das um einen Neubau ergänzt werden soll. Damit kommt dem Entwurf der Fuldaer Architekten auch ein wichtiger städtebaulicher Aspekt zu, der die derzeitige Hinterhof-Situation an der Rückseite der Kathedrale entscheidend aufwerten würde.

Zentraler Aspekt ihrer Arbeit aber ist die gemeinsam mit Leo Zogmayer entwickelte Idee der Neuordnung des Innenraums von St. Hedwig. Dafür haben sie die radikalste, aber letzten Endes einzig gangbare Lösung gewählt, indem sie den Altar unter dem Oberlicht in der Mitte des Raumes placieren. Mit seiner Form als «leicht modifizierte Halbkugel» würde er der hohen Kuppelschale als Gegenstück unmittelbar antworten. Die Gläubigen sollen auf einzelnen Stühlen in weiten Kreisen um dieses geistige wie geistliche Zentrum der Kirche gesetzt werden. In einer Achse mit dem Altar steht der kubische Ambo, so positioniert, dass alle Gottesdienstteilnehmer ihn von vorne sehen.

Beim Innenausbau der kriegszerstörten und 1963 neu geweihten St.-Hedwigs-Kathedrale realisierte Hans Schwippert in der Kirchenmitte vor dem Altarbereichfür eine grosse kreisförmige Öffnung, durch die eine Treppe hinab zur Krypta führt. (Bild: Walter Wetzler)

Beim Innenausbau der kriegszerstörten und 1963 neu geweihten St.-Hedwigs-Kathedrale realisierte Hans Schwippert in der Kirchenmitte vor dem Altarbereichfür eine grosse kreisförmige Öffnung, durch die eine Treppe hinab zur Krypta führt. (Bild: Walter Wetzler)

Schon Schwippert hatte mit Blick auf die damalige Neugestaltung von St. Hedwig festgestellt: «Wie immer in zentralen Räumen dieser Art tendiert im Grunde ein Altar zur Raummitte.» Letztlich aber zögerte er, diese radikale Raumidee konsequent umzusetzen, da er eine «überbetonte Mitte» fürchtete. Die Forderung, die Prinzipalien, allen voran den Altar, vom Chor in den Laienraum zu rücken, war ein zentrales Anliegen der «Liturgischen Bewegung» in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Sie strebte mit einer Reform der katholischen Liturgie auch eine Reform des Sakralraums an – hin zu einer neuen christlichen Gemeinschaft. So plädierte der katholische Theologe Johannes van Acken in den 1920er Jahren dafür, dass der Altar als «mystischer Christus» Ausgangspunkt und Mittelpunkt des Kirchenbaus und der Kirchenausstattung sein müsse. Schwippert griff diese Idee eines «Communio-Raumes» mit mittig angeordnetem Altar, um den die Gläubigen sich ringförmig gruppieren, bereits 1926 in seinem Idealentwurf «Pfarrkirche 1» auf. Daher verwundert es nicht, dass der erfahrene Kirchenarchitekt und späte Rudolf-Schwarz-Schüler Dieter G. Baumewerd, der zudem Mitglied des Preisgerichts für St. Hedwig war, den Entwurf von Sichau, Walter und Zogmayer als eine konsequente Weiterentwicklung des Entwurfs von Schwippert lobt.

Tatsächlich ist ihre Arbeit für die St.-Hedwig-Kathedrale nicht nur tief in der katholischen Kirchenbaudiskussion des letzten Jahrhunderts verankert. Vielmehr bietet sie eine wegweisende Lösung auf dem Weg zu einer Kathedrale des 21. Jahrhunderts. Mit ihr wird die tätige Teilhabe der Gläubigen, die das Zweite Vatikanische Konzil einfordert, konsequent räumlich und künstlerisch umgesetzt. Der Altar, der «mystische Christus», bildet das Zentrum des Ritus. Diese Positionierung im Raum fordert tatsächlich eine hohe Feierkompetenz der Priester und der Gemeinde. Doch gerade in dieser Herausforderung drückt sich das ernsthafte Ringen um eine christliche Gemeinschaft der Gläubigen aus. Es sendet an hervorgehobener Stelle der deutschen Hauptstadt ein starkes Signal in eine zunehmend profanierte Gesellschaft, für die die neue Architektur von St. Hedwig einen Rahmen eröffnen würde.