Formenzauber unter Kokospalmen

Vor dreissig Jahren als Gesamtkunstwerk des Art déco zu neuem Ruhm gekommen, hat Miami Beach aufgrund des jüngsten Booms viel Charme eingebüsst. Nun feiert die Ferienstadt ihr Hundertjahrjubiläum.

Roman Hollenstein
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Tropisch anmutende Farben und Formen bestimmen die Art-déco-Architektur von Miami Beach wie bei diesem besonders bunten Haus an der Collins Avenue ganz im Norden von South Beach. (Bild: Roman Hollenstein)

Tropisch anmutende Farben und Formen bestimmen die Art-déco-Architektur von Miami Beach wie bei diesem besonders bunten Haus an der Collins Avenue ganz im Norden von South Beach. (Bild: Roman Hollenstein)

Früher war alles besser: zumindest auf dem Ocean Drive in Miami Beach. Inmitten schöner Leute, die von Modefotografen entdeckt zu werden hofften, konnte man hier vor 30 Jahren noch auf den Veranden der Art-déco-Hotels an einem Glas Chardonnay nippen und durch die Kokospalmen hinaus auf den Atlantik blinzeln. Mit wenig Geld liess es sich damals gut leben in Häusern, deren pastellfarbener Stuck ähnlich brüchig war wie die Schminke der nach ihrer Flucht langsam gealterten Kubanerinnen. Das alles kümmerte die betagten Juden aus New York, die in «God's waiting room» auf ihren Schaukelstühlen einen milden Lebensabend genossen, ebenso wenig wie die Kriminalität, die nach Sonnenuntergang jene Teile der Stadt unsicher machte, in die die stilbewussten Snowbirds aus dem Norden nur selten gelangten. Ihr Revier erstreckte sich vom Ocean Drive bis zur Washington Avenue, denn westlich davon versprachen nur der Española Way und die Lincoln Road Mall zusätzliche Designwunder zwischen Mediterranean Revival und heiterer Nachkriegsmoderne.

Déco Delights

Und heute? Das kribbelnde Gefühl von Abenteuer ist verschwunden, die ganze Stadt herausgeputzt. Der einst so verführerische Ocean Drive ist zu einer Open-Air-Fressmeile verkommen, wo Hunderte von Tischen und riesige Sonnenschirme den historischen Hotels jede Bodenhaftung nehmen. Was würde Gianni Versace nur zu diesem Wandel sagen? Vor zwanzig Jahren konnte er hier noch gemütlich eine Zeitung kaufen und sie beim Kaffee auf der Hotelterrasse neben seiner Casa Casuarina lesen. Nun sind es nicht mehr die schrillen Vögel, die das Strassenbild prägen, sondern Touristen, die hier ähnlich teilnahmslos wie auf dem Markusplatz oder den Champs-Elysées ihre Selfies schiessen. Nur um später sagen zu können, sie hätten die in Mode- und Designzeitschriften gefeierte Art-déco-Zauberwelt mit eigenen Augen gesehen, sind sie bereit, für ein bescheidenes Zimmer in einem der bonbonfarbenen Hotels 500 Franken pro Nacht hinzublättern. Denn Miami Beach ist teuer geworden, seit Superreiche aus aller Welt sich hier im Paradies wähnen. In Glitzertürmen leisten sie sich für viel Geld fixfertig eingerichtete Zweitwohnungen und versuchen diesen dann mit teuer an der Art Basel Miami Beach erstandener Kunst eine persönliche Note zu verleihen.

Ein Jahr nach den Zerstörungen des Miami-Hurrikan begann man 1927 mit dem Bau des Rathausturms an der Washington Avenue im Stil des Mediterranean Revival, das erst Mitte der dreissiger Jahre vom Art déco abgelöst wurde. (Bild: Roman Hollenstein)

Ein Jahr nach den Zerstörungen des Miami-Hurrikan begann man 1927 mit dem Bau des Rathausturms an der Washington Avenue im Stil des Mediterranean Revival, das erst Mitte der dreissiger Jahre vom Art déco abgelöst wurde. (Bild: Roman Hollenstein)

Ähnliche Boomphasen hat die vor 100 Jahren aus dem Nichts entstandene Stadt in ihrer kurzen Geschichte schon mehrfach erlebt. Auf der Halbinsel gab es nur Mangroven und einige seit den 1870er Jahren angelegte Plantagen, als Miami 1896 mit der Eisenbahn erschlossen wurde und immer mehr Tagesausflügler von dort aus per Boot die weiten Atlantikstrände diesseits der Lagune aufsuchten. Damals liessen der Landbesitzer John Collins und Investoren wie Carl Fischer und die Lummus-Brüder eine vier Kilometer lange, im Juni 1913 eingeweihte Holzbrücke über die Bay errichten und gleichzeitig die ersten Gasthäuser bauen. Der Erfolg gab ihnen recht und ermunterte die Ortsansässigen, am 26. März 1915 Miami Beach als eigenständige Gemeinde zu gründen.

An diese frühen Tage erinnert nur noch wenig: allem voran das älteste noch erhaltene Haus der Stadt, das 1915 eröffnete Hotel «Brown's» – ein schmuckloser Holzbau, wie er damals im Süden üblich war –, sowie die 1920 im Kolonialstil errichtete Kirche an der Lincoln Road. Schuld daran war der verheerende Miami-Hurrikan vom September 1926, der kaum ein Bauwerk verschonte. Doch schon im Jahr darauf begann man voller Optimismus mit dem Bau des 10-geschossigen Rathausturms an der Washington Avenue. Seine Formensprache, das Mediterranean Revival, wurde Mitte der dreissiger Jahre von einer bald stromlinienförmig eleganten, bald tropisch opulenten Art-déco-Architektur abgelöst, die schliesslich mit Hunderten von kleinen Häusern das Aussehen von South Beach nachhaltig bestimmen sollte.

Sie alle wurden überragt vom 15-geschossigen «Blackstone», in welchem die in den meisten anderen Hotels abgewiesenen jüdischen Gäste abstiegen, darunter George Gershwin, der hier «Porgy and Bess» komponierte. Dem kolossalen, an New York erinnernden «Blackstone» antworteten weiter nördlich bald schon mehrere direkt am Strand gelegene Hoteltürme, von denen das erst 1947 erbaute «Delano» mit seiner Art-déco-Krone bei der Einweihung schon recht altmodisch wirkte.

Denn gleichzeitig mit ihm öffneten die ersten fabulösen, von Roy France in coolen Fifties-Formen geplanten Grosshotels ihre Pforten; und kurz darauf zauberte Morris Lapidus mit dem «Fontainebleau» eine einzigartige Tourismuswelt mit exotischen Pool-Landschaften an die Mid-Beach, die dank dem Film «Goldfinger» internationale Bekanntheit erlangte. Nicht nur James Bond, sondern auch gutsituierte Mittelstandsfamilien zogen es nun vor, in klimatisierten Suiten zu logieren, statt in den engen Hotelzimmern von South Beach, dessen einstiger Art-déco-Glanz einer tristen Realität gewichen war. Das spürten die Geschäfte an der Lincoln Road. Deshalb sollte Morris Lapidus der einst als «Fifth Avenue of the South» gepriesenen Einkaufsmeile neues Leben einhauchen. Er verbannte die Autos von der Strasse und schuf die mit Palmen und skulpturalen Pavillons geschmückte Lincoln Road Mall, die als eine der weltweit ersten verkehrsfreien innerstädtischen Flanierzonen vor 55 Jahren eingeweiht werden konnte.

Blick auf die Collins Avenue in Richtung Norden mit Harry Hohausers legendärem «Essex House», dem rekonstruierten «Royal Palm» und der anstelle des der Spekulation geopferten Hotels «New Yorker» 1996 errichteten Rundpyramide des «Loews Miami Beach». (Bild: Lynne Sladky / AP)

Blick auf die Collins Avenue in Richtung Norden mit Harry Hohausers legendärem «Essex House», dem rekonstruierten «Royal Palm» und der anstelle des der Spekulation geopferten Hotels «New Yorker» 1996 errichteten Rundpyramide des «Loews Miami Beach». (Bild: Lynne Sladky / AP)

Gentrifizierung von South Beach

Selbst diese Mall konnte den Niedergang nicht bremsen. Stürzte doch die wachsende Konkurrenz preisgünstiger exotischer Winterdestinationen die Stadt in ihre schwerste Krise. Nur die lange unerwünschten Juden hielten ihr die Treue. Gleichwohl verkam der Art-déco-Bezirk von South Beach zu einer der ärmsten Gegenden Floridas. Der «Schandfleck» sollte nach Meinung der vom Glas und Stahl der siebziger Jahre geblendeten Stadtväter ausradiert werden. Diese Pläne wurden zum Glück durchkreuzt von unternehmungslustigen Leuten aus der Kreativszene und der Gay Community, die angefangen hatten, verlotterte Häuser aufzukaufen und mit bescheidenen Mitteln zu restaurieren. Rückendeckung erhielten sie von zwei aus New York zugezogenen Aktivisten – der Publizistin Barbara Capitman und dem Architekten Leonard Horowitz –, die 1976 mit postmoderner Begeisterung für die erzählerisch-antirationalistischen Art-déco-Häuser die «Miami Design Preservation League» (MDPL) gründeten und gut 1200 schützenswerte Bauten dokumentierten. So schafften sie es, dass der «Art Deco Historic District» gegen alle Widerstände 1979 als erstes Bauensemble des 20. Jahrhunderts ins «National Register of Historic Places» aufgenommen wurde.

Die Spekulanten gaben sich aber nicht so leicht geschlagen. Trotz Bürgerprotesten wurde 1981 mit dem «New Yorker» das Hauptwerk des genialen Hotelarchitekten Henry Hohauser zerstört. Die MDPL durfte aber auch Erfolge verzeichnen: Sieben Hotel-Ikonen am Ocean Drive erstrahlten bis 1983 neu in zarten Pastelltönen, die die Modewelt entzückten. Für Calvin Kleins «Obsession» fotografierte Bruce Weber 1985 makellose nackte Körper auf dem Dachgebirge des «Breakwater» und schuf so das Traumbild einer Epoche. Und Michael Mann, der Regisseur der stilbildenden Krimiserie «Miami Vice», benutzte South Beach gerne als Staffage. Das bedrohliche Image von Miami Beach wich erst, als 1992 Versace die sechzig Jahre zuvor von Henry La Pointe errichtete Casa Casuarina kaufte und seine illustren Freunde – Prinzessin Diana, Elton John, Madonna – an den Ocean Drive einlud. Ein Hauch von Glamour wehte nun durch South Beach. Ian Schrager, der in New York mit dem «Royalton» und dem «Paramount» Erfolge feierte, liess das «Delano» von Philippe Starck in das damals mondänste Boutique-Hotel der Welt verwandeln. Selbst Gianni Versaces Ermordung im Juli 1997 irritierte die Investoren nur kurz. Immer luxuriösere Wohntürme begannen nun den Art-déco-Distrikt einzuschnüren und machten ihn zum teuren Spielball der Reichen.

Im Schlepptau der Millionäre kam 2002 die Art Basel Miami Beach, die heute umsatzstärkste Kunstmesse Amerikas. Schon vorher konnte das lokale Kultbüro Arquitectonica dank spendablen Mäzenen für das 1985 gegründete Miami City Ballet neben dem Bass Museum ein neues, von der Stromlinien-Moderne beeinflusstes Haus errichten. Es bewies zusammen mit Robert Sterns postmoderner Stadtbibliothek und der mitten im Art-déco-Viertel ebenfalls von Arquitectonica realisierten «Ballet Valet»-Parkgarage, dass in Miami Beach auch anspruchsvolle Architektur möglich war. Der Autosilo mit den begrünten Fassaden weckte Interesse an diesem lange unterschätzten Bautyp. Bald entstanden noch eigenwilligere Garagen. Sie alle wurden in den Schatten gestellt vom 2010 eingeweihten Parkhaus 1111 Lincoln Road, das mit seiner offenen, wie eine gigantische Skulptur wirkenden Betonstruktur der zu neuem Leben erwachten Lincoln Road Mall einen trendigen Akzent verleiht. Dieses Meisterwerk von Herzog & de Meuron will Zaha Hadid nun mit einer von Rampen umwirbelten Garage übertreffen. Doch ihr Projekt markiert letztlich nur die Rückkehr zur dekorierten Kiste – ähnlich wie schon zuvor das von metallenem Tüll umhüllte Parkhaus, das Frank Gehry an seinen 2011 vollendeten Neubau der New World Symphony andockte. An dessen gläserner Hauptfassade verrät einzig ein mehrfach gewölbter weisser Baldachin die Handschrift des Kaliforniers, so dass der davor von West 8 aus Rotterdam grafisch perfekt inszenierte Palmenwald für Aufsehen und Atmosphäre sorgen muss.

Der vom Rotterdamer Büro West 8 grafisch präzis angelegte SoundScape Park verleiht Frank Gehrys kargem, nur von einem weissen Eingangsbaldachin belebten Neubau der New World Symphony tropische Dynamik. (Bild: Roman Hollenstein)

Der vom Rotterdamer Büro West 8 grafisch präzis angelegte SoundScape Park verleiht Frank Gehrys kargem, nur von einem weissen Eingangsbaldachin belebten Neubau der New World Symphony tropische Dynamik. (Bild: Roman Hollenstein)

Seit der Slogan «Celebrity Architecture sells» die Bauherren beflügelt, wächst der Druck auf die Art-déco-Bauten wieder. Sogar Jacques Herzog kritisierte sie unlängst als «blinde, wie Torten oder Patisserie dekorierte Schachteln», was den nach Verdichtung und Gewinn strebenden Investoren bestimmt gefiel. Schon vorher hatte der Wunsch nach mehr Luxus zu massiven Eingriffen an alten Hotels geführt. Das «Victor», ein früher modernistischer Meilenstein des grossen Lawrence Murray Dixon, wurde mit dem Segen des «Miami Beach's Historic Preservation Board» durch neue Fenster und einen anpässlerischen Anbau zur Kopie seiner selbst. Zwei weitere Art-déco-Hotels von Dixon werden derzeit an der Collins Avenue ausgehöhlt: das einst in Leonard Horowitz' tropischen Farben restaurierte «Fairmont» und das stromlinienförmig gewellte «Haddon Hall». Auf einem Nachbargrundstück wächst über einem rekonstruierten Art-déco-Sockel das Hyatt South Beach in die Höhe. Da erstaunt es kaum noch, dass der New Yorker Nobelarchitekt Thomas Juul-Hansen mit Bewilligung der Denkmalbehörde hinter Hohausers Beth-Jacob-Synagoge einen Glasschrein errichten darf, dessen 20 Luxuswohnungen von Sotheby's angeboten werden. Einen Block weiter – gleich neben dem ehrwürdigen «Brown's» – baut der Nachwuchsstar René Gonzalez einen chic aufgeständerten Glasturm, der die Spekulanten-Skyline am South Point Park verschönern soll.

Am anderen Ende der Stadt, in Mid-Beach, hatte der Edelminimalist John Pawson schon zuvor Melvin Grossmans «Seville», ein Aushängeschild der Nachkriegsmoderne, nach Ian Schragers «Urban Resort»-Prinzip zum «Edition» umgebaut und recht brachial um luxuriös möblierte Penthouses mit Hotelservice erweitert, die Liebhabern bis zu 34 Millionen Dollar wert waren. Wenige Schritte nördlich des «Seville» zeigt sich das «Versailles» bis auf die Knochen entblösst. Hier realisiert der argentinische Bauunternehmer Alan Faena als Antwort auf das «Fontainebleau» seinen «Place of Dreams» – bestehend aus renovierten Altbauten, einem wulstig gekurvten Hochhaus von Norman Foster und dem Faena Forum von Rem Koolhaas. Mit kulturellen Veranstaltungen und Kongressen soll es dereinst den etwas weit vom quirligen Art-déco-Bezirk entfernt gelegenen High-End-Resort zum neuen Fokus von Miami Beach machen. Dieses Projekt veranschaulicht besonders schön, wie Investoren, die einst mittels billiger Bauten und Maximalausnützung auf eine möglichst hohe Rendite zielten, vermehrt an die Zugkraft klingender Architektennamen glauben.

Eine Herausforderung für Miami

Trotz dieser stürmischen Entwicklung ist die heute 90 000 Einwohner zählende Stadt ein angenehmer Ort geblieben. Nirgendwo sonst in Amerika kann man als Fussgänger oder Velofahrer den öffentlichen Raum so unbeschwert geniessen wie hier. Das spürt man, wenn man hinüberfährt ins autogerechte Miami, wo Herzog & de Meuron vor zwei Jahren zwischen Highway und Lagune die Kulturoase des Pérez Art Museum geschaffen haben. Mit ihm und seinen künftigen Nachbarn, dem Science Museum von Nicholas Grimshaw und Zaha Hadids von einem insektenartigen Exoskelett zusammengehaltenem Wohnturm «One Thousand Museum», kann Miami nun selbstbewusst der «Starchitecture» der kleinen Nachbarstadt entgegentreten. Darüber hinaus führt die selbsternannte «Capital of South America» eine Tradition fort, die 1982 mit Arquitectonicas von einem Palmengarten durchdrungenem Scheibenwohnhaus «Atlantis» ihren Anfang nahm und 2003 mit Bernard Tschumis Architekturschule weitergeführt wurde. Nun soll sie nach neuen Höhen streben mit den von Bjarke Ingels und Rem Koolhaas geplanten Wohnhochhäusern in Coconut Grove, aber auch mit dem «Jade Signature»-Turm von Herzog & de Meuron in Sunny Isles Beach, das sich als nördliches Anhängsel von Miami Beach reichen Russen und Südamerikanern als Refugium anzubieten sucht.