Die kulturelle Vielfalt soll ausgelöscht werden

Fanatiker des IS wüten im Nordirak gegen religiöse Stätten. Dabei ging der Region bereits fast das gesamte bedeutende mittelalterliche Kulturerbe verloren.

Margarete van Ess
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In der Moschee Nabi Junis in Mosul konnten Gläubige bis vor kurzem noch zum Grab des Propheten Jonas pilgern – am 24. Juli 2014 wurde sie gesprengt. (Bild: De Agostini / AKG)

In der Moschee Nabi Junis in Mosul konnten Gläubige bis vor kurzem noch zum Grab des Propheten Jonas pilgern – am 24. Juli 2014 wurde sie gesprengt. (Bild: De Agostini / AKG)

Bildersturm, die Zerstörung von religiösen Stätten und Orten der persönlichen Wertschätzung gehören zu den Konstanten der Geschichte. Beispiele finden sich zuhauf: der Bildersturm der Reformationszeit im 16. Jahrhundert durch die Protestanten und der religiös motivierte Dreissigjährige Krieg, die Verbrennung der Maya-Schriften 1562 durch die Spanier, die Auslöschung jüdischen Lebens und Kulturguts durch die Nationalsozialisten oder jüngst die Zerstörungen von Sakralbauten während des Balkankriegs. Wenn also im Nordirak seit der Einrichtung des sogenannten IS im Juni 2014 über dreissig historisch wertvolle Moscheen, Gebetshäuser, Mausoleen und Kirchen zerstört wurden, gehört dies zunächst in diesen Kontext. Der Irak besitzt insgesamt jedoch, im Vergleich mit Ägypten, Syrien oder Iran, nur noch wenige Bauwerke aus der Zeit vor den Mongolenstürmen von 1258 bis 1261 und 1400. Speziell in Mosul hatten bemerkenswert viele mittelalterliche religiöse Bauten in lebendiger Nutzung und in besonderer Qualität überlebt, die nun verloren sind.

Kulturelle Vielfalt

Zweimal stürmten die Mongolen den Irak. In den Jahren 1258–1261 überrollten sie den Irak und Syrien und vernichteten Menschen, Herrscherhäuser und Kulturgüter bis kurz vor Jerusalem. Auch Bagdad wurde damals weitgehend zerstört und seiner viel gerühmten Bauwerke aus der Zeit der abbasidischen Herrscher beraubt. Im Jahr 1400 war es Timur Lenk, der erneut den Vorderen Orient angriff und, laut den Nachrichten, weit schlimmer wütete. Wieder war Bagdad besonders betroffen. Beide Stürme waren nach kurzer Zeit Geschichte. Die regionale Bevölkerung war dramatisch dezimiert, überstand jedoch den Angriff und erhielt sich ihre kulturelle und religiöse Vielfalt bis heute. Auch einige ihrer historischen, bis heute verehrten Bauwerke überstanden diese Attacke. In späteren Jahrhunderten (16.–19. Jahrhundert) erlaubten die Repressalien der meist fernen Herrscher und damit der Geldmangel nur selten, in besondere öffentliche und religiöse Bauwerke zu investieren. Die aus dem Mittelalter erhaltenen Masjids – kleine muslimische Gebetsstätten –, Mausoleen verdienter oder religiös verehrter Persönlichkeiten und Moscheen wurden jedoch gepflegt und waren nicht nur religiös, sondern auch kunsthistorisch wichtige Zeugnisse dieser Epochen. Ihre besondere, regional-spezifische Baukunst war darüber hinaus auch ästhetisch von hohem Wert. Seit Hochsommer 2014 sind sie, bis auf wenige Ausnahmen, systematisch gesprengt und damit vollständig zerstört worden. Einiger Beispiele aus einer langen Liste von derzeit über dreissig zerstörten Bauwerken sei hier gedacht.

Das Mausoleum Imam Dur stand etwa 20 Kilometer südlich von Tikrit oder etwa 250 Kilometer südlich von Mosul. Es gehörte, zusammen mit dem Mausoleum «der vierzig» in Tikrit, zu den wenigen aus der Seldschuken-Zeit stammenden Bauwerken im Irak. Beide Bauten wurden im Oktober 2014 gesprengt und sind verloren. Imam Dur war im Jahr 1085 für Sharaf al-Dawla Muslim ibn Quraish, Gouverneur der Region, errichtet und zuletzt in den 1990er Jahren restauriert worden. Der zentrale Raum dieses Mausoleums, ein Gebetsraum, ist durch eine hohe konische Kuppel gekennzeichnet, die im Inneren durch «Muqarnas», eine für die islamische Architektur sehr typische, wabenartige Form des Raumdekors, gestaltet war. Sie war die älteste derartige bekannte Kuppel der islamischen Welt und hatte eine unmittelbar berührende, sakrale Raumwirkung.

Timur Lenk verschonte Mosul bei seinem Eroberungszug im Jahre 1400 und restaurierte sogar Bauwerke. Insofern blieben sowohl die Investitionen einer türkischen Atabeken-Dynastie aus der Zeit zwischen 1127 und 1258, die die Zerstörung Mosuls durch den ersten Mongolensturm überlebt hatten, als auch diejenigen der Ilkhaniden (1258 bis 1335) bis 2014 erhalten. Sowohl die Atabeken als auch die Ilkhaniden hatten die Stadt mit einer Vielzahl herausragender Bauwerke ausgestattet, wie uns arabische Autoren bewundernd berichten. Mosul war damit die Stadt mit den bedeutendsten historischen Bauwerken des Nordiraks.

Das Mausoleum des Imam Awn al-Din in Mosul stammte aus dem Jahr 1239/40 und war ein beeindruckendes Bauwerk der Atabeken-Zeit. Ausgestattet mit einer für die Zeit typischen, pyramidalen Kuppel mit Falten sowie zwei kunstvoll geschmückten Portalen und durch ausführliche Inschriften an den frommen Stifter erinnernd, stand es am Rande eines alten Friedhofs inmitten der Altstadt von Mosul. Ebenso wie sechs weitere Mausoleen und Moscheen aus dem 12. und 13. Jahrhundert, deren Zerstörung zwischen Juni 2014 und Februar 2015 gemeldet wurde, gehörte es zu den herausragenden Kulturschätzen der Stadt.

Auch Wissensressourcen vernichtet

Die Moschee Nabi Junis in Mosul, in der das Grab des Propheten Jonas verehrt wurde, wurde bereits am 24. Juli 2014 gesprengt. Sie ging auf ein Kloster zurück, das der Kirchenüberlieferung nach im 4. Jahrhundert n. Chr. gegründet worden war, in dem sich das Grab des chaldäischen Patriarchen Hnanisho (regierte 685–701) befand und das im 10. Jahrhundert in eine Moschee umgewandelt wurde. Auch im Koran findet sich die aus der Bibel bekannte Erzählung von Jonas, der erst nach Seenot und Rettung in einem Walfischbauch der Aufforderung Gottes nachkam, nach Ninive zu reisen und den Bewohnern angesichts ihres Götzendienstes das Strafgericht anzudrohen. Die Moschee stand am östlichen Rand des archäologischen Geländes der über 5000 Jahre alten Stadt Ninive, auf die sich die Geschichte bezieht. Sie war daher sowohl für Muslime wie für Christen Gebetsstätte und insbesondere für sunnitische Muslime eine der wichtigsten Pilgerstätten im Nordirak. Die Moschee war Ende der 1990er Jahre in grossem Stil modernisiert worden. Die alte Grabmoschee war in dieses moderne Ensemble integriert worden, war jedoch noch erhalten und mit ihrer pyramidenförmigen Kuppel ein Wahrzeichen dieses Stadtteils.

Die gezielte Zerstörung gilt überwiegend Bauwerken, in denen verdienter oder besonders religiös verehrter Personen gedacht wurde. Meist, aber nicht immer, wie das Beispiel von Nabi Junis zeigt, handelt es sich zudem um Moscheen oder Gedenkorte für Personen, die der schiitischen Ausrichtung des Islam angehörten oder Mystiker waren und damit nicht in das Weltbild des sogenannten IS passen. Doch nicht nur Bauwerke, sondern auch Wissensressourcen werden vernichtet. Im Oktober 2014 wurden an der Universität Mosul die Fakultäten für Jura, Politologie, Kunst, Archäologie, Sportwissenschaft und Philosophie, ausserdem die Tourismus- und die Hotelfachschule geschlossen. Im Januar 2015 wurden der Abtransport und die Verbrennung von Büchern und Handschriften aus der Bibliothek von Mosul gemeldet. Ebenso sehr wie die Kultur und das historische Erbe der im Nordirak seit Jahrhunderten ansässigen Christen, Juden oder der vom Islam abgespaltenen Glaubensgemeinschaften der Jesiden, der Ahl-i-Haqq, der Shabab und der Sarli ist also das islamische Kulturerbe insgesamt von der Vernichtung betroffen. Ziel sind offenbar die Auslöschung der besonderen kulturellen Vielfalt dieser Region und das Einschwören der lokalen Bevölkerung auf die vom IS propagierte Lebensweise durch Terror. Warum aber gelingt es dem IS, sich mit diesen vorsintflutlichen Vorstellungen durchzusetzen? Abgesehen vom rücksichtslosen und unmittelbar bedrohenden Terror des Vorgehens war ein wichtiger Auslöser die bewusste und umfassende Marginalisierung der sunnitischen Bevölkerung des Iraks durch die schiitische Regierungspartei unter dem früheren Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki, die sich durch Ausgrenzung säkularer Parteien oder Ermordung sunnitischer Politiker sowie durch brutales militärisches Vorgehen gegen protestierende sunnitische Regionen auszeichnete. Ein Bündnis mit dem IS erschien als das geringere Übel. Inzwischen ist allen klar, dass ein grösseres Übel um sich gegriffen hat, bei dem es nur wenige Profiteure gibt. Es wird jedoch sehr vom Augenmass der jetzigen Regierung und der internationalen Staatengemeinschaft abhängen, ob die derzeit anlaufenden Rückeroberungen des Nordiraks Erfolg haben. Es ist zu befürchten, dass mit diesen voraussichtlich zähen Kämpfen noch weit grössere Verluste am so reichen und faszinierenden Kulturerbe des Iraks zu beklagen sein werden, sei es als Kollateralschaden oder als bewusste Auslöschung.

Dr. Margarete van Ess leitet die Aussenstelle Bagdad des Deutschen Archäologischen Instituts und ist seit über dreissig Jahren auf die Archäologie des Iraks spezialisiert.