Viele historische Bauten akut gefährdet

Nach Jahren der vorbildlichen Instandsetzung historischer Bauten verdüstert sich in ganz Europa der Denkmalhimmel. Auch in der Schweiz wächst der Druck von verschiedenen Seiten her auf die Denkmäler.

Patrick Thurston
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Die Eigentümer von Europas grösstem Wohnhaus bemühten sich selbst um den Schutzstatus – Georges Addors Cité du Lignon in Genf, 1963–1971. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Die Eigentümer von Europas grösstem Wohnhaus bemühten sich selbst um den Schutzstatus – Georges Addors Cité du Lignon in Genf, 1963–1971. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Im späten 20. Jahrhundert konnte die Denkmalpflege Terrain erobern. Doch in den vergangenen Jahren geriet sie aufgrund der Forderung nach Verdichtung, aber auch wegen verstärkter Sparbemühungen zusehends unter Druck: Diese Entwicklung gilt sowohl für boomende Städte, in denen der Nutzungsdruck auf die historische Bausubstanz geradezu dramatisch anwächst, als auch für sich entleerende Kulturlandschaften, die veröden und in denen manch historisches Bauwerk vergebens auf eine neue Nutzung wartet.

Dabei kann es durchaus sein, dass Regionen mit einer solch grundlegend unterschiedlichen Entwicklung unmittelbar nebeneinanderliegen – etwa im deutschen Rheinland. Was sie verbindet, ist die Gefährdung der Denkmalsubstanz. Hinzu kommt die Schwäche mancher Denkmalbehörden, die ihre Stimme im Chor unterschiedlicher Interessen nicht durchzusetzen vermögen. Oft genug wird ihr fachliches Urteil durch die politischen Entscheidungsträger ausgehebelt, oder potenzielle Baudenkmäler finden auf politischen Druck hin gar nicht erst den Weg auf die schützenden Denkmallisten und Inventare. Die Folge davon sind eine weitere Schwächung der Denkmalämter und vor allem eine akute Gefährdung zahlreicher historischer Bauten.

«Schützenswert» und «erhaltenswert»

In der Schweiz zeigt sich dies besonders deutlich im Kanton Bern, der überdurchschnittlich viele hochkarätige Baudenkmäler besitzt. Um auf die obengenannte Problematik im Umgang mit Baudenkmälern zu reagieren, legte der Berner Regierungsrat dem Kantonsparlament unlängst eine neuartige Kulturpflegestrategie vor, welche die Ziele und Strategien für die Arbeit des Archäologischen Dienstes und der Denkmalpflege präzisiert. In der Januarsession 2015 wurden diese neuen Leitlinien beschlossen. Zugleich legte aber das Parlament (entgegen dem Willen des Regierungsrates) fest, dass innerhalb von fünf Jahren die Anzahl der Schutzobjekte von zehn auf sechs Prozent des Gesamtgebäudebestandes zu reduzieren ist.

Schlecht gestalteter Strassenraum beeinträchtigt in Wabern bei Köniz einen spätgotischen Fachwerkbau, der ls einer der ältesten Zeugen des historischen Dorfkerns durch eine Rückstufung von schützenswert auf erhaltenswert bedroht sein könnte. (Bild: PD)

Schlecht gestalteter Strassenraum beeinträchtigt in Wabern bei Köniz einen spätgotischen Fachwerkbau, der ls einer der ältesten Zeugen des historischen Dorfkerns durch eine Rückstufung von schützenswert auf erhaltenswert bedroht sein könnte. (Bild: PD)

Im Bereich des Natur- und Heimatschutzes gelten Inventare als Grundlageninstrumente, die sowohl Eigentümern wie Behörden einen Überblick über den Bestand an Natur- oder Kulturgütern vermitteln. Mit den Bauinventaren wird eine Schutzvermutung dokumentiert, die im Falle von konkreten Bauvorhaben auf ihre Verhältnismässigkeit geprüft werden muss. Im Kanton Bern wollte der Gesetzgeber für private Eigentümer Rechtssicherheit schaffen. Eigentümer können davon ausgehen, dass ihre Liegenschaft ohne Eintrag in einem Bauinventar den Schutzbestimmungen nicht unterliegt. Die Berner Rechtsnorm unterscheidet «schützenswerte» und «erhaltenswerte» Baudenkmäler. Während schützenswerte Objekte nicht abgebrochen werden dürfen, erlaubt das Baugesetz den Abbruch von erhaltenswerten Bauten, wenn deren Erhalt nicht verhältnismässig ist.

Gleichzeitig stipuliert das Gesetz für den Fall eines Neubaus ein gestalterisch ebenbürtiges Objekt. Damit hat der Gesetzgeber vor 15 Jahren eine liberale Rechtsnorm aufgestellt, welche Klarheit in Form von Inventaren, Rechtssicherheit durch abschliessende Auflistung und Spielraum für die Beurteilung von Ermessensfällen im Rahmen von konkreten Bauvorhaben einräumt. Folgerichtig liegt die Kompetenz über Abbruch oder Erhalt eines erhaltenswerten Baudenkmals bei den Baubewilligungsbehörden und nicht bei der Denkmalpflege, welche sich lediglich in Form eines Fachberichtes dazu äussert. Der Gesetzgeber wollte diese Auseinandersetzung im konkreten Einzelfall.

Die kürzlich vom Berner Grossrat beschlossene Reduktion der Schutzobjekte setzt nun ungeachtet des baukulturellen Bestandes eine Prozentlimite. In den kommenden fünf Jahren muss die Anzahl der Baudenkmäler auf sechs Prozent des Gesamtbaubestandes reduziert werden. Konkret: 14 000 der heute 36 000 Baudenkmäler verlieren ihren Status in einem Bauinventar! In welche Richtung es mit der Denkmalpflege im Kanton Bern künftig gehen soll, zeigen weitere Beschlüsse des Parlamentes. Dazu gehören Erleichterungen beim Erhalt im Innenbereich zwecks verbesserter wirtschaftlicher Tragbarkeit von Umbauten sowie die Priorisierung der Energieeffizienz durch Dämmung im Innern und Äussern bei schützenswerten Baudenkmälern. Künftig unterliegt die Raumstruktur in ausgebauten Ökonomieteilen bei erhaltenswerten Bauten nicht mehr der Denkmalpflege; und die Auflagen der Gebäudeversicherung sind höher zu gewichten als diejenigen der Denkmalpflege. Offensichtlich wollte man der Arbeit der Denkmalpflege engere Schranken setzen, statt im Einzelfall nach guten Lösungen zu suchen.

Die zahlenmässige Reduktion der Baudenkmäler gefährdet in erster Linie die Ortsbilder. Offensichtlich ist nicht klargeworden, dass man Architektur nicht nach Prozenten, sondern nach ihrem baukulturellen Wert beurteilen muss, wobei der Zusammenhang der Objekte in Orts- und Strassenbildern ein wesentliches Kriterium ist. Ein Dorf oder ein Stadtquartier besteht nicht nur aus Kirche und Gasthaus, sondern auch aus anderen Bauten, die erst im Zusammenhang verstanden werden.

Mehr Spielraum dank Denkmalschutz

Die erwähnten Beschlüsse des Parlaments stehen im Kontrast zur Stossrichtung der vom Regierungsrat vorgeschlagenen Kulturstrategie, die auf eine enge Zusammenarbeit aller Akteure im Bereich der Denkmalpflege setzt. Stattdessen beschneidet die Politik den Spielraum. Vonnöten wäre aber eine Kultur des Dialoges, die akzeptiert, dass Architektur Sorgfalt im Detail, Offenheit für Neues bei gleichzeitigem Respekt für Gewachsenes, Mut zur Entscheidung für übergeordnete Werte und unermüdliches Suchen nach Lösungen und Ausgleich erfordert. Es bleibt zu hoffen, dass die Eigentümer von historischen Bauten die Nachteile dieser Beschlüsse erkennen und mit klaren Bekenntnissen zu ihrem oft seit Generationen gepflegten Kulturgut aus Eigenverantwortung Sorge tragen. Weshalb sollten sie nicht selbst aktiv die Unterschutzstellung beim Regierungsrat beantragen? Innovative Beispiele machen dies vor!

Die Pensionskasse der Stadt Biel beabsichtigt beim 1969 von Walter Schwaar realisierten Wohnhochhaus "La Champagne" mit Flicken statt Entsorgen für die Mieter ein Maximum zu bieten – dank Denkmalschutz. (Bild: PD)

Die Pensionskasse der Stadt Biel beabsichtigt beim 1969 von Walter Schwaar realisierten Wohnhochhaus "La Champagne" mit Flicken statt Entsorgen für die Mieter ein Maximum zu bieten – dank Denkmalschutz. (Bild: PD)

Bei der Sanierung des grössten Wohnkomplexes der Schweiz in Le Lignon, erbaut 1963–1971 von Georges Addor, seit Jahren im Denkmalpflegeinventar der Stadt Genf verzeichnet, suchte die Eigentümerschaft den Schutzstatus, um mehr Spielraum bei der Sanierung des riesigen Baukomplexes zu bekommen. Damit konnte der spektakuläre Wohnkoloss, in welchem über 10 000 Menschen leben, für die kommende Nutzungsperiode auf schonende Weise instand gestellt werden. Gleiches gilt für das unter Schutz stehende Hochhaus La Champagne in Biel, wo man mit Flicken ökonomisch und ökologisch effizienter baut als mit Wegwerfen und Ersetzen. Und auch im Bereich der bäuerlichen Baukultur zeigt die Praxis deutlich, dass der Schutzstatus nicht nur Vorteile bei der Nutzung der Bauten bietet, sondern auch in allen andern Fragen des Baues die Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege zu massvollen Lösungen führt. Diese Praxis zeigt eindeutig, dass Denkmalpflege ein wichtiger Partner ist für Lösungen, die Architektur als Teil unserer Kultur ernst nehmen.

Patrick Thurston ist Architekt in Bern und Vorsitzender des Bundes Schweizer Architekten (BSA) der Ortsgruppe Bern.