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TEC21 2015|19-20
Holzbau aufgesetzt
TEC21 2015|19-20
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Verzogen und verzerrt

SAM Architekten und die Ingenieure von Conzett Bronzini Gartmann haben ein Ferienhaus nach traditionellem Rezept erstellt: Holzaufbau auf mineralischem Sockel. Das Konstruktionsprinzip ist bekannt, doch die Interpretation hält Überraschungen bereit.

8. Mai 2015 - Judit Solt
In aufgeklärten Architektenkreisen geniesst die Bauaufgabe «Ferienhaus» einen zwiespältigen Ruf – und dies nicht erst seit der Annahme von Zweitwohnungsinitiative und revidiertem Raumplanungsgesetz. Beim Ferienhaus spitzt sich das Dilemma zu, das auch beim Einfamilienhaus stets mitschwingt: Der Reiz, mit einem frei stehenden Gebäude zu experimentieren, kollidiert mit dem Unbehagen, die Landschaft zu zersiedeln und Ressourcen zu verschleissen.

Dabei ist die Nutzung beim Feriendomizil naturgemäss noch spärlicher, die induzierte Mobilität höher und der Eingriff in die Landschaft empfindlicher als beim Einfamilienhaus. Gleichzeitig ist die gestalterische Freiheit oft grösser: Neben all dem Pragmatismus, der solche Investitionen begleitet, ist das Thema des architektonischen Entwurfs näher beim Lustschloss als beim Bauen für das Existenzminimum angesiedelt. Schliesslich soll dieser Typus einen Rückzugsort aus den Zwängen des Berufslebens ermöglichen – eine fast unwiderstehliche Verlockung für viele Architektinnen und Architekten, deren Arbeitsalltag selten solche Gelegenheiten bereithält. Und eine Chance, die Bauaufgabe als technische und formale Versuchsanordnung zu nutzen.

Beim Ferienhaus Tgiesa Crapera in Lenzer­heide GR haben SAM Architekten und Partner aus Zürich und die Churer Bauingenieure Conzett Bronzini Gartmann denn auch die Gelegenheit genutzt, konstruktive und gestalterische Ideen konsequent weiterzudenken. Das Haus befindet sich am östlichen Rand des Dorfs; es ist das vorletzte Gebäude an einem Strässchen, das sich den Hang hinaufschlängelt und im Wald verliert.

Unterhalb liegt das Tal mit dem Dorfkern, oberhalb gibt es nur noch Fichten und Lärchen und in der Ferne den kahlen Gipfel des Rothorns. Die Nachbarschaft besteht aus meist älteren Bauten, die sich unter ihren Sattel­dächern ins Gelände ducken.

Der Neubau ersetzt ein Baumeisterhaus aus den 1940er-Jahren, das nach mehreren Besitzerwechseln und einem stark gewachsenen Raumprogramm einiges von seiner ursprünglichen Qualität eingebüsst hatte. Seine prägenden Attribute – die Zufahrt von unten, der Knick im Grundriss entlang der Höhenlinie, die mächtige Terrasse im Westen, die Ausrichtung des Baukörpers gemäss den Hauptwindrichtungen und die Hinwendung zum Panorama – waren indes stimmig, und die Planer haben sie für den Neubau wieder aufgegriffen. Dabei haben sie zwei Themen besonders vertieft: zum einen die verzerrte Form des Gebäudes, dessen Geometrie dem Verlauf der Bergkante folgt, und zum anderen die traditionelle Kombination eines mineralischen Sockels mit einer aufgesetzten Holzkonstruktion.

Holz auf Beton

Die Vorfahrt unterhalb des Hauses wird dominiert von massiven, aus Weissbeton gegossenen Stützmauern. Hinter diesen befinden sich die Garage, diverse Keller- und Technikräume und der Eingang; man betritt das Haus durch eine harte, felsige, in den Hang gestemmte Sequenz. Eine Etage weiter oben, im Sockelgeschoss, wo das Gebäude teilweise aus dem Erdreich ragt, reihen sich fünf Schlafzimmer und drei Nassräume um die zentrale Treppe. Hier wechselt die Stimmung: Die Trennwände sind aus Holz, ebenso wie die Decke, die von vorgefertigten, in den Sockel eingespannten Holzpilastern gehalten wird. Die nächste Etage schliesslich, die wegen des steilen Hangs ebenerdig zum oberen Strässchen liegt, besteht aus einem einzigen, nach allen Seiten offenen Küchen- und Wohnbereich, der ganz aus Holz gezimmert ist und von einem mehrfach gefalteten Dach überspannt wird.

Chalet oder Pagode?

In diesem Dach konzentrieren sich mehrere Eigenheiten des Hauses. Auf den ersten Blick erkennbar ist die ungewöhnliche Konstruktion: Anstelle der Sparren sind in der Untersicht Pfetten als regelmässiges Streifenmuster zu sehen. Dies ist nicht nur ein Hinweis auf die besondere statische Lösung (vgl. Kasten «Räumliches Tragwerk aus Holz», S. 28); die dicht angeordneten ­Pfetten betonen die horizontale Ausdehnung des Dachs, das dadurch flächiger und weiter wirkt und den Raum entsprechend grösser erscheinen lässt. Die Sparren dagegen sind nur von aussen zu erkennen, wo ihre ­Stirnen im offenen Dachrand sichtbar werden. Ihre unregelmässige Anordnung verweist auf den Kräftefluss innerhalb der Dachkon­struktion: Über den Stützen sind die Sparren doppelt so dicht angeordnet wie dazwischen. Gleichzeitig bilden die Stirnen ein rhythmisches Muster, das im Kontrast zu den strengen Streifen der Pfetten eine gestalterische Komponente einbringt.

Diese Spannung zwischen den nüchternen Entwurfs- und Konstruktionsregeln, die sich die Planer selbst auferlegt haben, und der zurückhaltenden Verspieltheit, mit der sie sie auslegen, prägt das ganze Gebäude und verleiht ihm seinen leicht subversiven Reiz. Dass im ganzen Haus kein einziger rechteckiger Raum zu finden ist, müsste keineswegs zwingend aus der Figur des Vorgängerbaus folgen. Doch im Neubau ist fast alles verzerrt und verzogen: die Zimmer, das Treppenhaus, die fünfeckigen Bodenplatten im Eingangsgeschoss, die sich nach unten verjüngenden Pilaster in der Fassadenebene, die schrägen Stützen rund um das Treppenauge, das Dreieck-Sterne-Muster der Tapeten in den Zimmern, das Faltdach aus Trapez- und Dreiecksflächen, der schräg abgeschnittene Dachabschluss und sogar noch das Kamin mit der trapezförmigen Seitenansicht.

Selbst «unverfängliche» Elemente wie die Wasserspeier wirken mehrdeutig: Ihre Überlänge ist im alpinen Raum sinnvoll und durchaus üblich; doch die Proportionen und die schrägen Spitzen evozieren auch gereckte Drachenhälse, und diese Assoziation unterläuft die rationale Begründung. Ein latenter Spiel­trieb beseelt das Haus mit unzähligen, leise angedeuteten Fährten, denen die geneigte Fantasie folgen kann. Wer sich darauf einlässt, entdeckt eine Welt von Interpretationen. Dieses mächtige, bewegte Dach mit seinen spitzigen Speiern, das sich unter dunklen Fichten und Lärchen und steilen Schneehängen an den Berg schmiegt – gehört es zu einem alpinen Ferienhaus, einem würdigen Nachfolger des gemütlich-hölzernen helvetischen Chalets, oder am Ende vielleicht doch zu einer japanischen Pagode, die sich aus einem Manga hierher verirrt hat?

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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