Die Stadt als Lounge?

Das stadtplanerische Zauberwort des Augenblicks heisst Urbanität: Auf den Strassen und Plätzen soll es brummen. Aber es kann nicht die ganze Stadt belebt sein, schon gar nicht im Zeichen des Konsums.

Vittorio Magnano Lampugnani
Drucken
Die Stadt darf brummen, muss aber auch ruhige Rückzugsorte und Wohngegenden bieten. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Die Stadt darf brummen, muss aber auch ruhige Rückzugsorte und Wohngegenden bieten. (Bild: Goran Basic / NZZ)

In den Strassen und auf den Plätzen fast aller europäischen Städte sind in den letzten Jahren vor bereits bestehenden oder neu eröffneten Cafés voluminöse, bequem aussehende Sessel aufgetaucht. Es handelt sich in der Regel um Kunststoff-, Holz- oder Korbmöbel, zuweilen um Rattanstühle und -liegen, welche auf Teppichen arrangiert sind, die auf den Asphalt oder das Strassenpflaster gelegt werden. Dazu gehören Abstelltische, Stehlampen und dort, wo sie noch nicht verboten sind, Heizstrahler. Es werden Getränke und kleine Speisen serviert, und vor allem abends sind die Etablissements ausgesprochen beliebt und belebt. Sie nennen sich Loungebars oder einfach nur Lounges.

Salons unter freiem Himmel

Gegenüber den gängigen Strassencafés und Aussenbestuhlungen von Restaurants stellen sie eine neue und sperrigere Besetzung des öffentlichen Stadtraums dar: Es sind veritable Salons, die unter freien Himmel verlegt werden. Sie okkupieren den öffentlichen Raum nicht nur, sondern verwandeln ihn auch. Er gerät zu einem eleganten, glanzvollen Wohnzimmer, dabei auch zu einem Ort ambivalenter und auf jeden Fall verniedlichter Öffentlichkeit. Die Mutation des historischen Stadtzentrums vom Herzen einer (freilich nicht konfliktfreien, aber doch zusammenhängenden) Gemeinschaft in eine mehr oder minder brummende Einkaufs-, Konsum- und Vergnügungsanstalt ist damit vollendet.

Begonnen hatte sie in den fünfziger Jahren, als die neu erfundenen und rasch verbreiteten Fussgängerzonen mit allerlei Objekten eingerichtet und verhübscht wurden: Poller, Bänke, Veloständer, Blumentröge, Telefonkabinen, Werbeträger, Verkaufsautomaten. Sie führten eine Tradition weiter, die im 19. Jahrhundert wurzelte, als die Stadt für die Bedürfnisse des Bürgertums neu ausgerüstet wurde: mit Lampen, Trinkbrunnen, Abfallbehältern, Briefkästen, Litfasssäulen und sogar Pissoirs. Was funktional und zurückhaltend angefangen hatte, geriet bald anbiedernd und aufdringlich. Der Stadtraum, ohnehin bereits durch Telefonverteilkästen, Hydranten, Verkehrsampeln und Verkehrszeichen beansprucht, füllte sich mit überwiegend überflüssigen Ausstattungselementen von oft penetranter Hässlichkeit, die immer weniger jene Öffentlichkeit repräsentierten, der die Strassen und Plätze gehörten. Mit rücksichtsloser Pragmatik oder, fast noch schmerzhafter, Jovialität wurden diese öffentlichen Räume verstellt.

Die neuen Lounges sind jedoch mehr als die Symbole der kommerziellen Banalisierung der Stadtzentren: Sie sind auch Metaphern des Trugbilds jener Urbanität, welche die Charta von Athen vernachlässigt hatte, die Congrès Internationaux d'Architecture Moderne 1951 unter dem Thema «The Heart of the City» neu zu definieren versuchten und heute als vermeintliches Allheilmittel unserer Städte und unserer Gesellschaft in aller Munde ist. In einer Stadt, die den Namen verdient, muss, so heisst es, das Leben pulsieren; das Leben aber sind die Menschen auf den Strassen und den Plätzen, und wenn sie sich auf Flechtlehnstühlen lümmeln, umso besser.

Darin allerdings liegt ein doppeltes Missverständnis. Das Leben der Stadt besteht nicht darin, dass sie von möglichst vielen Menschen besichtigt wird wie ein Museum und aufgesucht wie ein Einkaufs- und Vergnügungszentrum. Das ist geborgtes Leben, das mit der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Realität der Stadt nichts zu tun hat und für welches diese lediglich die Staffage abgibt. Welche verheerenden Perspektiven solcherlei eröffnet, zeigt der Pelourinho, das ursprünglich einzigartig schöne, in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts restaurierte, inzwischen aber weitestgehend entvölkerte historische Zentrum von Salvador de Bahia, dessen Häuser im Erdgeschoss voll sind mit Cafés, Restaurants und Touristengeschäften, aber in den oberen Stockwerken trostlos leer stehen. Das traurige Muster übernahmen Einkaufszentren wie etwa die Designer-Outlets von Landquart oder von Serravalle-Scrivia, die sich ebenerdig wie muntere Kleinstädte gebärden und deren Obergeschosse, überwiegend eine reine Attrappe, leblos vor sich hin starren.

Das zweite Missverständnis besteht darin, sich die gesamte Stadt belebt vorzustellen und zu wünschen. Bereits in der Antike gab es spezifische Orte, in welchen sich das urbane Leben konzentrierte: die Agora in Athen, das Forum in Rom. Was sich dort abspielte, hatte in der Tat mit der Gemeinschaft zu tun, die auf den städtischen Freiräumen zusammenströmte, ja es trug diese Gemeinschaft und stellte sie dar: in Form von religiösen Zeremonien, politischen Handlungen, Gerichtsbarkeit, Handel, Markt und Festen. Die Menschenmengen, die zusammenkamen, waren derart gross und dicht, dass bestimmte Aktivitäten nach und nach ausgelagert werden mussten. In Athen verlagerte man zur Zeit Kleisthenes' die Volksversammlung an einen nahe gelegenen Hügel, die Pnyx. In Rom wurden bereits Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. die Lebensmittelhändler, die sich auf dem Forum angesiedelt hatten, in neue Marktanlagen verlegt; neben dem Forum Boarium, dem Fleischmarkt, entstand das Forum Holitorium als ausschliesslicher Gemüsemarkt. Unter Cäsar war das Forum erneut derart mit Monumenten vollgestellt und mit Menschen überfüllt, dass der Diktator ein neues Forum bauen liess, das seinen Namen trug und die grossartige Sequenz der Kaiserforen einleitete. Doch um diese Brennpunkte städtischen Lebens herum erstreckten sich sowohl in Athen als auch in Rom vergleichsweise ruhige Wohn- und Arbeitsquartiere mit stillen Strassen. Das änderte sich in den Städten des Mittelalters, des Barock, des Klassizismus nicht: Sie alle hatten einen oder mehrere Plätze, auf denen es drunter und drüber ging, zuweilen auch ein paar Strassen, die repräsentativ oder geschäftig oder beides waren, und sonst waren sie ruhig und in Teilen geradezu verträumt.

Die moderne Stadt ist, mehr noch als die historische, eine Komposition verschiedenster Räume und Quartiere unterschiedlichsten Charakters. Dazu gehören lebhafte Orte ebenso wie stille und besinnliche. Diese sind nicht minder schön als die betriebsamen. London ist nicht nur Trafalgar Square mit seinen öffentlichen Bauten, nicht nur Regent Street mit seiner Geschäftspracht, sondern auch Bedford Square, ein abgeschiedener, ursprünglich reiner Wohnplatz, oder Holland Park, eine bezaubernde reine Wohnstrasse. New York ist nicht nur Fifth oder Madison Avenue, sondern auch die zahlreichen kleinen Querstrassen aus Brownstones mit zierlichen Zugangstreppen und winzigen Vorgärten. Mailand ist nicht nur Piazza del Duomo (wo niemand wohnt), sondern auch Piazza Sant'Ambrogio (mit überaus noblen Wohnhäusern). Zürich ist nicht nur die Bahnhofstrasse und das Niederdorf, sondern auch das Englischviertel, Wipkingen und Schwamendingen.

Dabei geht es nicht einmal primär um die Form der Stadt, sondern um deren Inhalt. Genau wie die historische muss auch die zeitgenössische Stadt all jene Funktionen erfüllen, die die Charta von Athen ebenso klarsichtig aufzählt, wie sie sie voreilig voneinander zu trennen empfiehlt. Natürlich darf und muss in der modernen Stadt eingekauft und flaniert, Apéritif getrunken und zu Abend gegessen werden. Aber es muss auch gearbeitet und produziert werden, es muss gelernt und gelehrt, geforscht und studiert werden, es müssen kulturelle Veranstaltungen stattfinden, es muss Sport getrieben werden. Vor allem aber muss gewohnt werden: vorzugsweise nicht mitten im geschäftigen Treiben, sondern in ruhigen, geschützten Quartieren.

Der späte, glückliche Paradigmenwechsel von der Stadt des Autofahrers zur Stadt des Fussgängers hat gegenwärtig zu einer neuen Aufmerksamkeit für die Erdgeschosse geführt. Sie sollen nicht geschlossen und blind sein, um jenen, die an ihnen entlanglaufen, keine langweiligen Strecken zuzumuten. Diese Aufgabenstellung ist richtig, doch die Lösung besteht nicht ausschliesslich in einer Aneinanderreihung von Bars, Restaurants und Auslagen von exklusiven Kleiderboutiquen. Auch die Lebensmittelgeschäfte, die Bäckereien, die Apotheken, die Blumenläden, die Buchhändler, die Reparaturschneider, die Wäschereien, die Schuhmacher, die Kurzwarenverkäufer – kurz: All die lebenswichtigen Kleinhändler, die von umsatzstärkeren Etablissements und Ladenketten immer mehr verdrängt zu werden drohen, müssen an den städtischen Strassen und Plätzen Raum finden. Dennoch gilt: Keine Stadt, nicht einmal die grösste und am dichtest besiedelte, hat so viel Bedarf an Gastronomie und Einzelhandel, dass sie all ihre Strassen damit füllen könnte. Die Geschäfte und Restaurants müssen vielmehr entlang bestimmter Alleen und Boulevards, an bestimmten Plätzen konzentriert werden, um entsprechende Brennpunkte und Aktivitätsachsen zu schaffen.

Abseits davon ist Ruhe nicht nur unvermeidbar, sondern auch erstrebenswert. Was nicht bedeutet, dass der Fussgänger Opfer von abweisenden Hausfronten sein muss. Auch Arbeitsräume und Hochparterrewohnungen können auf einnehmende Art und Weise zur Strasse geöffnet, Sockel optisch und taktil freundlich ausgebildet und vor allem Vorgärten als diskrete Filter eingesetzt werden. Diejenigen, die nicht in pflegeleichte Steinkompositionen oder gar schnurstracks in Privatparkplätze verwandelt worden sind, sind zuweilen veritable botanische Wunderwelten, die nicht nur ihre Eigentümer, sondern auch jeden Passanten mit ihrer Pracht von Fliedern und Rosen, von Magnolien und Feigenbäumen, von Palmen und Zypressen, von Wiesenblumen und Gräsern entzücken. Das ist ungleich angenehmer als eine Reihung von Schaufenstern, die einfallslos von einer Bank mit Plakaten und Displays mit Wechselkursen belegt werden.

Die Kraft guter Städte

Überhaupt sind die Erdgeschosse nie unabhängig von dem, was über ihnen geschieht. Läden und Handwerksbetriebe lassen sich gut mit Wohnungen vereinbaren, weil sie keinen Lärm und keine Gerüche verursachen, ja sie machen sie mit ihren Serviceleistungen noch attraktiver. Boutiquen und Banken verleihen den Häusern, Strassen und Plätzen einen eleganten, aber auch sterilen Charakter. Kinos, Restaurants und Bars sind in der Regel laut und vertreiben die Bewohner, die zunehmend monofunktionale Quartiere zurücklassen. Wenn unsere Städte attraktive und vielfältige Wohnmöglichkeiten mit den dazugehörigen Wohnfolgeeinrichtungen und Einzelhandelsgeschäften, verträgliche, gut integrierte und innovative Arbeitsorte, ein angemessenes Sport-, Kultur- und Bildungsangebot sowie ausreichende Freianlagen bieten, sind sie gute Städte. Und sie können dann auch die Lounges aufnehmen und vielleicht sogar in eine Bereicherung umwandeln.