Hamburger Moderne

Der Hamburger «Architektur-Sommer» 2015 widmet sich den beiden Architekten Peter Behrens und Cäsar Pinnau. Der lange vergessene Architekturfotograf Ernst Scheel wird mit einer Ausstellung geehrt.

Bettina Maria Brosowsky
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Der von Ernst Scheel nächtlich in Szene gesetzte Rohbau des 1957 von Bernhard Hermkes erbauten Audimax der Universität Hamburg. (Bild: Ernst Scheel / Petra Vorreiter)

Der von Ernst Scheel nächtlich in Szene gesetzte Rohbau des 1957 von Bernhard Hermkes erbauten Audimax der Universität Hamburg. (Bild: Ernst Scheel / Petra Vorreiter)

Seit 1994 richtet die Hamburgische Architektenkammer zusammen mit lokalen Akteuren im Dreijahreturnus den Architektur-Sommer aus. Die diesjährige achte Auflage bietet bis in den Herbst hinein an mehr als hundert Orten über zweihundert Veranstaltungen für interessierte Laien und Fachleute. Das doppelsinnige Motto des Programms, «Über die Verhältnisse», kokettiert mit der Dynamik der frisch zur deutschen Olympia-Bewerberin gekürten Stadt Hamburg. Denn trotz hanseatischer Finanzdisziplin läuft manch ein Prestigeprojekt aus dem Ruder, etwa die Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron.

Peter Behrens und Cäsar Pinnau

Den wertneutralen Schwerpunkt des Programms sehen die Veranstalter jedoch in den ebenso unspezifischen wie grundlegenden Fragen: Wie wollen wir leben? Wie wollen wir wohnen? Und dabei richten sie den Blick in die Zukunft wie auch auf die Vergangenheit, die Geschichte Hamburgs und seine baulichen Bestände. Die Hafen- und Handelsstadt bietet einen soliden Fundus spezieller Typologien, so die Speicherstadt und das Kontorhausviertel rund um seine Ikone, das Chilehaus des Architekten Fritz Höger. Über die Aufnahme dieses Quartiers in das Unesco-Weltkulturerbe wird im Juli entschieden. Dass direkt daneben der Cityhof mit seinen vier markanten Hochhausscheiben liegt, ein trotz Denkmalschutz zum Abriss vorgesehenes Bauensemble der 1950er Jahre, steht ebenso im Fokus des Programms wie ein wehmütiger fotografischer Blick in den funktionslosen Freihafen und seine leergefallenen Zollstationen. Wohnbauten der 1920er und 1930er Jahre, Grosssiedlungen der 1970er, die städtebaulich problematische Bürostadt City Nord, Nachlass der expansiven Wirtschaftswunderjahre – das alles ist Gegenstand von Diskussionen, Exkursionen oder künstlerischen Interventionen im Architektur-Sommer.

Eine monografische Vertiefung unternimmt die Hamburgische Architektenkammer mit einer Konferenz zu Werk und Wirkungsgeschichte von Peter Behrens (1868–1940). Der aus Hamburg gebürtige Architekt und Pionier der industriellen Formgebung prägte die internationale Moderne allein schon dadurch, dass in seinem Atelier Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe und Le Corbusier als junge Mitarbeiter ein und aus gingen. Einer wesentlich umstritteneren Hamburger Persönlichkeit nähern sich eine Publikation und ein Symposium: dem international agierenden Architekten und Innenraumgestalter Cäsar Pinnau (1906 bis 1988). Er entwarf für die Reichen und Mächtigen dieser Welt Bürobauten, Villen und luxuriöse Jachten, so für Aristoteles Onassis. Einer Aufarbeitung stand bisher sein exponiertes Schaffen unter dem Nationalsozialismus entgegen, die Raumgestaltung der Reichskanzlei und seine Beteiligung an den gigantomanischen Planungen für die «Welthauptstadt Berlin» unter Albert Speer.

 (Bild: Ernst Scheel / Petra Vorreiter)

(Bild: Ernst Scheel / Petra Vorreiter)

Das «neue Sehen» von Ernst Scheel

Auch der Industrie- und Architekturfotograf Ernst Scheel (1903–1986) hat in Hamburg vor, unter und nach dem Nationalsozialismus gearbeitet. Sein Nachkriegswerk galt – vielleicht aufgrund dieser Biografie – lange Zeit als künstlerisch eher unbedeutend, sein Archiv als verloren. Eine Revision des «ganzen Ernst Scheel» gelang erst, als seine Tochter 2012 im Keller des elterlichen Wohnhauses unvermutet auf 8000 Abzüge und 5000 Glasnegative stiess. In zweijähriger Sichtung hat daraus der Architekturforscher Hans Bunge für die Freie Akademie der Künste eine Ausstellung mit 90 Vintage-Prints, 11 grossflächigen Reproduktionen, so, wie sie Scheel in den 1920er Jahren für eigene Kunstausstellungen angelegt hatte, und einen Werkkatalog kompiliert. Unverkennbar, dass Scheels Bildsprache geprägt ist vom «neuen Sehen» dieser Jahre. Die apparative Objektivität der Fotografie erweiterten damals Protagonisten wie Albert Renger-Patzsch oder László Moholy-Nagy um neuartige, interpretierende Sichtweisen. Nicht nur die ganzheitlich sachliche Dokumentation, auch isolierte Details oder abstrahierte Strukturen lieferten fortan Bild-Ereignisse.

Seine ästhetische Kraft konnte Scheel über den Nationalsozialismus retten. Nach dem Krieg wurde Scheel zum Chronisten des Wiederaufbaus und seiner bedeutenden Bauten. Er fotografierte sie souverän und in künstlerischer Freiheit, etwa den nächtlich in Szene gesetzten Rohbau des Audimax der Universität. Die Grossmarkthalle, die Grindelhochhäuser oder die Betonspirale im Parkhaus Roedingsmarkt destillierte Scheel zu einem spezifisch hamburgischen Bau-Charakter. Es ist dieser hanseatische Geist, der den gegenwärtigen Allerweltsarchitekturen mitunter schmerzlich fehlt.

Die Ausstellung Ernst Scheel in der Freien Akademie der Künste Hamburg dauert bis zum 5. Juli. Katalog: Ernst Scheel. Fotograf. 1903–1986. Hrsg. Hans Bunge und Ullrich Schwarz. Verlag Dölling und Galitz, Hamburg 2015. 256 S., € 39.90.