Architektur des langen Atems

Vor vier Jahren stieg Eduardo Souto de Moura dank dem Pritzkerpreis in die Spitzenriege der Architektur auf. In seinem Werk verbinden sich regionale Traditionen mit einer globalen Architektursprache.

Paul Andreas
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Überraschend neu interpretierte Bautypologie – das für die Europameisterschaften 2004 von Eduardo Souto de Moura in der nordportugiesischen Stadt Braga errichtete Fussballstadion. (Bild: Luis Ferreira Alves)

Überraschend neu interpretierte Bautypologie – das für die Europameisterschaften 2004 von Eduardo Souto de Moura in der nordportugiesischen Stadt Braga errichtete Fussballstadion. (Bild: Luis Ferreira Alves)

Viele Ausstellungen hat der von Álvaro Siza entworfene Pavillon auf der ehemaligen Nato-Raketenstation Hombroich seit seiner Eröffnung 2009 noch nicht erlebt. Statt Wechselausstellungen gibt es hier alle paar Jahre «Injektionen», die den thematischen Bogen zum Gebäude und zu seinem besonderen landschaftlichen Kultur-Natur-Kontext spannen: Nach einer grossen Siza-Werkretrospektive (NZZ 15. 9. 11) werden die Räumlichkeiten, die sich mit einem Innenhof auf die umliegende renaturierte Wiesenlandschaft öffnen, in diesem Sommer mit Modellen, Fotografien und Zeichnungen Eduardo Souto de Mouras «bespielt» – eines Schülers, engen Freundes und Kollegen Sizas. Die aus einer Studienreise des Düsseldorfer Bundes Deutscher Architekten (BDA) hervorgegangene Ausstellung konzentriert sich auf vierzehn Projekte des heute 63-jährigen Architekten, der wie Siza mit Porto und dem Norden Portugals fest verwurzelt ist. Im Fokus der Werkschau, die von einem umfangreichen, mit Skizzen und Plänen illustrierten Katalog begleitet wird, steht die Entwicklung des Architekten im Laufe von über 35 Jahren – von den allerersten, noch zaghaften Umbauten bis hin zu komplexen, eher in Sphären des Verborgenen und Anonymen agierenden Infrastrukturprojekten.

Architektur als Spurenaktualisierung

Die zyklopische, von samtigem Moos überzogene Steinmauer, die der Strasse folgt, lässt einen beim Vorbeigehen kaum ahnen, dass sie die Rückfassade eines kleinen Wochenenddomizils ist, das der spätere

Pritzkerpreisträger

Eduardo Souto de Moura 1982 im portugiesischen Nationalpark Peneda-Gerês realisierte. In einer Zeit, in der die Postmoderne dabei war, sich der Geschichte zu vergewissern, und dabei schnell in eine zitierfreudige Geschwätzigkeit verfiel, entdeckt der junge Absolvent der Architekturfakultät von Porto die stummen Ruinen alter, anonymer Bebauungen für seine Architektur: Eine filigrane Glasfassade schliesst den kaum zimmergrossen Raum zwischen den massigen Mauerresten eines ehemaligen Speichers ab und eröffnet einen Panoramablick auf ein nahes Flusstal. Eine Rundstütze trägt dabei nicht nur das von der Strasse aus komplett unsichtbare Flachdach – sie deutet auch diskret an, dass hier nicht nur ein Unterschlupf, sondern Architektur entstanden ist – Architektur, die trotz ihrer modernen Machart andockt an alte regionale Traditionen.

Ein feines minimalistisches Raster verleiht dem 2007 nach Plänen von Eduardo Souto de Moura realisierten Burgo Tower in Porto eine geradezu monumentale Attitüde. (Bild: Luis Ferreira Alves)

Ein feines minimalistisches Raster verleiht dem 2007 nach Plänen von Eduardo Souto de Moura realisierten Burgo Tower in Porto eine geradezu monumentale Attitüde. (Bild: Luis Ferreira Alves)

Dass von dieser «Urhütte» heute selbst wiederum nur noch Ruinen übrig sind, würde viele Architekten betrüben – anders Souto de Moura: Die Bilder, die sein Lieblingsfotograf Luis Ferreira Alves eigens für die Ausstellung von seinem Pionierprojekt angefertigt hat, unterstreichen ungeschönt die Weltsicht des Architekten: Alles, was den natürlichen Bestand ergänzt, darf von der Natur auch wieder genommen oder von kommenden Generationen wiederentdeckt, neu angeeignet und weiter genutzt werden. Genau diesen Verlauf nimmt geradezu idealtypisch Souto de Mouras städtische Markthalle in Braga: Ab 1980 entsteht am ausgefransten Stadtrand auf dem Grundstück eines alten Gutshofes eine langgestreckte Zeile von Verkaufsständen, die aus kaum mehr als einer Reihung von Doppelstützen mit darübergelegter Dachscheibe und flankierenden Wänden besteht, die als Putz-, Glas- oder Mauerwerksfassade mit grossen, römisch anmutenden Quadern materialisiert sind. Zwanzig Jahre später kann Souto de Moura den Bürgermeister von Braga überzeugen, die leerstehende Anlage vor dem Totalabriss zu bewahren: Die Stützen werden von ihrem Dach befreit, hinter den Wandscheiben entstehen – jeweils um einen Innenhof gelagert – eine Musik- und eine Tanzschule. Die von der Natur zurückeroberte Ladenstrasse verbindet die Einrichtungen miteinander: Durch ihre axiale Ausrichtung und die Stützenrelikte wird sie flexibel zur säulengerahmten städtischen Promenade umgedeutet. Gerade in diesem Projekt zeigt sich, wie sehr Souto de Moura damals Aldo Rossis Theorien verpflichtet war: Wenige einfache, ja archetypisch vorgezeichnete Elemente und die Vorstellung von der Stadt als Palimpsest bestimmen seine Arbeiten.

Basierend auf dem frühen Weiterbauen von Ruinen, finden traditionelle, im steinigen Nordportugal verwurzelte Mauerwerktechniken in Souto de Mouras gläserne, entmaterialisierte Bauten Einlass. Meist sind es Blindmauern, ohne Fenster und Türstürze – Öffnungen bereiteten dem Architekten anfangs grosses Kopfzerbrechen, denn die Mauerstärken sind aus bauökonomischen Gründen deutlich geringer, als es die Tradition vorsieht. Erst bei der fast ein Jahrzehnt andauernden Transformation des ehemaligen Klosters von Santa Maria de Bouro in ein Luxushotel stimmen die Rahmenbedingungen: Mit subtiler Radikalität ergänzt Souto de Moura hier zwischen 1989 und 1997 den verfallenen Denkmalbestand um einen ganzen Gebäudeflügel aus massiven Steinmauern und schneidet Fensteröffnungen mit Gesimsen hinein. Allein ihre Verglasung ohne Fensterrahmung deutet ihre späte Herkunft an.

Zehn Jahre später entsteht in Tavira in der Algarve ein vergleichbares Projekt, bei dem sich die Grenzen zwischen Moderne und Tradition noch ein Stück weiter verwischen: Ein heterogener Klosterkomplex, der zuletzt als Fabrik genutzt wurde, wird in Wohnungen umgewandelt – die Leerstellen, die sich in der Kubatur der Vierflügelanlage auftun, werden wieder geschlossen, in gleicher Materialität wie der Bestand. Ein traufenloses Pultdach betont die monumentalen, in hellem Beige gekalkten Gebäudemauern, die den Innenhof samt einem flachen, azurblau das Sonnenlicht reflektierenden Wasserbassin rahmen. Die eingeschnittenen alten und neuen Öffnungen kreieren durch ihre unterschiedlichen Formate und Laibungswinkel ein plastisches Spiel, das an die Fensteröffnungen in Le Corbusiers Kapelle von Ronchamp denken lässt. Was dort in Beton ausgeführt wurde, materialisiert sich bei Souto de Moura allerdings in massiven Haussteinmauern: Bestand und zeitgenössische Ergänzung kontrastieren nicht kritisch, sondern verbinden sich minimalistisch zu einer gemeinsamen baulichen Kontinuität.

Zum Park hin tritt das 1991 vollendete Kulturzentrum Casa das Artes (S.E.C.) von Eduardo Souto de Moura in Porto als zyklopische, nur durch ein gläsernes Fensterelement unterbrochene Granitmauer in Erscheinung. (Bild: Luis Ferreira Alves)

Zum Park hin tritt das 1991 vollendete Kulturzentrum Casa das Artes (S.E.C.) von Eduardo Souto de Moura in Porto als zyklopische, nur durch ein gläsernes Fensterelement unterbrochene Granitmauer in Erscheinung. (Bild: Luis Ferreira Alves)

Nach zwei Jahrzehnten, in denen er vor allem kleinere Hausprojekte vorantrieb, wandte sich Souto de Moura um die Jahrtausendwende verstärkt nationalen und internationalen Grossprojekten zu. Vor allem mit Sichtbeton entfaltet er elementare, monumentale Wirkungen – etwa beim 2003 vollendeten Fussballstadion von Braga: Die zweiflügelige, 40 Meter hohe Tribünenanlage wurde so nah an einen felsigen Steilhang gerückt, dass der Bau wie ein in die Landschaft eingebettetes antikes Amphitheater wirkt. Das Trümmergestein, das nach den Sprengungen zurückblieb, wurde zerkleinert und floss in die Produktion des lokalen Ortbetons ein. Ortsspezifische Zusätze erfuhr auch der Sichtbeton, den der Architekt für das «Haus der Geschichten der Malerin Paula Rêgo» im Badeort Cascais bei Lissabon verwendete: Die lachsrote Einfärbung lässt das zeitgenössische Kunstmuseum wie eine utopische Insel inmitten des immergrünen Parks erscheinen. Die Komposition aus unterschiedlich grossen Kuben und einer an den Spitzen gekappten Doppelpyramide erzeugt eine kleine Stadt in der Stadt. Deutlich zurückhaltender gebiert sich demgegenüber das Krematorium «Uitzicht», das Souto de Moura 2011 im westflämischen Kortrijk zusammen mit dem belgischen Büro Sum Project vollendete: Von der Strasse aus gesehen ist die Anlage kaum mehr als eine Brüstungsmauer aus feingeschliffenem Sichtbeton, hinter der sich eine Wiesenlandschaft ausbreitet. Allein der skulptural angeschnittene Schornstein gibt einen Hinweis auf die eigentliche Gebäudefunktion. Eine horizontale Passage, die aus fein proportioniertem Beton gegossen wurde, führt den Besucher hinab zu den verschiedenen Räumlichkeiten, die den Blick je nach Situation konzentrieren oder in die gleichsam physisch wie metaphysisch wirkende Weite der Landschaft lenken.

Es sind diese mit der Topografie eng verwobenen, herausragend proportionierten Bauwerke, in denen man die Kraft von Souto de Mouras Architektur am stärksten spürt. Landmarken, wie er sie in jüngster Zeit mit dem Burgo-Tower in Porto und dem Pallaresa-Komplex in Barcelona realisiert hat, wirken in ihren von Mies van der Rohe inspirierten, extrem präzise ausgeführten Strukturen nicht minder reduziert und kraftvoll-monumental, ihnen fehlt aber doch die enge, innere Verknüpfung mit der Topografie des Ortes, die sich vielleicht doch am besten in der Horizontale beweisen lässt.

Kultur und Natur

Eine menschengemachte Mischung aus Kultur und Natur verspricht die Kraftwerksanlage des Staudamms von Foz Tua zu werden, die der Architekt derzeit im Weingebiet am Oberen Douro realisiert: Vor der Kulisse eines bewaldeten Steilhanges verbannt er alles, was normalerweise Gebäude ist, in den Untergrund. Allein die Transformatoren und Umspannanlagen «tischt» er auf einer gewaltigen, in den Hang hineingeschnittenen Plattform auf – anstatt die Erdmassen mit den üblichen Betonmauern abzustützen, setzt Souto de Moura auf die sanfte Kraft von Felsankern und auf die den Untergrund festigenden Olivenbäume. Wenn alles fertig ist, sollen nur noch riesige Maschinen in der Landschaft stehen – die Architektur als das materialisierte Werk eines Baukünstlers wird dann mit blossem Auge kaum noch identifizierbar sein. Sie erreicht den quasinatürlichen Zustand, bei dem formale Handschrift und Autorschaft nicht mehr viel zählen. Ist es nur philosophische Spekulation, oder ist Eduardo Souto de Mouras Architektur damit nicht auch selbst zur namenlosen Ruine geworden?

Bis 23. August (www.inselhombroich.de). Katalog: Eduardo Souto de Moura. 1980–2015 (dt., engl.). Hrsg. Stiftung Insel Hombroich und Bund Deutscher Architekten (BDA), 2015. 320 S., € 35.–.