Mit dem Fahrstuhl in die Vergangenheit

In Lübeck hat der Hamburger Architekt Andreas Heller das Areal des Burgklosters restauriert und um den Neubau des Hansemuseums ergänzt. Der Komplex bildet ein wichtiges Stück Lübecker Stadtreparatur.

Jürgen Tietz
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Der Zusammenklang von Alt und Neu harmoniert auch dank den Materialien. (Bild: Werner Huthmacher)

Der Zusammenklang von Alt und Neu harmoniert auch dank den Materialien. (Bild: Werner Huthmacher)

Nicht erst heute nehmen grosse Handelskonzerne Einfluss auf das Erscheinungsbild von Stadt und Architektur. Das galt bereits für die mittelalterliche Kaufmannsvereinigung der Hanse. Ausgehend von der 1143 am Ufer der Trave gegründeten Stadt Lübeck baute sie – mit ihren als Koggen bezeichneten Segelschiffen die Meere erobernd – ein gewaltiges ökonomisches Imperium auf. In seiner Blütezeit erstreckte es sich rund um die Ostsee und hatte Niederlassungen in Bergen, Nowgorod und sogar in Britanniens Metropole London. So entwickelte sich die Hanse zu einem gesamtnordeuropäischen Phänomen. Zwar sind Handelsvereinigung und Städtebund der Hanse heute Geschichte. Doch ihre Grandezza lebt in den Namen der Hansestädte ebenso fort wie in den grossartigen Backsteinbauten, die sie hinterlassen hat – aber auch im weltgewandten Understatement der geschäftstüchtig auftretenden Hanseaten.

Stadträumliche Intervention

Das Hamburger Studio Andreas Heller Architects, das bereits das Erlebnismuseum Deutsches Auswandererhaus in Bremerhaven gestaltet hat, stand beim Museumsneubau am Hang des Lübecker Burgklosters vor einer doppelten Herausforderung. Es musste nicht nur den Museumsneubau verwirklichen, der sich nun mit ziegelschöner Fassade vor den Hang des Burgklosters schmiegt und so zwischen dem Ufer der Trave und den höher gelegenen historischen Bauten des Lübecker Burgklosters vermittelt. Heller kam darüber hinaus die Aufgabe zu, dem historisch bedeutenden Quartier städtebaulich frisches Leben einzuhauchen – ähnlich wie es die Stadt derzeit auch bei dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Gründungsviertel versucht. Im Lauf der Jahrhunderte haben dort die Nutzungen als Burg-, Dominikanerkloster-, Schul- und Gerichtsareal ihre Geschichtsspuren hinterlassen. Heller entschied sich dafür, die historischen Bauten von ihren bisherigen Nutzungen freizuräumen, um sie nach der Restaurierung für sich selbst sprechen zu lassen. Zudem führte er einen öffentlichen Weg durch das Gelände und fügte eine architektonische Lesehilfe ein: Mit dunklen Streifen zeichnet er auf weissem Betonboden Grundriss und Gewölbebögen der bereits im 19. Jahrhundert abgebrochenen Maria-Magdalenen-Kirche des einstigen Dominikanerklosters nach. Aufwendige Bronzetore, die mit ihrem eigens als Dekor entwickelten abstrakten Zeichencode auf lateinische Inschriften verweisen, sollen die erhaltenen Seitenkapellen schützen. Ein wenig artifiziell greifen hier erhaltene historische Bausubstanz und ihre moderne Interpretation ineinander, während sich gleich dahinter eine Aussichtsterrasse öffnet, mit wunderbarem Blick auf Fluss und Stadt.

Ungewöhnlich ist nicht nur die Komplexität des Ortes mit seinen sich überlagernden Zeitschichten, sondern auch die Entstehungsgeschichte des 50 Millionen Euro teuren Museums. Allein 40 Millionen hat die Lübecker Possehl-Stiftung aufgebracht. Unter Hellers Regie entstanden sowohl die Architektur- und Ausstellungsgestaltung des Europäischen Hansemuseums als auch dessen inhaltliche Konzeption. Auf sie konnte die neue Direktorin Lisa Kosok keinen Einfluss mehr ausüben, als sie kurz vor Fertigstellung im vergangenen Frühling vom Hamburg-Museum nach Lübeck wechselte.

Eine Treppe durchmisst den Neubau und verbindet so das Ufer der Trave mit dem Burgberg. Auf halber Strecke zweigt der Zugang ins Museum ab. Hinter dem Ticketverkauf und dem heute obligatorischen Museumsladen kann man dann in langsamer Fahrt mit einem Lift in die Tiefen der Hansewelt abtauchen – vorbei an Brunnen, mittelalterlicher Kloake und moderner, der Hangsicherung dienender Bohrpfahlwand. Ein Weg führt die Besucher dann durch das vom Museum umschlossene Grabungsareal am Traveufer. Historisch reichen die Befunde bis zu den slawischen Ursprüngen der Lübecker Siedlungsgeschichte im 9. Jahrhundert zurück und eröffnen einen faszinierenden Blick auf die Zeitschichten.

Hanseatische Inszenierung

Diesem ganz besonderen Lübecker Realienraum folgt ein inszenierter Ausstellungsraum. Staunend steht man im dämmerigen Licht, lauscht der dramatischen Geräuschkulisse, während sich hinter dem künstlichen Uferschilf das Segel einer an die Anfänge der Hanse erinnernden Kogge am Ufer der Newa erhebt. Es durchsticht die Betondecke und dient so auch im Café der höher gelegenen Eingangsebene als Blickfang. Solche postmodern inszenierten Erlebniswelten im Stile eines begehbaren Dioramas dürften musealen Puristen allerdings Sorgen bereiten. Diesen effektvollen Stimmungsbildern stellt Heller grossformatige, multimedial aufgerüstete Informationswände zur Seite. Sie versorgen die Besucher mit Informationen zur Geschichte der Hanse.

Wie Momentaufnahmen werfen Hellers bühnenbildartige Rauminszenierungen Schlaglichter auf ausgewählte Kapitel der Hanse. Das reicht von der mittelalterlichen Stadtentwicklung Lübecks (1226) über den Schwarzen Tod (1367) zur Rolle der Handelsmetropole London mit dem Stalhof der Hanse am Themseufer, der als Handelsvertretung vom 15. bis zum 19. Jahrhundert im Besitz der Hansestädte blieb. Dabei spielt Heller in seiner musealen Blackbox mit dem Bemühen um grösstmögliche Annäherung an die fiktionale Realität – von den verstreut herumliegenden toten Ratten im Pestkapitel bis hin zum Bartwuchs auf den Wangen jener Gruppe von Dominikanermönchen, die das Kapitel Glaube und Religion (1517) illustrieren. Zwischen diese Räume einer hanseatischen Mimikry schiebt Heller kleinere Gelenkräume. Dort wird anhand originaler Fundstücke und Dokumente, bei denen es sich vielfach um Leihgaben handelt, die Geschichte der Hanse auf einer zweiten, «konventionellen» Ebene erzählt. So bietet das neue Europäische Hansemuseum nicht nur eine Annäherung an den europäischen Handelsbund. Es steht zugleich für das bildmächtige Museumskonzept einer Geschichtsdarstellung im Zeitalter ihrer szenografischen Reproduzierbarkeit.