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Der Mann hinter der runden Brille
Der Standard

Le Corbusier ist einer der bedeutendsten Baukünstler des 20. Jahrhunderts. Am 27. August jährt sich sein 50. Todestag. Ein Rückblick auf das teils großartige, teils beängstigende Schaffen des Schweizer Architekten und Stadtplaners

22. August 2015 - Wojciech Czaja, Maik Novotny
Pro: Ein Philosoph des Wohnens
von Wojciech Czaja

Stundenlang könnte man an die Fassade starren, das Gelb-Rot-Blau des Betons studieren, die Unregelmäßigkeiten in der Regelmäßigkeit erkunden, und niemals wird man das Haus in seiner Gänze bis zum letzten Millimeter begriffen haben. Hinter der 138 Meter langen Unité d'Habitation in Marseille, einer von insgesamt fünf Wohnmaschinen, die Le Corbusier in den Jahren zwischen 1947 und 1967 geplant hat, verbirgt sich nicht nur eine halbe Kleinstadt mit 337 Wohnungen, Kindergarten, Hotel und diversen Geschäften, sondern auch ein vollkommen neues Wohnmodell, das trotz Serienproduktion und hohen Vorfertigungsgrades bis heute maximalen Wohnkomfort für die breite Masse bietet.

„Ich liebe es, hier zu wohnen“, sagt eine alte Dame, eine der wenigen noch lebenden, allerersten Mieterinnen im Haus. „Die Lebensqualität in diesen vier Wänden ist mit nichts vergleichbar, was heute im Bereich des sozialen Wohnbaus auf den Markt geworfen wird. Am 14. Oktober 1952 habe ich den Schlüssel entgegengenommen, und selbst nach all diesen Jahrzehnten merkt man, wie intelligent und wie emotional Le Corbusier diese Wohnungen entworfen hat. Ich führe Sie gerne durch, aber bitte drucken Sie meinen Namen nicht ab, sonst läuten wieder so viele Leute an und fragen, ob sie sich als Nachmieter auf die Liste setzen dürfen. Ich will ja noch ein paar Jahre weiterleben.“

Hinunter in den dritten Stock. Hotel Le Corbusier. Die Zeit scheint hier stehen geblieben. Das Mobiliar ist noch wie von Charles-Édouard Jeanneret-Gris, wie der Architekt mit seiner unverwechselbaren Rundbrille mit bürgerlichem Namen hieß, aufs Papier gezeichnet. Hochglanzparkett und Kunststoffboden zu Füßen. Ja, das lässt sich kombinieren. An der Decke prangen Holzdielen, mal längs, mal quer in den Beton geschraubt. Dazwischen offenbart sich ein kontrastreicher Möbelreigen, perfekt konserviert aus den Fünfzigerjahren.

„Jedes noch so kleine Detail hier versprüht Leidenschaft und Geschichte in einer Art und Weise, wie sie heute nur noch selten zu finden ist“, meint Alban Gérardin, der das Hotel Le Corbusier im dritten, vierten und achten Stock gemeinsam mit seiner Frau Dominique leitet. 21 Zimmer und Suiten gibt es insgesamt. „Auch in den Zimmern haben wir uns sehr bemüht, den Geist Le Corbusiers weiterleben zu lassen. Manche können es kaum glauben, dass die Räume noch im Originalzustand erhalten sind.“ Obligates Stück, das in keinem der Zimmer fehlen darf: die Stahlrohrliege LC4, entworfen vom Meister höchstpersönlich.

Die Unités d'Habitation in Marseille, Rezé, Briey, Firminy und Berlin (von Letzterer distanzierte sich Le Corbusier nach Fertigstellung, da der Bau anders ausgeführt wurde als geplant) sind mehr als nur Wohnhäuser. Mit ihren durchgesteckten Maisonette-Wohnungen, mit ihren zweigeschoßigen Lufträumen und vor allem mit ihrem Modulor-Maß von 2,26 Meter Raumhöhe, basierend auf einem von Le Corbusier definierten Normmenschen mit ausgestrecktem Arm, haben den Wohnbau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt.

Le Corbusiers architektonischer und programmatischer Mut war eine Art Turbo-Boost der Moderne. Der unbeugsame Weitblick des strengen Schweizers, der in Europa, Russland, Tunesien, Indien, Brasilien, Argentinien und in den USA unzählige Wohn-, Büro- und Kulturbauten realisierte, würde der heutigen Baukultur guttun.


Kontra: Ein Feind der Stadt
von Maik Novotny

Nichts gegen Schweizer Kleinstädte! Und, ja, das Werk eines Menschen aus dessen Geburtsort zu erklären ist vermessen. Aber betrachtet man das urbanistische Werk von Le Corbusier, geboren 1887 im Uhrmacherstädtchen La-Chaux-de-Fonds, kann man den Verdacht nicht abschütteln, dass den Architekten die innere Provinz nie so ganz verlassen hat.

Nun waren in den 1920ern hochfliegende Visionen neuer Millionenstädte keine Seltenheit. Dem tuberkuloseverseuchten Elend der Altstadtslums und Gründerzeitbauten galt es zu entkommen: Licht, Luft und Sonne, Metropolen der Hygiene und Vernunft! Doch keiner der Kollegen begegnete der Großstadt und ihrer jahrtausendealten Geschichte mit solch hasserfüllter Verachtung wie Corbusier. Im Text zu seinem berühmten „Plan Voisin“, der 1925 das alte Paris mit einem Raster aus Wolkenkratzern ersetzen sollte, ereiferte er sich über die Straßen der damaligen Städte. Unterschiedlich aussehende Häuser, wie unästhetisch! Die Enge, der Lärm, all die anderen Menschen, unerträglich! New Yorks Straßenschluchten? „Schreckliche Albträume!“ Nur ein visionäres Genie könne hier den Ausweg finden: gerasterte Glasfassaden, dazwischen grün wogende Landschaften und Stadtautobahnen für die kommende Ära des Automobils. Alles schön sauber und ordentlich, wie eine ins Monströse skalierte Schweizer Kleinstadt. Die Stadt als Widerspruch und Konfrontation, als Verdichtung baulichen und kulturellen Schaffens blieb Le Corbusier sein Leben lang fremd.

Vom Plan Voisin ist Paris bekannterweise verschont geblieben, doch das Erbe Le Corbusiers eroberte bald die Welt. Das moderne Stadtlabyrinth in Jacques Tatis Film Playtime (1967), in dem sich Paris und London nur noch durch einsame Wahrzeichen wie Triumphbogen und Big Ben in einem Meer aus immergleichen Spiegelfassaden unterscheiden, war von der Realität nicht weit entfernt.

Man würde Corbusier seine der damaligen Zeit entsprungenen Visionen eher nachsehen, hätte er sie und sich nicht mit solchem Nachdruck inszeniert, vom Künstlernamen über die Branding-Brille bis zur penibel kontrollierten Dokumention des Schaffens. Arroganz, Besserwissertum und Opportunismus (seine unrühmliche Rolle im Vichy-Regime wurde erst in den letzten Jahren beleuchtet) – bis heute kämpfen Architekten mit diesen Vorurteilen, die ihnen der ikonische Schweizer eingehandelt hat. Selbst posthum ist die Inszenierung noch erfolgreich: Scharen von ergebenen Corbusier-Jüngern und die Fondation Corbusier achten darauf, dass das Denkmal des Architektengenies nur ja keinen Kratzer abbekommt.

Den Rang im Pantheon hat Le Corbusier verdient, Bauten wie die Villa Savoye (1931) und das Kloster Sainte-Marie-de-la-Tourette (1960) sind zeitlose Meisterwerke, die die Architektur ins 20. Jahrhundert katapultierten, und das Innere der Kapelle in Ronchamp (1955) bietet eines der ergreifendsten Raumerlebnisse, die man überhaupt haben kann.

Doch es ist kein Zufall, dass all diese Bauten mitten im Grünen entstanden und sich selbst seine Wohnmaschinen nur an die Stadtränder von Berlin und Marseille vorwagten: Die sich ihm zum Trotz nicht unterkriegen lassende chaotische Stadt blieb ihm immer suspekt. Besiegen konnte er sie nicht.

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