Bändigung des Sammelspleens

Eine von Martino Gamper im Museion Bozen eingerichtete Ausstellung widmet sich dem Regal. Beleuchtet wird dabei die konstruktive Wechselwirkung zwischen Sammeln und schöpferischem Gestalten.

Gabriele Detterer
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Maki Suzuki und Martino Gamper: «Together Library», 2007. (Bild: Luca Meneghel)

Maki Suzuki und Martino Gamper: «Together Library», 2007. (Bild: Luca Meneghel)

Der Impuls, Gegenstände aufzubewahren, die eine emotionale Bedeutung haben, animiert uns dazu, persönliche Sammlungen zusammenzustellen und zu erweitern. Das kann systematisch erfolgen, aber auch zufallsbestimmt, und kann, wenn die Sammellust überhandnimmt, zu einer chaotischen Anhäufung von Objekten führen. Sobald die Menge an Gesammeltem ausufert, Bücherberge in die Höhe wachsen und im Regal kein Zentimeter Platz mehr vorhanden ist, signalisiert das Bedürfnis nach Übersicht, dass etwas geschehen muss. Dies veranschaulicht der aus Südtirol stammende Designer Martino Gamper an einer Menge von Design-Büchern und Katalogen. Diese placierte er in der von ihm selbst kuratierten Wanderausstellung «Design is a state of mind», die, von London kommend, nun im Museion Bozen zu sehen ist, auf von ihm entworfenen Tischen. Frei im Raum aufgestellt und an den Wänden montiert, finden sich zudem rund dreissig Regale, die seit den 1930er Jahren von grossen Designern entworfen wurden.

Das Design aus dem Bauch

Das ungeordnete Chaos der sich auf den Tischen stapelnden Publikationen hebt einerseits die Ordnungsfunktion der Regale heraus und soll andererseits einen für das Design-Denken offenen Geisteszustand fördern. Dieser schöpft aus dem Unsystematischen und dem Zufall neue Inspiration für Kreatives. Genau das trifft auf die Haltung zu, mit der Gamper an Gestaltungsaufgaben herangeht: «Manchmal sollte Design aus dem Bauch heraus kommen», sagt der 1971 in Meran geborene und in London arbeitende Designer, und: «Spontaneität ist wichtig für mich, aber auch die Freiheit, meinen Instinkten zu folgen.»

Ein Ergebnis dieser gefühlsbetonten Art, an die Formgestaltung heranzugehen, steht in Reichweite des Bücher-Chaos: das bogenförmige, in Regenbogenfarben leuchtende Regal «L'Arco della Pace» (2009). Hier könnte man einige Bücher unterbringen, aber auch in Ron Arads freistehendem, radförmigem Möbel «R.T.W.» von 1996 wäre Platz frei. Der Ordnungshelfer «Max» (1987), ein Regal von Ettore Sottsass im besten Memphis-Stil, oder die einfachen, formschönen Wandregale, die Alvar Aalto 1936 erfand, sind hingegen schon gefüllt mit Objekten. Auf Aaltos Birkenholz-Ablagebrettern stehen Schalen aus der Sammlung von Fabien Cappello, und «Max» trägt Raritäten – einen Zulu-Hut aus Südafrika, eine englische Peitsche (1905) und weitere Merkwürdigkeiten – aus dem Fundus von Jane und Charles Dillon.

Vom Klassiker zum Kultobjekt

Martino Gamper hatte die Idee, Regal-Design des 20. Jahrhunderts mit seinen eigenen originellen Entwürfen und zusätzlich mit Gegenständen, die mit ihm befreundete Designer und Künstler sammeln, zu verknüpfen. Die Sammlerstücke sind mehr als nur dekoratives Beiwerk. Sie offenbaren eine individuell gelebte Kulturtechnik, die viel Phantasie freisetzt, wobei diese durch Regalsysteme in eine wenn auch lose Ordnung gezwungen wird.

Mats Theselius stellt auf den an Seilen aufgehängten Regalböden des legendären «Veliero» von Franco Albini (1940) blankpolierte Kochtöpfe aus. Die Schallplattensammlung des Grafik-Designers Paul Neale füllt ein 1976 entworfenes und 2014 wieder neu herausgegebenes Ikea-Regal; und im zeitlos ästhetischen USM-System von Paul Schärer und Fritz Haller liegt ein Sammelsurium an «Plastik-Phantasien» von Bethan Wood.

Die Regalklassiker sind flexibel konzipiert und für viele Raumsituationen verwendbar, wie z. B. das von Dieter Rams gestaltete «Regalsystem 606» (1960) oder Osvaldo Borsanis Leichtbauregal mit eingehängtem Schreibtisch (1947–1955). Den genormten Regalsystemen stellt Gamper ausgefallene Einzelstücke gegenüber. Der von ihm gestaltete «Robot Chair» (2008) besteht aus aufgetürmten Kisten und Kasten. Die ebenfalls dem menschlichen Körper nachempfundene Form von Gaetano Pesces «Nobody's Shelves Short Body» (2002) geht auf Distanz zu modularen Regalsystemen und wird selbst zum kultigen Sammlerstück.

Kreative Wechselwirkung

Deutlich zum Ausdruck bringt Gampers Bozner Ausstellung Unterschiede von Gestaltungsansätzen im Wandel der Zeit. Die Ästhetik der Regalklassiker bewahrt die Maxime der Moderne, «Design is Function». Diesem Ziel eiferten vor allem Architekten nach – auch der grosse Ignazio Gardella, dessen «Scaffale» (1970) aus einer Minimal-Struktur besteht.

Gamper, ein «Enkel» jener Designer-Generation, hingegen setzt industriell gefertigten Modulsystemen ein gefühlsbetontes, an der Schnittstelle von Kunst und Design positioniertes Formendenken entgegen. In diesem Punkt deckt sich sein von Zufall und Instinkt geleiteter, antitechnizistischer Gestaltungsansatz mit der Tätigkeit des Sammelns, die sich dem Perfekten im Sinne von «vollendet» und «abgeschlossen» entzieht. Wie eine Sammlung frei und phantasievoll wuchernd erscheint auch die von Gamper 2003 entworfene «Together Library».

Die Botschaft der Parallelschau von Regal-Design und individueller Sammellust lautet also, dass die Wechselwirkung zwischen dem Zusammentragen und dem Aufbewahren von Dingen und dem schöpferischen Gestalten überaus konstruktiv ist. Als Sammel-Freak outete sich Gamper bereits 2007, als er «100 Stühle in 100 Tagen», wie der Titel seiner Arbeit zugleich lautete, aus zerlegten Stühlen neu zusammensetzte. Die Menge vielgestaltiger Sitzmöbel, die so entstand, vereinte Sammelspleen und die Freude, aus Fundstücken eine «nicht perfekte» Formgestalt zu kreieren. Um die 100-Stühle-Kollektion zu zeigen, würde man aber bestimmt ein Hochregal-System brauchen.

Bis 13. September. Katalog: Martino Gamper. Design is a state of mind. Koenig Books, London. 83 S., € 15.–. – In der Ausstellung liegt ausserdem ein Gratis-Beiheft auf.