Loungeboulevard und Verkehrsboulevard

Mit dem Stadtumbau unter Napoleon III. wurde Paris zum städtebaulichen Vorbild. Seine Boulevards beeinflussten vor 150 Jahren auch die Gestaltung der beiden wichtigsten Strassen in Zürich und Wien.

Harald R. Stühlinger
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Der Paradeplatz an der Zürcher Bahnhofstrasse, dem zugeschütteten ehemaligen Fröschengraben. Um 1940. (Bild: Photopress / Keystone)

Der Paradeplatz an der Zürcher Bahnhofstrasse, dem zugeschütteten ehemaligen Fröschengraben. Um 1940. (Bild: Photopress / Keystone)

Die Umbauarbeiten in Paris, die von Napoleon III. diktiert und von Georges-Eugène Haussmann ausgeführt wurden, sind nur eine Episode in der bemerkenswerten Baugeschichte der Stadt an der Seine. Schon 1670 begann man die Stadtmauern zu demolieren und an ihrer Statt Promenaden anzulegen, die man, als sie später zu Strassen umgewandelt wurden, mit dem aus dem Festungsjargon übernommenen Begriff Boulevard bezeichnete. Im Second Empire wurden dann Avenuen und Strassen durch das bestehende Stadtgebiet geschlagen, um dem Repräsentationsbedürfnis des Bürgertums, den militärischen sowie den ökonomischen Anforderungen der Zeit Rechnung zu tragen. Walter Benjamin, der Paris als die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts apostrophierte, war sich deren Rolle bewusst, und die Ausstrahlung, die von der pulsierenden Kapitale Frankreichs ausging, kann nicht gross genug veranschlagt werden. Doch nicht nur Paris machte damals eine städtebauliche Transformation und eine Neukodierung des Stadtorganismus durch, ganz Europa wurde von einer Urbanisierungswelle erfasst. Ein Blick nach Zürich und Wien erzählt vieles über die polyfone Stadtbaugeschichte von Europa, von deren Referenzbeispielen die Planenden, die Entscheidungsträger, aber auch Interessierte lernen können. Etwa, dass aufgrund ihrer Position an der Stelle vormaliger Befestigungsanlagen die Zürcher Bahnhofstrasse wie die Wiener Ringstrasse echte Boulevards sind.

Zwei neuralgische Daten

Dieses Jahr beleuchten in der geschichtsverliebten österreichischen Hauptstadt nicht weniger als fünf Institutionen in Ausstellungen die Entstehung sowie spezielle Aspekte der Wiener Ringstrasse. Eingeläutet wurde das Ringstrassenjahr bereits am Neujahrstag mit einem Walzer über die Prachtstrasse, wobei eine gebührende Präsentation im Pausenprogramm des Neujahrskonzerts nicht fehlen durfte. Obschon auch in der Limmatstadt der 150 Jahre des hiesigen Boulevards gedacht wird, fehlen bis anhin noch Anzeichen einer Feierstimmung. Derzeit hängen über der Strasse grosse Banner mit Porträts von wichtigen Zürcher Persönlichkeiten. Darunter Alfred Escher und Arnold Bürkli, die an der Entstehung der Bahnhofstrasse massgeblichen Anteil hatten. Escher versprach als Direktor der Nordostbahn einen neuen, repräsentativen Bahnhof an der Stelle des Ursprungsbaus zu errichten, wenn die Stadt eine Verbindung zwischen diesem und dem neuen Geschäftszentrum, dem Paradeplatz, anlegen würde.

Bürkli legte einen Plan vor, auf den man sich kurzerhand einigte, verlegte in den Fröschengraben einen Abwasserkanal und legte darüber eine Strasse an. Im Herbst 1865 verliefen zwischen dem Paradeplatz und dem Bahnhof – noch ungepflastert und wenig bebaut – die ersten Meter des neuen Boulevards. Während mit dem Abbruchmaterial der Stadtmauer dem See Bauland abgerungen wurde, war 1858 bereits ein Wettbewerb für eine Stadterweiterung im Kratzquartier – östlich der oberen Bahnhofstrasse – erfolglos veranstaltet worden. Lokale Architekturgrössen waren eingeladen, Projekte abzuliefern, doch das Gewinnerprojekt von Gottfried Semper wurde nie realisiert.

Im gleichen Jahr veranstaltete man in Wien einen städtebaulichen Wettbewerb, der öffentlich ausgeschrieben wurde. Den Abbruch der barocken Festungsmauern und eine Bebauung mittels eines Boulevards gebot der regierende Kaiser Franz Joseph I. und liess die administrativen Fäden im Ministerium des Innern zusammenlaufen. Semper nahm aus Gründen anderer Verpflichtungen nicht teil, Ferdinand Stadler, der beim Bewerb zum Kratzquartier teilgenommen hatte, liess sich zumindest die Ausschreibungsunterlagen zusenden. Während für das Kratzquartier ausschliesslich lokale Fachleute zu einem Wettbewerb eingeladen wurden, schrieb man jenen für Wien international aus und erhielt 85 Projekte von italienisch-, französisch- und deutschsprachigen Planern. Die Ausmarchung zeitigte bewusst drei erste Preise, da die Staatsregierung selbst das Heft in der Hand behalten wollte. Die Ideen aus den Gewinnerprojekten wurden von einer Kommission diskutiert und mündeten in einen ersten Überbauungsplan. Der vom Kaiser geforderte Boulevard wurde bereits 1860 auf dem freien Feld zwischen der inneren Stadt und den sogenannten Vorstädten, dem Glacis, abgesteckt. Anders als in Zürich, wo man 1865 zwar den Beginn der Bahnhofstrasse feierte, indem man den Neuen Markt in Paradeplatz umbenannte, wurde in Wien das erste Teilstück der Ringstrasse, genau so, wie man es aus Paris kannte, am 1. Mai 1865 feierlich vom Regenten eröffnet.

Strassen der Selbstdarstellung

Selbst wenn Joseph Stübben im ersten wichtigen Städtebaumanual des 19. Jahrhunderts die Bahnhofstrasse ob ihrer beengten Anordnung der Bäume auf den Bürgersteigen schlechter bewertet als die Ringstrasse, die von ihm als eine der grossartigsten städtischen Strassen gelobt wird, werden beide in der Literatur ab und an als Via triumphalis bezeichnet. Im jeweiligen Kontext betrachtet, stimmt diese Aussage sicherlich, denn in beiden Fällen übernahmen und übernehmen sie stadtstrukturell und ökonomisch essenzielle Aufgaben und zeugen vom jeweilig vorherrschenden Repräsentationsanspruch. Allein schon in ihrer Erscheinung boten sie, anders als die vorhandenen älteren Wege, Annehmlichkeiten, die man aus Paris kannte: getrennte Trottoirs und Fahrbahnen, eine funktionierende Entwässerung und Kanalisation unter einer gepflasterten Strasse, einheitlich gestaltetes Mobiliar und eine grosszügige Bepflanzung. Aber nicht nur die Strasse selbst, auch die angrenzende Bebauung zeugte von einer neuen Ära: Während in Zürich vermehrt steinsichtige Fassaden Einzug hielten, war es in Wien eine Hinwendung zu einer verschwenderischen Verwendung von Architekturdekorationen industrialisierter Herkunft. In Zürich und Wien ging es – wenn auch in einem anderen Massstab – zugleich mit dem Umbau und der Erweiterung des Stadtgebiets auch darum, die Stadt in ihrer Gesamtheit neu zu erfinden.

Die Bahnhofstrasse, zwischen 22 und 24 Meter breit, knickt zweimal leicht ab, was die drei Etappen ihrer Entstehung veranschaulicht. Sie beginnt beim namengebenden Bahnhof, wo der als Triumphbogen ausgestaltete Haupteingang gemeinsam mit dem Standbild zu Ehren Alfred Eschers als «point de vue» fungiert. Pestalozzianlage und Paradeplatz sind als Seitenplätze angelegt und rhythmisieren als Freiräume die Korridorstrasse. Am oberen Ende, bei der Stadthausanlage und dem Bürkliplatz, eröffnet sich ein für die Schweiz paradigmatisches Bild: Über dem Zürichsee erstreckt sich ein Panorama mit den Glarner Alpen, just einer der Sehnsuchtsorte, die man vom Bahnhof aus zu erreichen imstande ist.

Ausgehend vom Paradeplatz entwickelte sich bis zum Bahnhof der erste Abschnitt einer Strasse, die vornehmlich als Geschäfts- und Einkaufsstrasse diente und dient. Im Lauf der ersten Jahre verdrängten die Handels-, Bank- und Bürobauten die einzeln stehenden Privathäuser, und heute zählt die Bahnhofstrasse zu den teuersten Geschäftsstrassen der Welt. – Zwar wurde die Ringstrasse bereits 1860 vollständig auf dem Glacis ausgesteckt, die Quartiere und Ensembles entstanden allerdings erst im Lauf von 50 Jahren. Mit Blick auf die Pariser Prachtstrassen forderte die Wettbewerbsausschreibung 1858 einen Boulevard von 76 Metern Breite innerhalb des 86 Hektaren grossen innerstädtischen Gebiets. Schliesslich wurde die Breite auf noch immer beachtliche 57 Meter verringert. Drei Fahrbahnen werden flankiert von Grünstreifen, von Fahrrad- und Gehwegen, Nebenfahrbahnen und Trottoirs. Nur in wenigen Abschnitten ist die Ringstrasse eine Korridorstrasse, meist öffnet sie sich auf weitläufige Parkanlagen und Schmuckgärten, die Monumentalbauten vorgelagert sind, «points de vue» aus der Entstehungszeit sucht man vergebens.

Gravitationsorte

Wenn auch beide Boulevards als Repräsentationsorte errichtet wurden, könnte der Unterschied nicht grösser sein: Neben dem Bürgertum traten in Wien zusätzlich der Staat sowie das Kaiserhaus als wichtige Bauherren auf und schufen einige der eindrucksvollsten Monumentalbauten des Historismus. Entlang beider Strassen fällt aber auch eine Gemeinsamkeit auf: Es finden sich moderne Architekturbausteine. Während es in Wien lediglich die Kriegsschäden waren, die Neubauten an der Ringstrasse entstehen liessen, so waren es in Zürich einzig der wirtschaftliche Aufschwung und das Streben nach Modernität, welche die historistischen Bauten durch Glas- und Metallpaläste ersetzen liessen.

An beiden Strassen finden sich Gravitationsorte, die vom flanierenden und eilenden Publikum verstärkt aufgesucht werden. Der Paradeplatz ist in dieser Hinsicht wohl das Zentrum der Bahnhofstrasse – wiewohl auch der Stadt. Gesäumt von Repräsentationsbauten – hier hinterliess Escher ebenfalls seine Spuren –, fungiert er als Verkehrsknoten, wie so manch anderer Platz der Stadt auch. Besonders sichtbar wird dies durch die Bestuhlung einer berühmten Confiserie mit Kaffeehaus. Nicht auf dem Platz, wie man es gewohnt wäre, werden die Gäste bewirtet, sondern auf der flankierenden Strasse. Viele der Plätze in Zürich sind ein hartes Pflaster für Amüsement und Müssiggang – sie sind reserviert für den hervorragend funktionierenden öffentlichen Verkehr in der Limmatstadt.

Ein Zentrum des Wiener Boulevards ist schwer auszumachen – allein schon wegen seiner Länge von 4100 Metern, zu denen man noch die 1200 Meter des die Ringstrasse zu einem Ring komplettierenden Franz-Josefs-Kais zählen kann. Die Kreuzung bei der Oper – dort befindet sich das berühmte Sirk-Eck – war die erste noble Adresse und fand Eingang in das Monumentaldrama «Die letzten Tage der Menschheit» von Karl Kraus. Das als Torso verbliebene Kaiserforum konnte durch die monumentalen Ausmasse nie eine Zentrumsfunktion erfüllen. Symbolisches Zentrum ist hingegen die monumentale Bebauung des ehemaligen Exerzierplatzes mit Rathaus, Parlament und Universität. Sogleich mit Baubeginn in den frühen 1870er Jahren übernahm die entstehende Trias die Rolle des Neuen Wien und verkörperte später durch die Lage der Volksvertretung sogar das Zentrum des Staates.

Urbane Narrationen

Die Schichtungen der europäischen Stadt generieren urbane Narrationen, die für die Identität und Identifikation der Stadtbewohner von essenziellem Wert sind. Im Sinne eines Palimpsests zeichnen sowohl die Zürcher Bahnhofstrasse als auch die Wiener Ringstrasse ehemalige historische Realitäten nach und machen die Lektüre städtischer Elemente aus früheren Zeiten möglich. Zur gleichen Zeit entstanden, mögen sie als modische Produkte gelesen werden, die einem Trend folgten, doch war die Zeit reif für massgebliche Veränderungen in der europäischen Stadt. Repräsentationsdrang, aber mehr noch den Bevölkerungsanstieg und die hygienischen Missstände zu meistern, waren die Aufgaben, die mit der Anlage breiter, gerader und einheitlich gestalteter Strassen gelöst werden sollten. Typologisch folgen sie dem Pariser Beispiel, in ihrer jeweiligen Disposition und architektonischen Erscheinung sind sie hingegen einzigartige Kunstwerke und tragen zum Reichtum der europäischen Stadtbaugeschichte bei.

Während die Bahnhofstrasse trotz dem starken Tramverkehr einer Fussgängerzone ähnelt, wird auf der Ringstrasse seit 2006 einmal im Jahr das Sit-in «Rasen am Ring» veranstaltet, um einen autofreien Ring zu simulieren. Die Grünen, die seit einer Legislaturperiode in der Stadtregierung mit vertreten sind, haben darüber hinaus internationale Planungsbüros eingeladen, um Verbesserungsvorschläge für die vom Verkehr stark in Mitleidenschaft gezogene Ringstrasse zu liefern.

Wenn auch die europäische Stadt und ihre einzelnen städtebaulichen Elemente einem ständigen Verhandlungsprozess unterworfen sind, so können die Planenden von den städtischen Räumen lernen, ihre Proportionen und ihre ästhetische Erscheinung im Massstab 1:1 studieren, die kontinuierlichen Entstehungsprozesse ablesen und schliesslich ersehen, wie diese Räume angeeignet und genutzt werden. Dies alles mag den Planenden zum Vorbild gereichen, wenn es bei der Anlage von Stadterweiterungsgebieten darum geht, dass nicht nur durch gezielte Dichte, sondern auch durch den Faktor Zeit die vielbeschworene Urbanität entstehen kann.

Dr. Harald R. Stühlinger ist Dozent am Lehrstuhl für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich. Er kuratierte die Ausstellung «Vom Werden der Wiener Ringstrasse» im Wiener Rathaus und gab dieses Jahr das Buch «Der Wettbewerb zur Wiener Ringstrasse» heraus.