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db deutsche bauzeitung 09|2015
Dächer
db deutsche bauzeitung 09|2015

Geometrische Landschaft

Kindergarten in Lugano (CH)

Die von den Nachbargebäuden ringsum gut sichtbare Dachaufsicht des Kindergartens in Lugano zeigt sich konsequent detailliert. Die Architekten schenkten ihr ebenso viel Aufmerksamkeit wie den anderen gut durchdachten Komponenten des Modulholzbaus. So konnte das Konzept einer »kleinen Stadt in der Stadt« mit wohldosiert anregenden Innen- wie Außenräumen gelingen.

1. September 2015 - Bruno Fioretti Marquez
Auf dem Weg von Norden über den Gotthard ins Tessin passiert man in Pollegio, umgeben von Alpengipfeln und Verkehrsbauten auch das Eisenbahnstellwerk »AlpTransit« (2014) der Architekten Bruno Fioretti Marquez aus Berlin. Die gelungene Einbettung dieser skulpturalen Landmarke in die unwirkliche Szenerie weckt bereits hohe Erwartungen an das ganz anders geartete Bauwerk eines fünfgruppigen Kindergartens derselben Planer im städtischen Kontext von Lugano.

In der größten Stadt des Tessins vor der imposanten Bergkulisse angekommen, ist die genussvolle Lebensart des nahen Italiens in den Straßen der Innenstadt überall präsent. Neben touristischer Attraktivität strahlt Lugano als drittgrößter Bankenstandort der Schweiz, nach Zürich und Genf, sowie als Universitätsstadt auch eine Atmosphäre geschäftigen Treibens aus.

Östlich des historischen Zentrums schließt sich der Stadtteil Cassarate an. Geprägt von großmaßstäblichen Wohnungsbauten aus den 30er bis 70er Jahren, macht die Nähe zum Ufer des Luganer Sees das Viertel als Wohnstandort attraktiv und teuer. Und so wird hier an jeder Stelle das Vermarktungspotenzial ausgeschöpft und nachverdichtet. Der öffentliche Raum im Viertel beschränkt sich zumeist auf die großzügig angelegten Straßen. Vor diesem Hintergrund überrascht der neue Stadtbaustein des Kindergartens der Architekten Bruno Fioretti Marquez zwischen bestehender Grundschule und Sporthalle mit seiner weitgehend eingeschossigen Bauweise umso mehr. Die Architekten gewannen 2007 den Wettbewerb v. a. auch wegen der städtebaulichen Qualität ihres Entwurfs, der mit seinem niedrigen und großflächigen Bauvolumen sowohl stadträumlich wirksame Kanten schafft als auch in seiner kindgerechten Maßstäblichkeit auf die Hauptnutzer eingeht. Vor Ort lässt sich dies am fast unverändert realisierten Wettbewerbsentwurf, der anstelle eines maroden Vorgängergebäudes entstand, gut nachvollziehen.

In die neue Großform sind umschlossene Höfe integriert, die den fünf Gruppen des Kindergartens jeweils als geschützter Außenraum dienen. Weitere, das Gebäude flankierende Freiflächen sind eingezäunt jedoch über Tore zu entkoppeln und so wahlweise auch öffentlich zugänglich. Sowohl das neue fußläufige Wegesystem zwischen den Gebäuden und den Freiräumen als auch der befestigte Vorplatz von Schule und Kindergarten laden mit ihrer schlichten und wertigen Gestaltung die Quartiersbewohner zur Aneignung ein.

Holz in Bewegung

Im steinernen städtischen Kontext nimmt die Holzfassade des Neubaus eine Sonderstellung ein. Zu deren Unverwechselbarkeit trägt sowohl die vertikale Faltung als auch die ringsum an- und absteigende Oberkante bei. Dies wirkt am Standort in keiner Weise deplatziert, vielmehr strahlt die Gebäudehülle dank präziser Detaillierung und angenehmer Proportionen eine hohe Wertigkeit aus. Ein steinerner Sockel hebt das Gebäude über das Straßenniveau und unterstreicht die seiner Nutzung angemessene Solidität. Die Verwendung von Holz geht bei dem Neubau über die Bekleidung der Fassaden mit profilierten Brettern aus Thermoaspe hinaus: Beim Blick aus einer der oberen Etagen der benachbarten Grundschule wird deutlich, dass sich sowohl die Bewegtheit als auch die Materialität der Fassaden auf dem Dach fortsetzen. Trapezförmige Holzroste (Thermoesche) werden von Betonauflagern auf Abstand zu den foliengedichteten und trittfest gedämmten Dachflächen darunter gehalten und zeichnen diese nach. Aufsteigend und wieder abfallend formen die Roste Grate oder Kehlen und gleichen in ihrer Gesamtheit einer bewegten geometrischen Landschaft. Diese ist als attraktive fünfte Fassade von den mehrgeschossigen Häusern ringsum gut zu sehen und betont durch die Verwendung des Fassadenmaterials das Volumen des Gebäudes. Die Fugen zwischen den hölzernen Dachelementen verweisen indes auf den additiven Charakter der Gebäudekonstruktion in Holzmodulbauweise. Ein hohes Maß an Vorfertigung war nötig, um die Bauarbeiten im laufenden Betrieb des Vorgängerbaus kurz zu halten. Der so entstandene Neubau wurde in einem zweiten Bauabschnitt nach Abriss des Altbaus mit den Räumlichkeiten für zwei weitere Gruppen ergänzt und damit vervollständigt.

Konische Addition

Ein trapezförmiges, geschosshohes Raummodul mit geneigter Dachfläche diente als Entwurfsbaustein. Es wurde geometrisch untersucht und die zahlreich daraus entwickelten Varianten schließlich aus Brettsperrholz CNC-gefräst. Weitgehend vorgefertigt fand schließlich deren Fügung in einem Geviert von sieben auf acht Modulen zusammen. Dadurch ergibt sich typologisch ein Kindergarten, der beinahe gänzlich ohne reine Erschließungsflächen auskommt. Lediglich der Treppenraum zu den Personalräumen im OG neben dem Haupteingang hat keine weitere Nutzung.

Die fünf Gruppenräume mit ihren Nebenräumen sind in unterschiedlichen Grundrissanordnungen innerhalb jeweils fünf trapezförmigen Modulen organisiert und einem der eingeschnittenen Höfe zugeordnet. Weitere Module sind mit Küche, Verwaltung und zwei Bewegungsräumen belegt. Die zentrale Erschließung erfolgt über einen Eingangshof und eine zentrale, überdachte aber unbeheizte Raumspange, die als gemeinschaftlicher Spielbereich dient, aber auch für Quartiersveranstaltungen zur Verfügung steht. Hier wie in den angelagerten Höfen findet sich die Holzbekleidung der zur Stadt gewandten Fassade wieder. Entlang der internen Freiflächen wirkt sie in ihrer Überlagerung und in Kombination mit den zahllosen Durchblicken wie eine Abfolge kleiner Stadtausschnitte. Ob beim Blick in die Höfe mit Pflanztrögen und unterschiedlichen Obstbäumen oder in die benachbarten Räume und von da wiederum bis in den Straßenraum oder aber über eine bewegte Dachsilhouette hinweg bis zu den Bergen, beim Gang durch die kleine Stadt lassen sich immer wieder neue Details entdecken, und sicherlich auch beim Spielen.

Über und Unter dem Horizont

Wie bei der Gebäudehülle, so haben sich die Architekten auch bei den Innenräumen für ein äußerst konsequentes Oberflächenkonzept entschieden, um die sich weitenden und verjüngenden Raumkonstellationen in den Mittelpunkt der Wahrnehmung zu rücken. Ihnen gelingt dies, indem sie die außen gedämmten raumbildenden Holzmodule sowie die in unterschiedliche Richtungen geneigten Deckenuntersichten mit den schlanken Trägern (60 x 400 mm) sichtbar belassen. Eine gebrochen weiße Lasur lässt zudem das Brettschichtholz homogen wirken. Zwischen den Trägern sorgen sowohl unauffällig platzierte, lange Dachverglasungen für Tageslicht als auch dezente stabförmige Leuchten für Kunstlicht. In gut zwei Metern Höhe verläuft entlang sämtlicher Wände in allen Räumen ein »Horizont« in Form einer Fuge bzw. Kante. Sämtliche Öffnungen, Türblätter, Fensterlaibungen, Akustikpaneele usw. wurden mit hohem Aufwand detailliert, um sie mit dieser gemeinsamen Oberkante auszustatten. Das hat sich gelohnt, in der heiteren räumlichen Bewegtheit sorgt der Horizont für das nötige Maß an Halt und Ruhe. Die stärker strapazierten Oberflächen des unteren Bereichs wurden zudem mehrfach lasiert, »...die kann man bei Bedarf wieder neu streichen«, erläutert Architekt Piero Bruno ganz entspannt.

Um im Holzgebäude kein »Barackenklima« aufkommen zu lassen, mildert die Speichermasse des steinernen Sockels Temperaturspitzen. Wie schon der Zementestrich im Außenbereich, so zeigen sich auch bei den Innenräumen die Böden mineralisch, sind jedoch mit einem etwas weicheren Belag aus »Hartsteinholz« ausgestattet. Mehrere dezentral angeordnete Wärmepumpen zur Versorgung der Fußbodenheizung sowie eine kontrollierte Lüftung lassen das Gebäude den Minergie P Standard erreichen. Dies kann jedoch am hochsommerlichen Tag des Besuchs nicht verhindern, dass es recht warm im Gebäude wird – trotz des automatisch gesteuerten textilen innenliegenden Sonnenschutzes der Dachverglasungen und den außenliegenden Fensterstoren. Der Kindergarten macht alljährlich allerdings eine ausgedehnte Sommerpause und so müssen die kleinen Nutzer wohl nicht zu sehr schwitzen ...

Die Erwartungen, die sich beim Anblick des Stellwerks in den Bergen von Bruno Fioretti Marquez an den Kindergarten in Lugano aufgebaut hatten, waren zwar hoch, wurden vor Ort jedoch keineswegs enttäuscht. Wie in Pollegio beweisen die Planer auch am Luganer See ihre Stärke, indem sie das Wesen der Bauaufgabe und des Orts mit unnachgiebiger Konsequenz abgleichen. So kann daraus etwas eigenständiges entstehen, dass dem Kontext standhält und ihm sogar zu einer neuen Lesart verhilft. Dass ein Gestaltungskonzept dabei derart kompromisslos umgesetzt wird – einschließlich der anspruchsvollen Gestaltung einer Dachaufsicht – dazu braucht es einen willigen Bauherrn und sehr viel Engagement der Planer.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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