Feudalherr trifft Avantgardist

Als Hauptwerk eines synthetischen Modernismus angesehen, wurde eine Villa bei Lille, Schöpfung eines grossen französischen Architekten des 20. Jahrhunderts, vor dem Verfall gerettet. Ein Augenschein.

Marc Zitzmann
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«Luft, Licht, Arbeit, Sport, Hygiene, Komfort, Ökonomie» – mit diesen Worten resümierte der Architekt die Vorgaben des Bauherrn. (Bild: Jean-Luc Paillé / CMN)

«Luft, Licht, Arbeit, Sport, Hygiene, Komfort, Ökonomie» – mit diesen Worten resümierte der Architekt die Vorgaben des Bauherrn. (Bild: Jean-Luc Paillé / CMN)

Hätte Stephen King seinen Kultroman «The Shining» nicht im gebirgigen Colorado angesiedelt, sondern im flachen flämischen Nord-Pas-de-Calais, die Villa Cavrois wäre der ideale Handlungsort gewesen. Womöglich hätte sich die schwarze Messe so in eine weisse verwandelt, der winterdunkle Horrortrip in eine sommerhelle Gespenstergeschichte, evoziert die seit Mitte Juni für Besucher zugängliche Behausung doch die Geister einer begüterten Grossfamilie der 1930er Jahre – aber in Form von Schattenrissen, Charaden, en filigrane.

Präsenzen werden hier als Absenzen mehr spür- als fassbar; die neun Familienmitglieder und ihre Domestiken sind nirgends zu sehen, aber vielerorts zu erahnen. Im elterlichen Badezimmer und an der Sprossenleiter des Freiluftschwimmbads hängt ein Morgenmantel, in der Küche liegen Zwiebeln auf einer Zeitung, im Fumoir schrillt immer wieder ein Telefon. Und überall Gedrucktes: ein Ratgeber für sparsame Hausfrauen in der Anrichte, eine anzügliche Novelle im Zimmer eines adoleszenten Sohns, Romane von Simenon, deren Titel leichte Gänsehaut erzeugen: «Die Unbekannten im eigenen Haus», «Die Leute gegenüber» . . .

Familiensitz eines Feudalherrn

Wer sind diese Unbekannten, die heute alle die Reise ohne Rückfahrkarte in die Welt von gegenüber angetreten haben? Paul Cavrois (1890–1965), das Familienoberhaupt, besass in Roubaix bei Lille Textilmanufakturen, die bis zu 700 Angestellte zählten. Zeitzeugen beschreiben ihn als einen Paternalisten, wo nicht gar einen Feudalherrn von unerschütterlicher Jovialität. Jagd und ein ungezwungener Plausch mit Viehzüchtern waren seine liebsten Freizeitvergnügungen – eine Mischung aus Industriekapitän und Gentleman-Farmer.

Schwimmbad in der Villa Cavrois. (Bild: Jean-Luc Paillé / CMN)

Schwimmbad in der Villa Cavrois. (Bild: Jean-Luc Paillé / CMN)

Nichts bestimmte ein brav die behaglichen Kreise des Grossbürgertums ausschreitendes Temperament wie das seinige dazu vor, bei einem Pariser Avantgarde-Architekten einen Bau in Auftrag zu geben, der heute als ein Manifest des Modernismus angesehen wird. Und tatsächlich hatte Cavrois zunächst bei einem Propagator des flämischen Regionalstils einen Familiensitz ganz nach dem biederen Geschmack seiner Standesgenossen bestellt. Doch dann nahm er an der Pariser Weltausstellung des Kunstgewerbes und Industriedesigns von 1925 teil, nach welcher der Art-déco-Stil benannt wurde. Und bekam dort den Pavillon du tourisme zu sehen sowie, gleich neben dem Textil-Pavillon von Roubaix-Tourcoing, kubistische Beton-Bäume – beides Kreationen von Robert Mallet-Stevens (1886–1945), die der punkto Architektur doch weidlich konventionellen Ausstellung modernistische Glanzlichter aufsetzten.

War es ein künstlerischer Coup de foudre? Der Wunsch, sich von seinem Milieu abzuheben? Cavrois entband den ursprünglich vorgesehenen Regional-Architekten, besuchte 1927 die soeben vollendete Rue Mallet-Stevens in Paris sowie, etwas später und gemeinsam mit Mallet-Stevens, Josef Hoffmanns Palais Stoclet in Brüssel und Willem Marinus Dudoks Rathaus von Hilversum – zwei Inspirationsquellen der Villa, die der Industrielle 1929 bei Mallet-Stevens in Auftrag gab. Dieser resümierte die Vorgaben des Bauherrn mit den Worten «Luft, Licht, Arbeit, Sport, Hygiene, Komfort, Ökonomie». In den späten 1920er Jahren kein wirklich revolutionäres Programm – aber Mallet-Stevens war weniger ein doktrinärer Umstürzler wie (damals) Le Corbusier, dessen Villa Savoye manchmal als das Gegenstück zur Villa Cavrois bezeichnet wird, denn ein sensibler, sorgfältiger, sehr französisch auf Mass bedachter Baukünstler.

Schloss und Ozeanriese

Die 1932 mit standesgemässem Pomp (Feuerwerk, Lichtspielen, Blumenregen aus dem Flugzeug) eingeweihte Villa schreibt sich ein in eine jahrhundertealte Tradition. Das Mittelstück des Baus um den kubischen Salon bildet eine Art Corps de logis, den zwei asymmetrische Flügel flankieren. Jener im Osten beherbergte die Eltern und die beiden jugendlichen Söhne, jener im Westen die jüngeren Kinder und die Domestiken. Auch die Placierung zwischen dem Vorplatz (dessen kurvige Fahrwege nicht für Kutschen, sondern für Autos konzipiert sind) und dem Garten verweist auf das Modell französischer Châteaux bzw. Hôtels particuliers.

Freilich fusioniert Mallet-Stevens das Alte mit dem Neuen, evoziert die Silhouette der Villa doch zugleich ein Schloss und einen Ozeanriesen. Auch im Innern verleihen avantgardistische Farben und Vorrichtungen der traditionellen Raumverteilung ein fortschrittliches Cachet. In seiner Standardmonografie weist Richard Klein der Villa die Rolle eines Manifests des «synthetischen Modernismus» zu: «Die Gestaltung der Beleuchtung, der Polychromie und des Mobiliars sowie die Verwendung moderner Techniken und Ausstattungselemente machen aus ihr das vollendetste Werk von Mallet-Stevens und zeigen seine Fähigkeit, sich aller Dimensionen der Architektur anzunehmen.»

Zwischen 1932 und 1939 wurde der Bau durch Fotos weitherum popularisiert – die Fachzeitschrift «L'Architecture d'Aujourd'hui» etwa, Bannerträgerin des Modernismus, widmete der Villa 1932 ein dickes Dossier, zwei Jahre später gar eine Monografie. Doch Mallet-Stevens, der in den 1930er Jahren wegen der Wirtschaftskrise nur noch wenig baute und Anfang 1945 verstarb, geriet peu à peu in Vergessenheit – und mit ihm sein Hauptwerk. Erst durch deutsche, dann durch französische Soldaten requiriert, wurde die Villa ab 1947 durch Cavrois in ein Mehrfamilienhaus für sich und zwei seiner Söhne verwandelt. Der Bauherr starb 1965, seine Frau zwanzig Jahre später.

Mit Lucie Cavrois' Tod beginnt ein trauriges Kapitel der Geschichte der Villa. Die Möbel werden verkauft, Bau und Grundstück 1988 durch eine Immobilien-Hyäne übernommen, die allein darauf sinnt, sechs vielstöckige Mietshäuser in die fünf Hektaren grosse Parkanlage hinzuklotzen. Als der Staat das Anwesen 1990 zwangsweise unter Denkmalschutz stellt, kontert der Besitzer mit kaum verhohlener Erpressung: Er lässt den Bau verfallen, ja durch Vandalen plündern, um die öffentliche Hand zum Nachgeben zu zwingen. Was ihm wenigstens partiell auch gelingt: 2001 – in der Villa wachsen inzwischen Bäume – wird ihm die Bebauung von zwei Dritteln der im Prinzip ja denkmalgeschützten Parzelle gestattet. Im Gegenzug verkauft er die Villa und das letzte Drittel des Parks an den Staat.

Vielfalt und Verklammerung

Die Restaurierung erst der Fassaden und Dächer, dann des Vorplatzes und des gleich an die Villa anschliessenden Gartenteils, endlich des durch Wasserschäden und Plünderungen arg entstellten Gebäudeinneren zieht sich ab 2003 über zwölf Jahre hinweg, erst unter der Leitung des Kulturministeriums, dann des von diesem abhängenden Centre des monuments nationaux, das rund hundert staatseigene Schlösser, Sakralbauten, Schriftstellerhäuser usw. verwaltet (darunter lediglich zwei «Monumente» des 20. Jahrhunderts, die Villen Cavrois und Savoye). Dem finanziellen Aufwand – die Gesamtkosten belaufen sich auf stolze 23 Millionen Euro – entspricht die Sorgfalt der Instandsetzungsarbeiten unter der Leitung des Architecte en chef des monuments historiques Michel Goutal.

Die Villa mit ihrer Tragstruktur aus Beton und ihrer doppelten Backstein-Füllung ist nunmehr wieder mit blassgelben Ziegeln ausgekleidet, deren waagrechte Fugen hervortreten und so die Horizontalität der Fassaden betonen. Was sogleich beeindruckt, ist die schiere Grösse des sechzig Meter langen Baus, der 1840 Quadratmeter Wohnfläche aufweist (zuzüglich 830 Quadratmeter Terrassenfläche). Die Orientierung im Innern ist indes ein Kinderspiel, verbindet doch im Unter-, Erd- und Obergeschoss je ein langer Gang die südseitig gelegenen Haupträume miteinander. Ins Auge fallen ferner die Vielfalt und Hierarchisierung des fast in Gänze durch Mallet-Stevens selbst entworfenen Mobiliars, von den luxuriös-gediegenen, aber recht kühlen Repräsentationsräumen über die schwarz-weissen Hygiene-Tempel der Küche und des Eltern-Bads bis zum vielfarbigen De-Stijl-Interieur des einem der beiden jugendlichen Söhne gehörenden Zimmers.

Bemerkenswert: Zwei Fassadenelemente ziehen sich leitmotivisch durch das Innere. Die waagrechten Bänder der Fensterfronten, Balkon- und Terrassengeländer variieren die Verkleidungen der Heizkörper einfallsreich; und die abgerundeten Vertikalen des Haupteingangs übernehmen etliche Cheminées und die Milchglas-Lichtkästen beidseits der Doppeltür zum Salon.

Geisterhaus?

Ziel der Restauration war es, den Zustand von 1932 wiederherzustellen. Die Umbauten der Nachkriegszeit wurden allesamt rückgängig gemacht, etliche Möbel zurückgekauft, andere (namentlich Einbauten) nachgeschaffen. Doch viele Originale gehören Privatleuten, die sich nicht von ihnen trennen wollen. So sind manche Räume vollständig möbliert, andere aber fast leer. Die Spannung zwischen den Polen Plus und Minus überträgt sich auf den Besucher: Er flaniert durch ein Haus, das weder bewohnt ist noch unbewohnt – (k)ein Geisterhaus. Umschmeichelt ihm im Boudoir der Duft von Lucie Cavrois' Parfum die Nase, mag das ständige Oszillieren zwischen Präsenz und Absenz gar ein Schwindelgefühl hervorrufen . . .