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Visionen für die Stadt
Spectrum

Dem Phänomen der rasanten Urbanisierung nahm sich erstmals 1903 die „Deutsche Städte-Ausstellung“ in Dresden an – heute so aktuell wie ehedem. Über die Zukunft des modernen Stadtmenschen.

3. Oktober 2015 - Peter Payer
Es ist nun eine bekannte Tatsache, dass wir derzeit mit einem enormen Urbanisierungstempo konfrontiert sind. Seit Kurzem leben weltweit mehr als 50 Prozent der Bevölkerung in Städten, Tendenz weiter steigend. Die Stadtumgebung ist erstmals für die Mehrzahl der Menschen zur bestimmenden Umwelt geworden, was in Europa schon länger Realität ist: So leben in Österreich rund 66 Prozent der Bevölkerung in Ballungsräumen, in Deutschland sind es 75 Prozent. Welche Folgen und Probleme sich daraus ergeben, wie die einzelnen Städte damit umgehen, das gehört wohl zu den wichtigsten Zukunftsfragen für uns alle. Nicht zuletzt im Sozialen: Was bedeutet es, wenn wir immer mehr zu Stadtmenschen werden?

Es war die „Deutsche Städte-Ausstellung“ 1903 in Dresden, die sich ausgehend von einer ähnlichen Rasanz der Entwicklung erstmalig im großen Stil mit dem Thema beschäftigte. Im Zentrum standen die moderne Stadt und der Versuch, sie in ihrer ganzen Vielfalt zu begreifen respektive darzustellen. Zum ersten Mal schlossen sich mehr als 120 deutsche Städte zusammen, um dazu eine Ausstellung zu bestreiten. Wesentliche Impulse gingen von ihr aus, der Großstadtdiskurs erhielt durch sie einen enormen Impetus, so Johannes Moser, Professor für Europäische Ethnologie in München, der in einer ausführlichen Studie auf die Bedeutung dieses Mega-Events hinwies.

Der Kontext war damals ähnlich wie heute. Wie andere europäischen Städte war auch Dresden von einer gewaltigen Urbanisierungswelle erfasst worden. Im Jahr 1900 zählte man 400.000 Einwohner, bereits fünf Jahre später wurde die 500.000er-Grenze überschritten. Das politisch konservativ orientierte Dresden etablierte sich zunehmend als Zentrum kultureller Innovationen. Eine davon war der Vorschlag von Oberbürgermeister Gustav Otto Beutler, die seiner Ansicht nach „glänzende“ Entwicklung des deutschen Städtewesens in einer Ausstellung zu präsentieren, und zwar in Deutschland. Eine umfassende nationale Leistungsschau kommunalen Fortschritts, abgehalten in der sächsischen Mittelstadt Dresden.

Er wandte sich an alle großen Städte Deutschlands, mit überwältigend positivem Feedback. Nur Berlin reagierte zunächst ablehnend, konnte aber schließlich von dem Vorhaben überzeugt werden. Ein Organisationskomittee wurde gegründet, welches das Jahr 1903 als Zeitraum fixierte. Am Ende beteiligten sich insgesamt 129 Städte, davon 82 direkt als Aussteller, 47 engagierten sich ausschließlich finanziell. Mit dabei waren neben Dresden etwa Berlin, Bremen, Breslau, Chemnitz, Danzig, Frankfurt/Main, Hamburg, Köln, Leipzig, München, Nürnberg, Stuttgart und Straßburg.

Ergänzend zu den Kommunen nahmen 420 Unternehmen an der Ausstellung teil, wobei „nur Hervorragendes“ gezeigt und „alles Jahrmarktmäßige“ vermieden werden sollte. Als Ausstellungsort standen von Beginn an der sogenannte „Ausstellungspalast“ und das um ihn gelegene Areal zwischen Stübelallee und Lennéstraße fest. Das im Mai 1896 eröffnete Gebäude hatte Dresden zu einer der wichtigsten deutschen Ausstellungsstädte gemacht. Als konventioneller Hallenbau mit Kuppel glich es einer riesigen neubarocken Kathedrale. Die gesamte Ausstellungsfläche betrug rund 20.000 Quadratmeter. Neben dem Hauptgebäude gab es zahlreiche Nebensäle, kleinere Hallen, Pavillons und einen Konzertsaal sowie einen großzügig angelegten Park mit Teich. Im ersten, den Städten vorbehaltenen Teil der Ausstellung wurden Themen abgehandelt wie Stadterweiterung, technische Infrastruktur, Kunst, Gesundheit, Bildung, Armen- und Krankenwesen oder verwaltungstechnische Belange. Der zweite, den Unternehmen gewidmete Teil beschäftigte sich mit dem Maschinen- und Bauwesen und weiteren im Kommunalbereich angewandten gewerblichen Erzeugnissen. Räumlich war dieser Teil in Einzelobjekten rund um das Hauptgebäude untergebracht.

Hier gab es auch einige Sonderausstellungen, etwa über städtische Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke, die Sicherheitspolizei oder Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung. Weitere Attraktionen: Eine nachts in verschiedenen Farben beleuchtete Fontäne im großen Teich oder ein Fesselballon, mit dem man 500 Meter hoch aufsteigen konnte. Die Auffahrt mit dieser „Luftstation“ war umsonst, so der findige Betreiber, die Rückfahrt kostete fünf Mark.

Bei der Gestaltung der Ausstellung gab es offenkundig eine zentrale Leitidee: Repräsentation. Anfangs traf man in der Kuppelhalle auf das bronzene Reiterstandbild des 1902 verstorbenen Königs Albert von Sachsen, daneben prangten eine Kaiserbüste, Standbilder von Bismarck und Moltke, zwei große Modelle der Rathäuser von Leipzig und Hannover sowie ein Gipsabguss des barocken Neptunbrunnens aus dem Garten des Dresdner Marcolini-Palais. Die daran anschließenden Säle waren bestückt mit Modellen, Plänen, Grafiken, Fotografien und Statistiken, mit denen die Städte stolz auf ihre Leistungen verwiesen.

Besonders offensiv waren die Organisatoren an die Bewerbung der Veranstaltung herangegangen. Zentrales Medium war das Ausstellungsplakat, das eine Rolandfigur – Symbol der städtischen Rechte und Freiheiten – vor der Kulisse Dresdens zeigte. Dieses Sujet fand sich dann auch wieder auf Werbekarten und Werbemarken, die in großer Zahl aufgelegt wurden. Auch der mehr als 300 Seiten starke Ausstellungskatalog erfüllte seine Reklamezwecke bestens. Nach kurzer Zeit erfuhr er eine zweite Auflage.

Rein an den Zahlen gemessen, war die Städteausstellung ein großartiger Erfolg. Von ihrer Eröffnung am 20. Mai bis zum letzten Öffnungstag Ende September wurde sie von rund 425.000 Personen besucht. Auch die Berichterstattung in den Medien, über ganz Europa bis in die USA, war durchwegs wohlwollend. Wenn es Kritik gab, so betraf sie zwei Punkte: die allzu große Monotonie und Dichte des Dargebotenen sowie die mangelnde Berücksichtigung der sozialen Frage. Insgesamt überwog jedoch eindeutig die positive Einschätzung. Es war das Zentrieren der öffentlichen Aufmerksamkeit auf die Belange der (deutschen) Städte, die als nachhaltig wichtigstes Resultat dieser Ausstellung gelten kann. Besonders breitenwirksam war zudem die Fülle der wissenschaftlichen Begleitpublikationen. Noch während der Ausstellung erschien eine knapp hundertseitige Broschüre mit dem Titel „Was lehrt die I. Deutsche Städteausstellung?“. Ein Jahr danach veröffentlichte Robert Wuttke, Professor an der Technischen Hochschule in Dresden, das wissenschaftliche Hauptwerk. Im Werk „Die deutschen Städte“, 1904 in zwei Bänden publiziert, rekapitulierten anerkannte Experten die Themen der Ausstellung. Dazu kamen ein aufwändig gemachter Bildband heraus, eine statistische Zusammenfassung sowie der von der Gehe-Stiftung geförderte Sammelband „Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung“.

Letzterer sollte besondere Bedeutung erlangen. Er bestand aus mehreren Vorträgen, die renommierte Wissenschaftler bereits vor Eröffnung der Ausstellung gehalten hatten. Organisator war die Gehe-Stiftung, die 1883 auf testamentarischen Wunsch des Dresdner Industriellen Franz Ludwig Gehe eingerichtet worden war, als Bildungsinstitution mit regelmäßigen Veranstaltungen und einer öffentlich zugänglichen Bibliothek. Während das Gros der Beiträge die jeweilige Fragestellung erwartungsgemäß ausführte, wich ein Beitrag derart offenkundig ab, dass er sogar im Vorwort als Ausreißer erwähnt wurde: „Die Großstädte und das Geistesleben“, verfasst vom Berliner Philosophen und Soziologen Georg Simmel. Auch formal stach sein Beitrag hervor, kam er doch fast ganz ohne wissenschaftlichen Anmerkungsapparat aus. Simmel hatte die Wechselwirkung zwischen Individuum und Großstadt und deren geistig-psychisch-soziale Folgen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt.

Die Großstadt war für ihn das Labor der Moderne, in dem der neue Mensch geformt wurde, sich neue emotionale Dispositionen und Wahrnehmungsweisen herausbildeten, die letztlich konstitutiv werden sollten für immer weitere Teile der Gesellschaft. Es war der „Großstadtmensch“, den Simmel erstmals mit genauem soziologischem Blick sezierte und mit Begriffen wie „Verstandesmäßigkeit“, „Blasiertheit“ oder „Reserviertheit“ zu charakterisieren versuchte, Eigenschaften, die als Reaktion auf die „Steigerung des Nervenlebens“ und die Fülle der Reize, die in der Stadt vorherrschten, fungierten.

Mit seinem modernen Denkansatz sollte Simmel zum Pionier und Begründer der modernen Stadtsoziologie, ja der modernen kulturwissenschaftlichen Stadtforschung überhaupt werden. Zwar wurde sein Text im deutschsprachigen Raum zunächst nicht besonders wahrgenommen, über den Umweg über die USA, wo ihn die berühmte Chicagoer Schule der Stadtsoziologie rezipierte, beinahe hymnisch feierte, gelangte er schließlich in Europa erneut in das Blickfeld der Scientific Community.

Nachhaltig erfolgreich und bis heute wirksam war schließlich eine der begleitenden Veranstaltungen der Städteausstellung: Oberbürgermeister Beutler lud Städtevertreter aus allen Teilen des Reiches ein, die Ausstellung zu besuchen und gemeinsam „die großen Aufgaben der städtischen Selbstverwaltungskörper“ zu diskutieren. Am 2. September wurde sodann der I. Deutsche Städtetag im „Ausstellungspalast“ eröffnet, mit hochrangigen Ehrengästen, Musik und einem Festspiel, das die Entwicklung des Städtewesens in drei „tableaux vivants“ vorführte. Beutler begrüßte Vertreter von insgesamt 159 Städten. Zwei Vorträge zur sozialen Aufgabe der Städte wurden abgehalten, danach folgten ein Besuch des Opernhauses sowie ein abendliches Festessen.

Am Folgetag referierte Wuttke über die Städteausstellung, für die er auch kritische Worte fand. Nach der teils heftig geführten Diskussion wurde als offizieller Abschluss eine Resolution verabschiedet, mit dem Ziel, den nächsten Deutschen Städtetag spätestens innerhalb von drei Jahren einzuberufen; dieser war ein voller Erfolg gewesen, und selbst Wuttke bezeichnete ihn später als besonderen „Glanzpunkt“. Der angestrebte Impuls blieb wirksam: 1905 fand in Berlin abermals ein Städtetag statt, der fortan zu einer regelmäßigen Veranstaltung werden sollte. Auch grenzüberschreitend blieb die Vorbildwirkung nicht aus, wie die Gründung des Österreichischen Städtebundes im Herbst 1915 zeigte.

Was können wir von der damaligen Städteausstellung für uns heute lernen? Ich würde zwei Punkte hervorheben: erstens, wie produktiv solche Veranstaltungen sein können, sofern sie breit aufgestellt und gut vorbereitet sind; als Impulsgeber und Kommunikationsdrehscheiben, generell als Bewusstseinsgeneratoren für städtische Anliegen. Und zweitens, dass es nicht einfach ist, die Komplexität der Stadt adäquat zu vermitteln. Nur allzu oft geschieht dies mit relativ abstrakter Planungsgeste, die Menschen wenig unmittelbar ansprechend.

Dementgegen: das Bild von der Stadt als menschenorientiertes, selbstreflexives und lernfähiges System. Das wäre eine Vision, die von der Dresdner Städteausstellung bis in unser Jahrtausend strahlen könnte.

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