Bedrohte Stadt

Die neuen Sicherheitsmassnahmen nach den Terroranschlägen drohen das Stadtleben zum Erliegen zu bringen. Im schlimmsten Fall könnte sich die Stadt als dynamisches urbanes System selbst abschaffen.

Adrian Lobe
Drucken
Droht die vor Jahren schon vorhergesagte total überwachte Stadt nun Wirklichkeit zu werden? – Soldaten vor dem Brüsseler Hauptbahnhof Centraal. (Bild: Jasper Juinen / Bloomberg)

Droht die vor Jahren schon vorhergesagte total überwachte Stadt nun Wirklichkeit zu werden? – Soldaten vor dem Brüsseler Hauptbahnhof Centraal. (Bild: Jasper Juinen / Bloomberg)

Die Terroranschläge von Paris haben die Welt erschüttert. Der Islamische Staat hat den Krieg in Europas Metropolen gebracht. Frankreichs Präsident Hollande sprach von einem «Kriegsakt» und verhängte den Ausnahmezustand. Der Staat wird die Militär- und Polizeipräsenz an den neuralgischen Punkten der Stadt verstärken, wie man derzeit in Brüssel sehen kann. Schon jetzt patrouillieren Soldaten mit Schnellfeuergewehren vor den Sehenswürdigkeiten und in Verkehrsmitteln. Was bedeutet das für die Bewohner unserer Städte, wenn künftig noch mehr Sicherheitsbeamte im Zentrum patrouillieren? Und was bedeuten die Sicherheitsmassnahmen für den städtischen Raum?

Militarisierung der Stadt

Der Geograf Simone Tulumello, der am Instituto de Ciências Sociais der Universität Lissabon zur Sicherheit in Städten forscht, sagt im Gespräch mit der NZZ, es sei ein «Problem für das urbane Leben, wenn sich Notstandsmassnahmen in naturalisierte Praktiken verwandeln. Deren Folge sind eine Begrenzung der kollektiven Nutzung öffentlicher Räume und Mobilitätsrechte, speziell für nichtweisse Bürger, sowie eine Reduktion der Partizipation.» Zwischen Freiheit und Sicherheit bestehe immer eine Güterabwägung. Die Perpetuierung der Sicherheitsmassnahmen berge jedoch die Gefahr, dass die Bürger den Verlust ihrer Freiheit stillschweigend akzeptierten und die Präsenz der Einsatzkräfte als normal hinnähmen.

Es ist wahrscheinlich, dass Paris das Kontingent der Spezialeinheiten auch in den Vorstädten aufstocken wird. Schon bei den Banlieue-Unruhen von 2005, als sich der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy mit markigen Worten als Law-and-Order-Mann zu profilieren versuchte, fuhr das Militär schweres Geschütz auf. Und bereits stellt sich die Frage, wie Frankreich seine Stadien und Städte im Hinblick auf die Fussball-Europameisterschaft 2016 schützen will. Wird der Ausnahmezustand zum Dauerzustand? London jedenfalls rüstete vor den Olympischen Spielen 2012 gewaltig auf: 12 000 Soldaten, Boden-Luft-Raketen rund um den Olympiapark und ein Kriegsschiff auf der Themse wurden eingesetzt. Rio will vor den Olympischen Spielen im nächsten Jahr sogar 46 000 Soldaten mobilisieren – aus Angst vor Terroranschlägen. Kritiker sehen darin eine «Militarisierung» der Stadt.

Wenn öffentliche Plätze nur unter hohen Sicherheitsvorkehrungen zugänglich sind, werden sie faktisch zu No-go-Zonen. Der freie Fluss von Personen, Waren und Ideen, die Mobilität, all die Dinge, die unser städtisches Leben ausmachen, kommen zum Erliegen. Die Stadt droht sich selbst abzuschaffen. «Die ungeplanten Nebeneffekte radikaler urbaner Anti-Terror-Massnahmen können extrem schädlich für das urbane Leben sein», sagte der Soziologe Stephen Graham schon 2007 beim Symposium «Architectures of Fear. Terrorism and the Future of Urbanism in the West» in Barcelona. «Versuche, die Mélange einer Stadt in ein System von gesicherten Übergangspunkten überzuführen, wo jede Person überwacht, befragt und mit einer Gesichts- oder ID-Datenbank abgeglichen wird, könnten das urbane Leben unerträglich machen.»

Metalldetektoren, Gepäckkontrollen, Sicherheitsschleusen – Städte ähneln immer mehr Flughäfen. «Nicht-Orte» nannte der französische Anthropologe Marc Augé identitätslose Räume wie Shoppingmalls oder Flughäfen. Auch Transitzonen, die jüngst für Flüchtlinge in Ungarn eingerichtet wurden und in Deutschland in der Diskussion waren, haben ihr Vorbild in internationalen Flughäfen. Und dort gilt bekanntlich ein eingeschränktes Demonstrationsrecht – ist das der Preis, den man für mehr Sicherheit bezahlt? «Die Idee des offenen und freien Zugangs zu Gebäuden und öffentlichen Plätzen wird immer mehr gefiltert», sagt Graham auf Anfrage. In Londons Docklands, wo der öffentliche Raum in privater Hand ist, gebe es nur ein paar Zugangsstrassen, die Checkpoints hätten. Hinein komme nur, wer sich ausweisen könne. «Die Sorge ist», sagt Graham, «dass Regierungen und der ganze militärisch-industrielle Komplex, der seit dem ‹war on terror› aufkeimt, Städte so umbauen, dass die porösen, offenen und unvorhersagbaren Räume und Systeme zu einer endlosen Serie von sichtbaren und unsichtbaren Sicherheitspassagen werden.» Die Lebendigkeit der Stadt würde damit «wegkonstruiert».

Der Stadtsoziologe Mike Davis, der in seinem 1990 erschienenen Klassiker «City of Quartz» vor der «Fortifikation» des öffentlichen Raums in Los Angeles warnte, sagt im Gespräch mit der NZZ: «Die ‹Israelisierung› urbaner Sicherheit in Europa, verbunden mit der konsequenten Eskalation in einer bereits sehr ausgeprägten ethnischen Stereotypisierung und Ausgrenzung von muslimischen Jugendlichen, ist genau das Resultat, das der IS sehen will.» Und jede Schrecklichkeit des IS sei ein Geschenk an rechtspopulistische Euro-native Parteien und ein weiterer Schritt in Richtung eines absurden Kriegs der Zivilisationen. Wirkliche Sicherheit könnte nur von der anderen Richtung kommen: durch Bewegungen, die die Rechte von Einwanderern und religiösen Minderheiten stärkten.

Es besteht aber auch die Befürchtung, dass durch die Sicherheitsmassnahmen neue Gated Communities entstehen: abgeschottete Siedlungen, die zum Hochsicherheitstrakt gerüstet werden. Das noble 7. Arrondissement rund um den Eiffelturm in Paris wirkt schon jetzt wie eine Festung. Diese Parzellierung des städtischen Raums führt genau zu jener Spaltung, die die Terroristen mit ihren perfiden Anschlägen anstreben. Eine Architektur der Angst wird zementiert.

Es gehört zu den irritierendsten Phänomenen der Moderne, dass westliche Gesellschaften heute zu den sichersten, aber zugleich auch zu den ängstlichsten Gesellschaften überhaupt zählen. Und diese Angst manifestiert sich auch im öffentlichen Raum. Der Geograf Simone Tulumello spricht von «fearscapes», von Raum gewordenen Verdichtungen von Furcht. Sie sind nicht unbedingt sichtbar, aber spürbar. Eine Dimension ist die Fortifizierung, die andere die Überwachung. «Die Präsenz von technologischer Überwachung erhöht die Perzeption von Unsicherheit», konstatiert Tulumello. «Die Überwachungskameras suggerieren, dass es Verdachtsmomente gibt, und verstärken das Verlangen nach noch mehr Sicherheit.» Es ist ein Teufelskreis.

Das Problem, so Tulumello, liege darin, «dass je mehr eingezäunten urbanen Raum man schafft – sowohl für die Reichen in Form von Gated Communities als auch für Arme durch die Marginalisierung der Peripherien –, desto mehr erhöht man die Angst, den wechselseitigen Verdacht und die Ressentiments, die die Ingredienzen für terroristische Netzwerke bilden.» Sozial und wirtschaftlich abgehängte Problemviertel wie Molenbeek in Brüssel, aus dem zwei der Attentäter von Paris stammten, bildeten den Humus für den radikalen Islamismus. «Die einzig mögliche konstruktive Reaktion auf Terrorismus sind offene Gesellschaften, in denen niemand ausgegrenzt ist oder sich ausgegrenzt fühlt», resümiert Geograf Tulumello.

Sicherung heikler Orte

Der amerikanische Städteforscher Ed Blakely prognostiziert derweil weitere Sicherheitsvorkehrungen im öffentlichen und privaten Raum. Im Gespräch sagt er: «Wie wir in New York, London und Paris sehen, sind sensible Orte wie Metrostationen oder Museen bereits hoch gesichert. Der nächste Schritt ist, dass Vergnügungseinrichtungen geschützt werden.» Drohnen würden überall zum Einsatz kommen, selbst in ruhigen Nachbarschaftsgebieten, um explosive Gegenstände aufzuspüren. Neue Tracking-Methoden würden angewandt, von Kartenkrediten bis hin zu Identitätserkennungssystemen, mit denen Einkäufe zurückverfolgt und ein detailliertes Bewegungsprofil erstellt werden könnten. Es scheint, als würde mit der zunehmenden Terrorgefahr die Dystopie einer schon vor Jahrzehnten vorhergesagten total überwachten Stadt ein Stück realer werden.