Einklang von Wissenschaft und Kunst

Die ETH Zürich verdankt Gottfried Semper den exzellenten Ruf ihrer Architektenausbildung. Für den Begründer der Bauschule war die wissenschaftliche und künstlerische Arbeit die Basis der Ausbildung.

Philipp Esch
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Der von seinen Studenten verehrte Gottfried Semper konnte das Lehrprogramm der ETH-Bauschule entwerfen – hier nach seinem Abgang nach Wien umgeben von Studenten wie Julius Stadler und Georg Lasius. (Bild: gta-Archiv, ETH Zürich)

Der von seinen Studenten verehrte Gottfried Semper konnte das Lehrprogramm der ETH-Bauschule entwerfen – hier nach seinem Abgang nach Wien umgeben von Studenten wie Julius Stadler und Georg Lasius. (Bild: gta-Archiv, ETH Zürich)

Regelmässig belegt die ETH Zürich Spitzenplätze im internationalen Ranking der Architekturschulen. Die Verbindung von technischem Know-how und kultureller Kompetenz zieht renommierte Professoren ebenso an wie Studenten aus dem In- und Ausland. Bereits die erste Berufung an die ETH-Bauschule war eine eigentliche Starbesetzung: Gottfried Semper (1803 bis 1879), der wohl bedeutendste Architekt des Historismus und einer der bedeutendsten Kulturtheoretiker des 19. Jahrhunderts, wechselte 1855 – auf Vermittlung Richard Wagners – von London nach Zürich, wo er sich schon bald konfrontiert sah mit eng gedachten Lehrkonzepten und noch engeren Räumlichkeiten. Wissenschaftlich-technisch und verschult war das Curriculum, welches das Reglement der neugegründeten eidgenössischen Hochschule vorsah, während Semper, dem man die Konzeption des Lehrprogramms in Aussicht gestellt hatte, das künstlerische, akademisch freiere Vorbild der Académie des Beaux-Arts vor Augen hatte.

Realitätsnahe Aufgabenstellung

Semper setzte die Einrichtung von Ateliers durch, eigentlichen Lehrwerkstätten, in denen gearbeitet wurde, denn er war überzeugt, dass wissenschaftliche und künstlerische Arbeit im tätigen Schaffen zusammenfänden: Der «Kunstjünger» habe sich stets nur denjenigen «künstlerischen Vorrath» begierig angeeignet, den er für sein Schaffen gebraucht habe, «zwar in nicht sonderlich kritischer oder systematischer Methode, aber so, dass er ihn vollständig in sich aufnahm und sogleich künstlerisch verwertete».

Vielleicht war Gottfried Semper, der dem Polytechnikum immerhin 17 Jahre lang treu verbunden war, «eine grossartige Fehlbesetzung», wie Martin Tschanz in der ersten ebenso ausführlichen wie lesenswerten Studie über die Anfänge der ETH-Bauschule sibyllinisch formuliert: grossartig im Format, aber eine Fehlbesetzung angesichts des Profils, das das Reglement für den Schulbetrieb vorgesehen hatte. Aber gerade auf diesem kontinuierlichen Widerstreit der Lehrkonzepte, so Tschanz' Kernthese, gründet das besondere Profil der Architekturabteilung an der ETH, das in seiner Breite heute so attraktiv wirkt.

An solchen Einsichten zeigt sich, warum man durchaus nicht historisch interessiert sein muss, um Martin Tschanz' Untersuchung mit Gewinn zu lesen; warum, ganz generell gesagt, der Blick zurück so wichtig ist für das Verständnis des Gegenwärtigen – in diesem Fall für das Selbstverständnis einer Hochschule und eines Berufsbilds. Die historische Bezugnahme kann dabei in mehrerlei Hinsicht wirksam sein: Einmal zeigt sie uns, wie anders die Verhältnisse waren, und bildet in diesem Sinne den kontrastierenden Hintergrund, der die heutigen Zustände plastischer erkennen lässt. Ein anderes Mal (und in diesem Fall weit häufiger) veranschaulicht der historische Vergleich indes, wie sehr sich die Herausforderungen über die Zeiten hinweg ähneln.

So begleitet etwa die Diskussion über die Länge des Studiums, wie sie vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der Bologna-Reform erneut geführt wurde, die Architekturabteilung am Polytechnikum von ihren ersten Jahren an. Viele Argumente zugunsten einer längeren Ausbildung bleiben bis heute unvermindert gültig, denn sie rühren letztlich an die Frage, was zur Berufsausübung befähigt. Kontinuierlich wird seit den Anfängen auch um das Profil zwischen Beaux-Arts-Tradition und technisch-mathematischem Curriculum gerungen und damit über die Stellung der Architektur zwischen Wissenschaft und Kunst gestritten. Übrigens leitete einst die Wertschätzung für die technischen Wissenschaften, wie sie die Gründung eines Polytechnikums ja dokumentiert, auch die berufliche Trennung der Bauingenieure von den Architekten ein und begründet damit die Spezialisierung der Planungsdisziplinen, der die heutige Berufspraxis leider immer stärker unterworfen ist.

Nur die Hälfte der Studierenden verliessen die Schule übrigens mit einem Diplom. Denn dieses bescheinigte eine überdurchschnittliche Leistung, nicht deren blosse Erfüllung, und war auch nicht zwingend nötig in einer Arbeitswelt, die keine geschützte Berufsbezeichnung kannte (und in der Schweiz bis heute nicht kennt). Das ist in unserer Zeit der allgegenwärtigen universitären Leistungskontrolle und der inflationären Studienabschlüsse besonders bemerkenswert.

Gebäude und Lehrprogramm

Zurück zu Semper, der den meisten weniger als Gründungsprofessor der Bauschule ein Begriff sein dürfte denn als Erbauer des ETH-Hauptgebäudes. Ursprünglich als Preisrichter für den Architekturwettbewerb berufen, war Semper schliesslich selbst mit der Planung betraut worden und erhielt damit die einmalige Gelegenheit, gleichzeitig das Lehrprogramm und die bauliche Fassung für die Hochschule zu entwerfen. So rückt schliesslich auch die Architektur des ETH-Hauptgebäudes in den Fokus von Martin Tschanz' Untersuchung – und ist für manche Überraschung gut. Wer weiss denn noch, dass das Haus als gemeinsames Gehäuse für Universität und Polytechnikum konzipiert war, mit jeweils eigenen Eingängen zu beiden Seiten und einem gemeinsamen «Titelbild», wie Semper das Hauptportal auf der Stadtseite nannte? So entpuppt sich die Unterschiedlichkeit der vier Ansichten des Hauses als ganz spezifische Antwort auf das janusköpfige Programm, der wiederholt geäusserte Vorwurf der historistischen Beliebigkeit dagegen als oberflächliche Kritik.

Ein weites Feld also, diese höchst lesenswerte Untersuchung zu den Anfängen der Bauschule an der ETH. Sie lebt von der Anschaulichkeit der Sprache und von Tschanz' Erzählkunst. Sie weiss neben Aspekten von Architektur und Lehre auch die politischen Ränke und Possen lebendig wiederzugeben, die am Beginn der Architektenausbildung in der Schweiz standen.

Martin Tschanz: Die Bauschule am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich – Architekturlehre zur Zeit von Gottfried Semper. GTA-Verlag, Zürich 2015. 340 S., Fr. 58.–.