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db deutsche bauzeitung 01-02|2016
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Schuhwerk

Schuhmanufaktur in Ferrara (I

Erdbebensicher, erweiterungsfähig, rational gegliedert und höchst repräsentativ: Das 2014 fertiggestellte Manufakturgebäude bei Ferrara, in dem 250 Fachkräfte die Herrenschuhe und Leder-Accessoires der Luxusmarke Berluti fertigen, überzeugt unter allen Gesichtspunkten.

31. Januar 2016 - Klaus Meyer
Äcker und Obstwiesen erstrecken sich bis zum Horizont, hier und da ragt ein Gehöft aus einer Baumgruppe, ansonsten gibt es nichts, das den Blick einfangen würde: Die Po-Ebene ist berühmt für ihre Fruchtbarkeit und ihre stolzen Stadtrepubliken, nicht für ihre abwechslungsreiche Landschaft. Umso herausfordernder ist es, in dieser Umgebung zu bauen – jedenfalls dann, wenn Architekt und Bauherr ein Gebäude schaffen wollen, das sich in der Landschaft behauptet, ohne ihren Charakter zu mißachten. Die Manifattura Berluti ist solch ein zurückhaltend vornehmes Gebäude.

Es steht recht allein auf weiter Flur. Allerdings dürfte der Standort, ein neu angelegter Gewerbepark am Ortsrand der Gemeinde Sant’Egidio, bald weitere Investoren anziehen. Nicht zuletzt die gute Verkehrsanbindung spricht dafür: Bis zur Autobahn Bologna/Ferrara sind es gerade mal zehn Minuten, Ferrara selbst liegt rund 6 km nördlich. Dort hatte Berluti zuvor produziert – in einem verwinkelten, innerstädtischen Gewerbebau, der den Anforderungen der Firma schon lange nicht mehr genügte. Zur Verbesserung der logistischen, technischen, sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen für die Produktion brauchte man mehr Raum. Zugleich wünschte man sich ein architektonisches Aushängeschild.

Kein Wunder, bei einem Bauherrn wie Bernard Arnault. Der Präsident des französischen Luxusgüterkonzerns Louis Vuitton Moët Hennessy (LVMH), zu dem auch die Herrenschuhmarke Berluti gehört, liebt Architektur von Welt – und scheut keine Kosten. Frank Gehrys 2014 fertiggestelltes Museum der Fondation Louis Vuitton in Paris ist das jüngste und eindrucksvollste Beispiel. Nun ging es im Falle von Berluti zwar nur um einen Produktionsbetrieb auf der grünen Wiese, aber auch hier war höchste Architekturqualität gefragt. Um den Planungsauftrag bewarben sich ein italienisches Team und das in Paris ansässige Büro von Philippe Barthélémy und Sylvia Griño. Dass letzteres den Zuschlag erhielt, hat wohl auch damit zu tun, dass die französischen Architekten bereits mehrfach für LVMH tätig gewesen waren. Ganz sicher überzeugte der Entwurf, weil er ein tiefes Verständnis sowohl für die produktionstechnischen als auch die ästhetischen Belange der Marke Berluti erkennen lässt.

Das im Jahre 1895 von dem italienischen Schuhmacher Alessandro Berluti in Paris gegründete Unternehmen vermarktet neben edlen Herrenschuhen inzwischen auch Leder-Accessoires und Kleidung. Zu der wohlhabenden und stilbewussten Kundschaft gehören Prominente wie Robert de Niro, Brian Ferry, Zinedine Zidane und Michael Jordan. Wie bei John Lobb in London oder Rudolf Scheer in Wien gibt es auch bei Berluti in Paris individuell gefertigte Maßschuhe zu kaufen. Darüber hinaus bietet die Firma ein exquisites Programm seriell produzierter Herrenschuhe. Markenzeichen des Hauses ist das in aufwendiger Handarbeit patinierte Oberleder. Diese »Berluti-Patina« haben Barthélémy und Griño zu einem Thema ihres Entwurfs gemacht. Auf jede weitere visuelle Reminiszenz an das Produkt oder den Produktionsprozess verzichteten sie jedoch und entsprachen damit einem Wunsch des Bauherrn.

Kommt Zeit, kommt Patina

»Keinesfalls sollte die Fabrik wie eine Fabrik aussehen«, sagt Philippe Barthélémy. Tatsächlich verrät der zweigeschossige Quader, der sich auf einer Grundfläche von rund 8 000 m² erhebt, kaum etwas von seiner Nutzung: Kein Schornstein überragt den Baukörper, kein technisches Aggregat zeigt sich, nicht mal der Markenname prangt auf dem Dach oder an der Fassade. Einzigen Anhaltspunkt bietet die unterschiedliche Gestaltung der Fronten. Nach Westen zur Straße hin, wo hinter der aus Metall, Glas und Zedernholz komponierten Fassade Büros, Konferenzräume und Designateliers angeordnet sind, präsentiert sich die Manufaktur als eleganter Verwaltungsbau. Dabei sorgt der Kontrast von breiten Metallfriesen und schmalen Fenster- und Holzflächen für einen harmonischen Ausgleich zwischen horizontaler und vertikaler Bewegung.

Die Flanken des Gebäudes öffnen sich im EG jeweils mit einer langen, von einem Brisesoleil beschatteten, Fensterfront zum Außenraum. Den übrigen Fassadenflächen sind Lattenroste vorgeblendet. Noch bestimmt der rötlich warme Ton des Zedernholzes, aus dem die Latten gefertigt wurden, das Fassadenbild; doch das wird sich mit der Zeit, wenn das Holz verwittert, ändern. Der Clou dabei: Weil die Latten aufgrund ihrer variierenden Querschnitte unterschiedlich dem Sonnenlicht und dem Regen ausgesetzt sind, wird die Holzbekleidung nicht gleichmäßig verwittern, sondern ein changierendes Kolorit annehmen – die Patina eben, von der bei Berluti so viel die Rede ist.

Im Vergleich zu den aufwendig gestalteten Fassaden an den Flanken und der Stirnseite wirkt die simple Wellblechbekleidung der rückwärtigen Gebäudeseite wie ein Provisorium. Und das ist sie auch. Die Ostwand, die sich bei Bedarf einfach demontieren lässt, ist die Nahtstelle für eine potenzielle Erweiterung der Produktionshalle.

Repräsentativ und produktiv

Gegenüber im Westen liegt hinter dem Haupteingang ein schmales, eingeschossiges Foyer, an das sich nahtlos die sogenannte Agora anschließt: ein gebäudehoher, lichtdurchfluteter Saal mit einem Dach aus ETFE-Membranen über einem scherengitterartig sich kreuzenden Gebälk. Foyer und Agora trennt lediglich ein offenes Regal, in dem hölzerne Schuhleisten ausliegen. Von der bei Berluti gepflegten Handwerkskunst künden auch die Seitenwände des Foyers, die mit Platten patinierten Leders bekleidet sind. Die Agora dient als Showroom, wird aber auch für Firmenfeiern und andere Veranstaltungen genutzt. Räumlich bildet sie die Schnittstelle zwischen den verschiedenen Sektionen des Betriebs. Wer sie vom Foyer aus betritt, hat den Büroriegel im Rücken. Links breitet sich auf zwei Geschossen die Prototypen-Abteilung aus, wo neue Schuhentwürfe gefertigt und zur Serienreife geführt werden. Rechts liegt die »Académie du Savoir-Faire«, in der Auszubildende das Schuhmacherhandwerk lernen. Geradeaus blickt man in den ersten von drei hintereinander gestaffelten Produktionssälen. Alle Werkstätten öffnen sich mit gläsernen Wänden zur Agora, die auf einen Gang stößt, der das Gebäude quert und gewissermaßen auch teilt. Vorn erstellen die Mitarbeiter Schriftstücke, Tabellen, Entwürfe, Modelle und Probestücke, hinten produzieren sie Schuhe für den Verkauf.

Die Produktionsräume können zwar nicht mit der gediegen-repräsentativen Qualität des vorderen Gebäudeteils aufwarten, doch dank heller und offener Räumlichkeiten ist die Atmosphäre auch hier angenehm. Dies gilt besonders für den ersten der drei Säle, wo das Oberleder ausgewählt, zugeschnitten und vernäht wird. Letzteres geschieht teils von Hand, teils mithilfe von Ledernähmaschinen. Deren gelegentliches Rattern klingt geradezu wie Musik in den Ohren im Vergleich zu dem Lärm, der im mittleren Saal herrscht. Der Krach dort rührt von den Schneidewerkzeugen und Nähmaschinen her, mit denen Sohlen gefertigt und mit den Oberteilen verbunden werden. Ruhiger geht es im dritten Saal zu, wo bis zu 80 Mitarbeiter an 24 Werkbänken sitzen und den Schuhen die ‧Berluti-Patina einschleifen und aufrubbeln. Die Tinkturen, die dabei verwendet werden, sehen schön aus, riechen aber zumeist übel. Deshalb ist jeder Arbeitsplatz mit einer Absaugvorrichtung ausgestattet.

Anders als in der »Patina-Abteilung« sind die Arbeitsplätze im mittleren Saal nicht fest installiert. Die Werkbänke und Maschinen lassen sich beliebig platzieren, ihre Konstellation richtet sich jeweils danach, welche Modelle in welchen Mengen zur Produktion anstehen. Die erforderliche räumliche Flexibilität für diese »schlanke Produktionsweise« erzwang die Anlage eines nicht durch Stützen oder (schallschluckende) Zwischenwände unterteilten Großraums. Dem Zweck der flexiblen Arbeitsorganisation dient auch der lange Erschließungsgang, der zwischen der Produktionsabteilung und dem gegenüberliegenden Lager verläuft. Hier begegnet man ständig Mitarbeitern, die Rollwagen vor sich her schieben, auf denen Schuhe oder Rohstoffe von einer Abteilung in die andere transportiert werden.

Die Fensterfronten, die jedem Mitarbeiter einen freien Ausblick gewähren, steigern die Aufenthaltsqualität in den Arbeitsräumen merklich. Ein gutes Raumgefühl vermitteln auch die mit Lattenrosten abgehängten Decken. Dahinter verbergen sich nicht nur Leitungen und Ventilationsrohre, sondern auch ungewöhnlich groß dimensionierte Stahlfachwerkträger. Sie verweisen auf eine Besonderheit der Tragwerkskonstruktion und Gründung des Gebäudes. Bei beidem war der Umstand zu berücksichtigen, dass die Provinz Ferrara zu den am stärksten von Erdbeben bedrohten Regionen Europas gehört. Die diesbezüglichen Bestimmungen wurden von vornherein auf elegante Weise in den Entwurf der Gesamtform integriert. Dies trägt neben vielen der anderen qualitätvollen Aspekte des Gebäudes dazu bei, dass die Manifattura Berluti nicht nur mit gelungenen Räumen für die Produktion glänzt, sondern darüber hinaus sogar das Bild der Landschaft bereichert.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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