War das schon alles?

Wenn ein Architekturbüro laufend Großprojekte ankündigt, die Direktorin des Büros gleichzeitig Gartenpavillons, Jachten, Türklinken, Vasen, Schmuck, Badeanzüge und Autos entwirft – was ist das: Architektur oder Industrie? Zur Zukunft der Baukunst.

Angesichts einer immer wüster werdenden und ständig steigenden medialen Bilderflut über Architekturen fragen sich sicher mancher Architekt und manche Architektin: Wie soll das weitergehen? Wohin entwickelt sich die Architektur? Oder wohin hat sie sich bereits entwickelt? Gibt es noch Werte, die sie bestimmen könnten, gibt es Zielvorgaben?

In der heutigen Zeit mit ihrem riesigen Anteil virtueller Realität und auch latenter Virtualität stellt sich die Frage, ob es noch wirklich Neues geben kann. Ist vielleicht der Computer in der Architektur dazu angetan, unsere Gier nach sich stetig erneuernden Reizen in der Art einer digitalen Explosion zu stillen? Dem widerspricht der Gedanke, dass nur eine Idee, ein Konzept, das am Anfang einer Architektur stehen muss, auch in ein Computerprogramm eingetastet und auf dem Monitor wiedergegeben werden kann und zu einer – wie auch immer gearteten – Ausführung kommt. Wem nichts mehr einfällt, dem nützt auch Grasshopper und Autocad nichts. Das gilt gleichermaßen für den Parametrismus mit seinen amorphen Puddingformen und den Dekonstruktivismus mit seinen verschraubten, unlogisch schräg gestellten, die Sicht versperrenden Balken und Konstruktionsteilen.

Also ergibt sich daraus eigentlich nur ein Bilderverschleiß statt einer Bilderflut. Wozu nun diese Bilderflut? Wäre der Mensch nicht vielleicht mit weniger, dafür griffigeren und ruhigeren, ästhetischeren Bildern auch zufrieden? Aber was ist ästhetischer? Sollen wir uns an der Antike, am Anspruch, „für die Götter zu bauen und ihr Auge zu erfreuen“, orientieren? Ich weiß es auch nicht, aber die Diskussion darüber wäre sicherlich in Architekturkreisen interessant zu führen.

Denn in der heutigen Architektur kommt auch die Berechtigung der Fassade als bildgebende Metapher für ein Bauwerk abhanden. Worte wie Haus, Kirche oder Moschee rufen in unserem Gehirn ein – je nach kulturellem Hintergrund – Bild (fast wie ein Archetyp) auf, das ein Haus eben als Kubus mit Satteldach, eine Kirche mit Turm und die Moschee mit Kuppel und Minarett darstellt. DieseBildgebung funktioniert aber bei den Bauten des Dekonstruktivismus nicht mehr. Betrachtet man heute die Architekturen von Coop Himmelb(l)au oder anderer dekonstruktivistischer Architekten wie Frank Gehry, so stellt man fest, dass viele dieser Bauten keine Fassaden mehr besitzen oder darstellen, folglich also auch per se keine Bilder mehr produzieren. Das – meist sehr verwirrende – Körperhafte überwiegt, das menschliche Auge kann sich kein Bild mehr machen.

Der Prozess, welcher das menschliche Sehen ausmacht, die Transformation des Gesehenen in ein zweidimensionales Etwas, das auf der Netzhaut abgebildet und im Gehirn (oder der Seele bei Platon) wieder zu einem Objekt neu interpretiert wird, funktioniert nicht mehr. Im Unterschied zu einer europäischen Kirche oder einer arabischen Moschee, bei der das Symbol auch das Bild und damit die Wahrnehmung bestimmt, lassen dekonstruktivistische Architekturen durch ihre Komplexität und die Verschränktheit der einzelnen Elemente keine Bilder mehr zu.

Wir haben keine Bilder mehr

Es gibt also keine Fassaden (im „klassischen“ Sinn) mehr, denn diese waren ja immer die Bilder der Architekturen. Daher kann man maximal noch von Hüllflächen einzelner Bauteile als Bildgeber sprechen.

Der sogenannte Parametrismus, zu dessen bekanntesten Vertretern Zaha Hadid zu rechnen ist, hat ein ähnliches Problem mit Fassaden und bildgebenden Eindrücken. Hier ist es weniger die Komplexität der oft aus der Natur entlehnten Formensprache, sondern die Eintönigkeit. Diese auch als Blob- Architektur (Binary Large Object) bezeichnete Freiformarchitektur war einst modern und eine Innovation. Da sie mittlerweile in die Ebene eines Stils aufgestiegen ist, ist es aber mit der Innovation vorbei. Die Form oder Verbiegung von Lamellen und Fassadenplatten oder die Hightech-Produktion und Anwendung von PCM-Teilen (Phase Changing Material), das erzeugt mittlerweile nur noch Fadesse im Auge des Betrachters.

„Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe / so müd geworden, dass er nichts mehr hält. / Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt.“ Dieser Satz aus Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Panther“ charakterisiert wohl treffend die Gefühle, die man beim Anblick der durchaus als seriell zu bezeichnenden Bauten von Hadid (aber auch ihrer Epigonen und jener der Dekonstruktivisten) hat. Wenn man die Pressemeldungen über Hadid in den einschlägigen Architekturblogs der vergangenen Jahre studiert, tut sich eine sicherlich eigenständige Welt auf. Jedoch ist es eine Welt, die sich in Wiederholungen und Uniformitäten ergießt. Eine geschlossene Welt, die sich immer nur im Kreise dreht und in dessen Mittelpunkt nur ein Name steht.

Die Medien spielen dabei hundertprozentig mit. Architektur – und das kann man am Beispiel Zaha Hadid sehr gut erkennen – funktioniert heute nur noch mit einer perfekten PR-Maschine, welche die Gier der Menschen nach immer neuen und sensationsgeileren Bildern stillt. Zusammen mit den Medien entsteht so eine Art Stockholmsyndrom, bei dem keiner mehr weiß, wer der Täter eigentlich ist oder ob das Huhn vor dem Ei war oder umgekehrt.

Ziemlich enttäuschend jedoch manifestierten sich die ständig, durch Computeralgorithmen erzeugten Architekturvariationen des „globalen Stils“ bereits in der Ausstellung der Architekturbiennale 2012 in Venedig (das war diejenige mit dem irreführenden Übertitel: Common Ground). In einem – eigens ihrer Arbeit gewidmeten – Raum zeigte Kurator Chipperfield Hadids diverse Architekturmodelle. In der Serie, um nicht zu sagen, in der Masse kam die eintönige Gleichheit so richtig zum Vorschein. Die gebauten Projekte in Fernen Osten sind auch manchmal wirklich nicht eindeutig zu identifizieren. Ob ein Museum wirklich ein Museum oder nicht doch ein Einkaufszentrum oder vielleicht ein Airport oder ein Golfklub ist, erschließt sich oft nur aus der Gebäudebeschriftung.

Wenn ein Architekturbüro (fast) im Monatsrhythmus Großprojekte in Europa, in China und Übersee entwirft/ankündigt/eröffnet, die Direktorin des Büros gleichzeitig Architektur, Gartenpavillons, Jachten, Türklinken, Brunnen, Vasen, Schmuck, Badeanzüge, Schuhe, Möbel, Autos, Stoffkollektionen et cetera entwirft, was ist das dann: Architektur oder Industrie? Stellt sich da etwa der Anspruch auf eine weltweit gültige Design-Uniformität? Der Partner von Hadid, Patrick Schumacher, spricht diesen Anspruch in seinem Buch mit dem etwas überheblichen Titel „The Autopoiesis of Architecture“ offen aus. Sein Ziel ist die Führerschaft, die Einführung des Parametrismus als globaler neuer Stil. Punkt!

Denn auch bei (laut Website) 400 Mitarbeitern, die weltweit in 24 Filialen verteilt sitzen und 950 Projekte in 44 Ländern (gleichzeitig) bearbeiten, ist solch ein Output schwer vorstellbar. Und wo soll es da Qualität geben – beziehungsweise wie soll sie entstehen? Vielmehr drängt sich die Vermutung auf, dass ein einmal erfolgreiches Prinzip, leicht modifiziert, weiterproduziert wird. Dass, zum Beispiel, die Schöpferin des „Messner Mountain Museum Corones“ zu keiner Zeit (laut einem Zeitungsbericht), nicht einmal bei der Eröffnung, den Bauplatz besuchte, ist schon irgendwie schlüssig. Man könnte das auch mit einem Tiefkühlpizzaproduzenten vergleichen: Derkann auch nicht alle belieferten Supermärkte besuchen.

Geht es nur mehr ums Geld?

Geht es also nur um das Geld, um den Gewinn? Mit dem Bonmot „Never change a winning team“ soll keinesfalls die Berechtigung eines Architekten, Gewinn zu machen und verdienen zu wollen, infrage gestellt werden. Zu hinterfragen ist nur die ethische Grundeinstellung, die zu einer bedenken- und grenzenlosen Ausnutzung einer Masche bis zum (an Kolonialismus erinnernden) Architekturexport führt. Schon Walter Zschokke kritisierte die Haltung, für „Prunkbauten totalitärer Staaten Architektur als legitimistisches Feigenblatt zu liefern“. Der Architekt, der ohnehin schon zu (wie Martin Kohlbauer es formuliert hat) einem universellen Dilettanten degradiert wird und ständig sein Aufgabengebiet verkleinert sieht – soll er sich der Produktion verdingen oder der Qualität? Wo bleibt da der soziale Auftrag, der gesellschaftsbildende, kulturelle Input der Architektur als „Mutter aller Künste“ (Vitruv)?

Und wenn auch bei dieser riesenhaften internationalen Architekturindustrieproduktion ein paar Missgeschicke passieren – na ja, beim Hobeln fliegen eben Späne. Angesprochen auf die inhumanen Zustände (mit angeblichen Todesfällen) auf ihren Baustellen im Nahen Osten sagte die Architektin Hadid: „Es ist nicht meine Aufgabe als Architekt, mich darum zu kümmern!“ Nachdem diese Aussage einen ziemlichen medialen Shitstorm ausgelöst hatte, ruderte sie angestrengt zurück. Das war vor rund zwei Jahren, heute ist diese Episode bereits vergessen, von einer Flut neuer Erfolgsmeldungen via Internet zugedeckt. Allerdings brach die Diva bei einem Live-Interview für den britischen Sender BBC im September 2015 genervt von der (berechtigten) diesbezüglichen Frage der Reporterin das Gespräch einfach ab und verließ das Studio. Der Sender musste sich dann öffentlich entschuldigen.

Ist das das Ende der Architektur? ■

Geboren 1954 in Gmunden. Studium der Architektur an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Mag. arch. Seit 1978 in denBereichen Werbeagentur, Verlagswesen sowie Grafik selbstständig tätig. Seit 2010 Leitender Redakteur der Zeitschrift „Architektur“. Lebt als Journalist in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.