Der Campanile an der Limmat polarisiert

Auch wenn der Swissmill Tower auf den ersten Blick abweisend wirken mag, passt er perfekt in sein industrielles Umfeld. Und er bewirkt, dass das gepützelte Zürich nicht noch stromlinienförmiger wird.

Roman Hollenstein
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Fast schon amerikanisch mutet der Zusammenklang von Mühlenbauten, Bahnviadukt und dem 118 Meter hohen Swissmill Tower an, in welchem sich statt Büros oder Luxuswohnungen eine jährlich 220 Millionen Kilogramm Getreide verarbeitende Hightech-Maschinerie verbirgt. (Bild: Roman Hollenstein)

Fast schon amerikanisch mutet der Zusammenklang von Mühlenbauten, Bahnviadukt und dem 118 Meter hohen Swissmill Tower an, in welchem sich statt Büros oder Luxuswohnungen eine jährlich 220 Millionen Kilogramm Getreide verarbeitende Hightech-Maschinerie verbirgt. (Bild: Roman Hollenstein)

Hassliebe prägt seit je die Beziehung von uns Schweizern zu den Hochhäusern. Phasen der Ablehnung wechseln mit Zeiten der Euphorie, in denen uns Türme einen Weg aus der provinziellen Enge zu weisen scheinen. Doch weder eine Skyline wie in New York noch eine Ballung wie in Frankfurt ist bei uns aufgrund der Baugesetze möglich. Vielmehr ragen Zürichs glitzernde Himmelsstürmer wie die Zähne eines kariösen Gebisses einsam in die Höhe, so dass moderne Blockrandbebauungen wie das Richti-Areal in Wallisellen oder das Limmatfeld in Dietikon eine ebenso hohe Dichte aufweisen wie die Gegend um den Prime Tower. Enger sind die Verhältnisse weiter nördlich an der Limmat, wo ein im Februar 2011 vom Volk bewilligter Gestaltungsplan die Aufstockung eines alten Getreidesilos zum 118 Meter hohen Swissmill Tower erlaubte. Schon vor dessen Eröffnung im August erkennt man, dass sich im Zusammenklang der Mühlenbauten mit dem Bahnviadukt und dem Löwenbräuareal ein stimmiges Gemisch von alten Industriegebäuden und Hochhäusern ergibt.

Zwar kritisieren Anwohner den Schattenwurf des schlanken Baus. Dennoch ist es nicht die von ihm verkörperte grossstädtische Dichte, die ihn zum derzeit bestgehassten Bauwerk Zürichs macht. Vielmehr provoziert der graue Tower, in welchem sich statt Büros oder Luxuswohnungen eine jährlich 220 Millionen Kilogramm Getreide verarbeitende Hightech-Maschinerie verbirgt, durch die Rohheit des Betons. Auch wenn der Turm auf den ersten Blick abweisend wirken mag, passt er perfekt in sein Umfeld, zumal das Eglisauer Architekturbüro Harder Haas ihm mit den roten Rippen des Sockels, den Kannelüren des Schafts und den Fenstern am Dachabschluss klassische Proportionen verliehen hat. Vielleicht hätten Stars wie Herzog & de Meuron eine raffiniertere Fassade hingezaubert. Aber ist nicht das Unprätentiöse die Stärke dieses Zweckbaus, der sich selbstbewusst wie eine minimalistische Skulptur über die Stadt erhebt? Seine Fassaden zeugen von der Kunst des Bauens mit Beton, die nirgends – ausser in Japan – so meisterlich beherrscht wird wie hierzulande. In ihrer kühlen Zurückhaltung ist die Betonhülle aber auch Ausdruck jenes protestantisch-nüchternen Formensinns, der in Zürich stets höher geschätzt wurde als schöner Schein.

Als weithin sichtbares Zeichen erinnert der Swissmill Tower zudem an die lange Tradition städtischer Kornhäuser und an die Industrie, die hier am Fluss seit mehr als 200 Jahren ihren Platz hat, ja sogar an die Bedeutung der Lebensmittelversorgung in einem bevölkerungsreichen Kleinstaat. Hätte man den per Bahn gut erschlossenen Silo, der kein neues Land beanspruchte, im Grünen errichtet, so hätten die alten Mühlenbauten keine Existenzberechtigung mehr gehabt – es sei denn umgenutzt zu luxuriösen Lofts oder in ein weiteres Kulturzentrum. Doch dank dem Engagement der Swissmill-Besitzerin Coop konnte hier die Gentrifizierung des Quartiers gebremst und eine atmosphärische Industrieanlage erhalten werden, deren neuer Turm dem Campanile von San Marco frappierend ähnlich sieht – bis auf die fehlende pyramidenförmige Spitze. Aber warum nur hat Coop auf dem flachen Dach keine Aussichtsterrasse eingerichtet? Sie hätte die Akzeptanz des den Limmatraum beherrschenden, welthöchsten Siloturms gefördert, dessen wichtigste Botschaft wohl darin liegt, dass es widerborstige Gebäude braucht, damit unsere sich immer mehr herausputzenden Städte nicht allzu stromlinienförmig werden.