Aufbruch im Mittelmeer

Vallettas Lage am Meer beflügelt die Sinne ebenso wie seine Bollwerke und Paläste. Dank subtilen Neubauten wie Renzo Pianos Parlament wirkt die 450 Jahre alte Schönheit heute verführerischer denn je.

Roman Hollenstein
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Steinerne Hightech-Architektur in sensibler Umgebung – das neue, burgartige Parlamentsgebäude bildet das Herzstück von Renzo Pianos City Gate in Valletta. (Bild: Michel Denance)

Steinerne Hightech-Architektur in sensibler Umgebung – das neue, burgartige Parlamentsgebäude bildet das Herzstück von Renzo Pianos City Gate in Valletta. (Bild: Michel Denance)

Er ist ganz einfach wunderbar: der Blick von den Upper Barrakka Gardens auf den Grand Harbour. Kubische Bollwerke, rote Kuppeln und barocke Türme bestimmen eine Stadtlandschaft, die sich um fjordartige Meeresarme schmiegt. An Schönheit ist diese steinerne Welt kaum zu überbieten. Selbst Touristen, die sonst für urbane Kompositionen kein Sensorium haben, blicken fasziniert hinüber auf das Dreigestirn Cospicua, Vittoriosa und Senglea. Zu diesem gesellte sich aus einer Laune der Geschichte heraus als neues Gravitationszentrum das nach dem Sieg über die angreifenden Türken vor exakt 450 Jahren von den Malteserrittern gegründete Valletta – entworfen vom Michelangelo-Schüler Francesco Laparelli als schachbrettförmige, von polygonalen Bastionen gefasste Planstadt.

Touristen und Rückkehrer

Heute ist die knapp 80 Hektaren grosse und 7000 Einwohner zählende Festung die kleinste Hauptstadt Europas. Doch nirgendwo sonst gibt es auf so kleiner Fläche derart viele Sehenswürdigkeiten. Sie locken mehr und mehr Touristen an, die per Flugzeug und immer häufiger auch mit Kreuzfahrtschiffen anreisen, so dass sie an manchen Tagen den Bewohnern Vallettas zur Last fallen. Dabei ist es gar nicht lange her, da galt das 1980 zum Weltkulturerbe erklärte Valletta als sterbende Stadt, deren Paläste nur noch der Verwaltung dienten, während viele unbewohnte Stadthäuser zusehends verlotterten. Doch seit einigen Jahren zieht es vor allem jüngere Leute, darunter viele Kreative, zurück in die preisgünstigen Wohnungen auf der dicht bebauten Landzunge. Aber auch Reiche, die sich ganze Häuser raffiniert umbauen lassen, entdecken die städtischen Reize wieder. Diese zeigen sich am Abend, wenn die Tagesausflügler nach Sliema, St Julians oder auf die Kreuzfahrtschiffe zurückgekehrt sind. Dann schmiedet man beim Apéro an der Strait Street Pläne für den Abend, erfreut sich an den musikalisch hintermalten Wasserspielen auf dem unlängst autofrei gewordenen St George's Square vor dem Grossmeisterpalast oder sucht sich einen Tisch in einem Boulevardrestaurant.

Es sind jedoch nicht nur die städtischen Kulissen und die kurzen Fusswege, die selbst Auswanderer wie den Jungdesigner Michael Azzopardi zur Rückkehr nach Valletta bewogen haben, sondern auch das aufblühende Kulturleben. So schwärmt Azzopardi vom Spazju Kreattiv, einem Labyrinth, bestehend aus Theater, Kino, Kunstgalerien, Bar und Restaurant, das Richard England, der Altmeister der maltesischen Baukunst, mit postmoderner Leichtigkeit dem gigantischen Festungswerk des St James Cavalier einverleibt hat. Ältere Semester hingegen schwärmen vom Teatru Manoel, wo man in einem Barocksaal Oper und Ballett geniessen kann. Eher an Touristen wenden sich das archäologische Museum, das die frühen Hochkulturen Maltas dokumentiert, und die von Gerolamo Cassar, dem maltesischen Schüler des Stadtplaners Laparelli, erbaute und von Mattia Preti ausgeschmückte Kathedrale, die mit der «Enthauptung Johannes des Täufers» Caravaggios Vermächtnis hütet.

Das Kunstmuseum ist hingegen geschlossen. Es soll während Vallettas Kulturhauptstadtjahr 2018 in der umgebauten Auberge d'Italie, dem einstigen Sitz der italienischen Malteserritter, als Muza wiedereröffnet werden. Mit dem Projekt befasst sich die Valletta 2018 Foundation, die sich auch um die denkmalpflegerische Restaurierung der heruntergekommenen Markthallen kümmert, die Chris Briffa, der 42-jährige Shootingstar der maltesischen Architekturszene, gerne mit einigen extravaganten Eingriffen in eine Kunsthalle hätte umwandeln wollen. Als Kompromiss soll es hier künftig neben dem Marktbetrieb auch Platz für kulturelle Veranstaltungen geben.

Ebenfalls im Hinblick auf 2018 will die Foundation die hinter der Auberge de Bavière am Ende der Old Mint Street gelegenen verwahrlosten Schlachthäuser in einen Design-Cluster mit Studios für Startup-Firmen aus dem für Malta wichtigen Design-Sektor verwandeln. Weiter will man die beim Jungvolk beliebte Strait Street aufwerten. Bereits werden Häuser renoviert und Lokale eingerichtet, die sich bald zu den leisen Attraktion dieser Strasse gesellen werden: der höchst eigenwilligen, von Chris Briffa inszenierten öffentlichen Toilette und einer hölzernen, den Erkern der Stadt nachempfundenen Passerelle von Konrad Buhagiar, die die von ihm in einen Altbau eingebaute Hightech-Erweiterung des Warenhauses Marks & Spencer mit dem Hauptbau verbindet.

Buhagiar und sein Team Architecture Project gelten als das derzeit erfolgreichste maltesische Architekturbüro: Bekannt wurde es durch Hausumbauten, die Transformation der klassizistischen Garnisonskirche zur Börse sowie die Neugestaltung der Valletta Waterfront, an der nun fast täglich Kreuzfahrtschiffe anlegen. Sein kühnstes Werk aber ist die filigrane Beton- und Stahlkonstruktion des Barrakka-Lifts, der die Waterfront mit der Oberstadt verbindet. Als erster weithin sichtbarer Neubau seit Jahrzehnten wurde er 2012 zum Symbol von Vallettas Wiedergeburt. Ihm antwortete kurz darauf der neue Verwaltungssitz der Bank of Valletta, den Ray De Micoli am Ende der Windmill Street auf der St Michael's Bastion in aussichtsreicher Lage hoch über dem Marsamxett-Hafen als eine Komposition von Pavillons aus maltesischem Kalkstein und Glas realisieren durfte.

Bauskulptur am Stadteingang

Im gleichen Jahr konnte das neue Freilichttheater als erster Teil des ambitiösen City-Gate-Projekts eröffnet werden, zu dem Renzo Piano bereits 1986 Entwürfe vorgelegt hatte. Doch der von der damaligen Labour-Regierung erteilte Direktauftrag, der anfangs nur eine Neugestaltung des Bieb il-Belt genannten Stadttors aus den 1960er Jahren vorsah, dümpelte im politischen Gezänk zwischen den jeweiligen Regierungsparteien vor sich hin, bis der konservative Premierminister Lawrence Gonzi 2008 Piano um eine Überarbeitung des Projekts bat. Piano sollte dieses um ein Parlamentsgebäude ergänzen, das an der Stelle des 1863 von Edward Middleton Barry als Musikpalast mit monumentalen Säulenhallen errichteten und 1942 von deutschen Bomben zerstörten Royal Opera House zu bauen war.

Piano gelang es, die Regierung zu überzeugen, dass man die zum festen Bestandteil des Stadtbilds gewordenen Opernhaus-Ruinen erhalten und in ein modernes Open-Air-Theater umbauen sollte. Als Standort für das Parlament schlug er den Parkplatz vor, der sich der Republic Street entlang von der Ruine bis zum Stadttor ausdehnte. Dieses ersetzte er im Rahmen eines bis heute andauernden Work in Progress durch zwei von aggressiven Stahlspeeren bewachte pharaonische Pylone und redimensionierte die Fussgängerbrücke, die zum ausserhalb der Mauern gelegenen kreisförmigen Platz beim Tritonenbrunnen führt. Der chaotische Busbahnhof, der diese Anlage bis heute beeinträchtigt, soll demnächst in eine begrünte Flanierzone verwandelt werden, die sich bis zum legendären, derzeit im Umbau befindlichen Hotel Phoenicia erstreckt. Die Bushalte hingegen sollen an den östlich anschliessend Stadtgraben verlegt werden, der eine per Lift erreichbare Gartenanlage aufnehmen wird.

Während diese Arbeiten nur harzig vorankommen, konnte vor genau einem Jahr das Parliament House eingeweiht werden, in dem nun die 65 Volksvertreter zusammenkommen, die zuvor im Grossmeisterpalast tagten. Seither hat sich die Kritik an dem für Valletta ungewöhnlichen Bauwerk weitgehend gelegt. Denn die Touristen kürten das Parlamentsgebäude schnell zum neuen Wahrzeichen der Stadt. Wie Paparazzi umkreisen Hobbyfotografen bei Tag und Nacht den rätselhaften Bau, und für die öffentlichen Besichtigungen des Plenarsaals bilden sich Schlangen wie sonst nur vor der Kathedrale beim Eingang zu Caravaggios Meisterwerk.

Blickt man vom neuen, zum Himmel offenen Stadttor auf das Parlamentsgebäude, so scheint es aus drei schweren, teilweise verwitterten Steinblöcken zu bestehen, die über der sich platzartig ausdehnenden Republic Street schweben – fixiert von einem Flugdach, das aus dem abgeschrägten Eckpylon kragt. Um die Weite des ehemaligen Parkplatzes, der sich bis zum St James Cavalier erstreckte, möglichst zu wahren, stellte Piano die beiden im Grundriss trapezförmigen Gebäude, von denen das niedrigere Büros und Sitzungsräume, das höhere aber den trichterförmigen Parlamentssaal aufnimmt, auf abenteuerlich schlanke Metallstützen und verglaste die dahinter liegenden Eingangszonen. Ein keilförmiger Hinterhof zwischen den ungleichen Zwillingsbauten gibt die Sicht frei auf die rückseitigen Festungsmauern und lädt zu einem Erkundungsspaziergang ein.

Die kariöse Gebäudehülle ist das Resultat neuster Computertechnik. Die massiven, einer Stahlkonstruktion vorgehängten Kalksteinplatten wurden auf der Nachbarinsel Gozo gebrochen und in Italien so zugeschnitten, dass sie eine Vielzahl verschatteter Fensteröffnungen aufweisen. Da Baulinien und Grundrisse nur eine beschränkte Geschossfläche erlaubten, enthält der Parlamentskubus neben dem Plenarsaal nur Servicezonen und Ruheräume, in denen man einen Kaffee trinken kann. Zum Essen aber müssen die Abgeordneten das Haus verlassen, was der Volksnähe ebenso dienlich sein soll wie der transparente Eingangsbereich. Dennoch fragt man sich, ob ein geerdetes Gebäude mit harmonisch strukturierten Fassaden in der Art von Rafael Moneos vielgelobtem Rathaus von Murcia an dieser Stelle nicht passender gewesen wäre. Doch mit dem neuen, zwischen traditioneller Bauweise und konstruktiver Exzentrik oszillierenden Parlamentsgebäude bekennt sich Valletta entschieden zur Zukunft.

Neues Leben in alten Mauern

Das heisst aber nicht, dass die heutigen Architekten nun überall in der Stadt ihre Duftmarken anbringen dürfen. So wird Chris Briffas Projekt eines «Mattia Preti»-Hotels an der zum Marsamxett-Hafen gelegenen Schauseite der Stadt wegen seiner Rasterfassade wohl nie gebaut. Denn die Neuerfindung der Stadt soll diskret vorangehen – vor allem mittels weiterer dringend nötiger Restaurierungen von Wohnhäusern und Umnutzungen von Baudenkmälern. Konrad Buhagiars Hausumbauten oder das besuchenswerte, in eine Festung integrierte Fortress Builders Museum von Norbert Gatt zeigen, dass die dicht bebaute Stadt keine neuen Häuser braucht, sondern neues Leben in den alten Mauern.