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Ein Greis mit aus­ge­zeich­ne­ten Krü­cken
Der Standard

Vor­ge­stern, Don­ners­tag, wur­de in Wien der Brick Award 2016 über­ge­ben. Ei­nes der sechs Sie­ger­pro­jek­te ist die Ca­sa Ma­rí­lia in São Pau­lo. Das al­te Wohn­haus aus dem Jahr 1915 wur­de auf ra­di­ka­le Wei­se sa­niert.

21. Mai 2016 - Wojciech Czaja
Die Zie­gel­fass­ade hat wahr­lich schon bes­se­re Zei­ten er­lebt. Der Putz hat sich ver­ab­schie­det, so man­cher Stein rie­selt vor sich hin, und die hand­gro­ßen Ze­ment­lö­cher tra­gen zum kons­truk­ti­ven Ver­trau­en auch nur be­dingt bei. Un­ter nor­ma­len Um­stän­den hät­te man ein Haus wie die­ses längst ab­ge­ris­sen, zu­mal hier, nur we­ni­ge Blocks von der Ave­ni­da Pau­lis­ta ent­fernt, die das Zen­trum dia­go­nal durch­quert und mitt­ler­wei­le zu den teu­ers­ten Adres­sen der gan­zen Stadt zählt.

„Die In­nens­tadt von São Pau­lo hat sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten so stark ge­wan­delt, dass ei­ni­ge Stra­ßen kaum wie­der­zu­er­ken­nen sind“, sagt der bra­si­lia­ni­sche Ar­chi­tekt Jo­sé Lu­is. „Man­che Vier­tel sind wie aus­ge­tauscht. Wo frü­her hüb­sche Stadt­vil­len stan­den, ra­gen nun mo­der­ne Bü­ro­hoch­häu­ser und Lu­xus­wohn­tür­me in den Him­mel. Die­se las­sen sich ge­winn­brin­gen­der ver­mark­ten. Die al­te Iden­ti­tät der Stadt wird so Stück für Stück ver­nich­tet. Ich fin­de das be­dau­er­lich.“

Die Ca­sa Ma­rí­lia, ei­ne grei­se Pracht mit rui­nö­sem Char­me, ist ein Bei­trag, um die­ser schlei­chen­den Iden­ti­täts­auf­lö­sung São Pau­los ent­ge­gen­zu­wir­ken. Auf fast sym­bol­träch­ti­ge Wei­se wur­de das rund 100 Jah­re al­te Zie­gel­haus in ein Kor­sett aus Stahl­krü­cken ge­pfercht. Das Bild ist ein­prägs­am, viel­leicht so­gar ein biss­chen scho­ckie­rend. Vor­ge­stern, Don­ners­tag, wur­de die un­ge­wöhn­li­che Re­vi­ta­li­sie­rung im Her­zen der bra­si­lia­ni­schen Me­ga­me­trop­ole als ei­nes von ins­ge­samt sechs Pro­jek­ten mit dem Wie­ner­ber­ger Brick Award 2016 aus­ge­zeich­net.

„Mit Zie­geln wird be­reits seit mehr 2000 Jah­ren ge­baut, und der Bau­stoff kommt nicht und nicht aus der Mo­de“, sag­te der Lon­do­ner Ar­chi­tekt Al­fred Mun­ken­beck, der in der Ju­ry saß und aus über 600 Ein­rei­chun­gen und 50 Pro­jek­ten auf der Short­list die sechs Sie­ger aus­er­kor, im Rah­men der Preis­ver­lei­hung. „Das Ma­te­ri­al ist im­mer noch im Ein­satz, es ist im­mer noch lang­le­big, und es wer­den da­mit im­mer noch In­no­va­tio­nen ge­macht. Es ist er­staun­lich, auf wie un­ter­schied­li­che Wei­se der Zie­gel­stein heu­te ein­ge­setzt wird.“

Ge­nau die­se Viel­falt ist auch der Grund, wa­rum der bien­na­le Brick Award heu­er be­reits zum sie­ben­ten Ma­le ver­ge­ben wur­de. „Wir sind das welt­weit füh­ren­de Zie­ge­lun­ter­neh­men“, meint Uwe Scheuch, CEO der Wie­ner­ber­ger AG. „Und ich er­ach­te es als un­se­re Ver­ant­wor­tung, die Ent­wi­cklun­gen auf die­sem Ge­biet zu wür­di­gen und in­ter­na­tio­nal sicht­bar zu ma­chen.“ An­hand der Ge­win­ner­pro­jek­te (sie­he un­ten) kön­ne man sehr gut nach­voll­zie­hen, wie zeit­los der Bau­stoff Zie­gel sei.

Stäh­ler­nes Ge­rüst

„Dass die Ca­sa Ma­rí­lia heu­te so aus­sieht, wie sie aus­sieht, ist kein Zu­fall“, sagt Ar­chi­tekt Jo­sé Lu­is vom bra­si­lia­ni­schen Ar­chi­tek­tur­bü­ro Su­per­Limão. „Das Haus war ganz nor­mal ver­putzt und bis vor kur­zem ro­sa­rot gest­ri­chen. Man könn­te sa­gen, es war un­auf­fäl­lig alt. Wir ha­ben uns da­zu ent­schie­den, ihm zum 100. Ge­burts­tag das Putz­kleid ab­zu­neh­men und die nack­te Kons­truk­ti­on sicht­bar zu ma­chen, mit all ih­ren Schön­heits­feh­lern und bau­li­chen Mut­ter­ma­len, so­zu­sa­gen als Ode an ei­ne tra­di­tio­nel­le Bau­wei­se, die mehr und mehr in Ver­ges­sen­heit ge­rät.“

Zwi­schen den un­ver­putz­ten Zie­gel­stei­nen, zwi­schen all den fein ge­schmie­de­ten, rot la­ckie­ren Ei­sen­git­tern und höl­zer­nen Fens­ter­lä­den, die in ih­rer auf­ge­klapp­ten Ma­nier an Ur­groß­mut­ters Zei­ten er­in­nern, prangt nun ein stäh­ler­nes Ge­rüst aus han­dels­üb­li­chen feu­er­ver­zink­ten, mit­ein­an­der ver­schraub­ten und ver­schweiß­ten I-Trä­gern, die das Haus wie ein et­was grob­schläch­ti­ges Exos­ke­lett um­hül­len, Bau­markt­char­me in­klu­si­ve.

„Die be­ste­hen­de Zie­gel­wand war zwar in der La­ge, sich selbst zu tra­gen, doch da­mit war die ma­xi­ma­le Be­la­stung be­reits er­reicht“, er­klärt der Ar­chi­tekt. „Für die zwei­ge­scho­ßi­ge Auf­sto­ckung je­doch brauch­te es ei­ne zu­sätz­li­che Trag­kons­truk­ti­on. Wir ha­ben das Ge­stell sicht­bar nach au­ßen ge­stülpt. Das Al­te ist vom Neu­en ge­trennt. Das Mo­der­ne darf ne­ben dem His­to­ri­schen ko­exis­tie­ren. Kei­nes der bei­den ist bes­ser, kei­nes schlech­ter. Ich fin­de die­ses Bild der Ge­ne­ra­tio­nen wun­der­schön.“

Das In­nen­le­ben des Hau­ses wur­de ent­kernt und kom­plett neu or­ga­ni­siert. Die al­ten Wand­zie­gel wur­den de­mon­tiert, num­me­riert, ka­ta­lo­gi­siert, von Mör­tel und Bau­schutt be­freit und an­schlie­ßend an­hand der neu­en Grund­ris­splä­ne wie­der Stück für Stück auf­ge­mau­ert. Um die Schwin­gun­gen zwi­schen in­nen und au­ßen, zwi­schen stäh­ler­nem Ske­lett­bau und mas­si­vem Zie­gel­mau­er­werk zu re­du­zie­ren, la­gern die Ver­bin­dungs­ele­men­te nun auf so­ge­nann­ten Elast­ome­ren. Üb­li­cher­wei­se kom­men die Gum­mi­mat­ten im Brü­cken­bau zum Ein­satz.

An­ders als in der Ver­gan­gen­heit ver­birgt sich hin­ter der ge­heim­nis­vol­len Zie­gel­fass­ade heu­te kei­ne Pri­vat­woh­nung, son­dern das Bü­ro des IT-Dienst­leis­ters Pla­ta­for­ma­tec. Das jun­ge Start-up-Un­ter­neh­men nutzt das ei­gen­wil­li­ge Haus als Vi­si­ten­kar­te, um die ver­steck­ten Pro­zes­se, um die kons­truk­ti­ven di­gi­ta­len Ele­men­te, wie es meint, sicht­bar zu ma­chen. So­wohl im Alt­bau als auch auf den bei­den ober­sten Eta­gen, die dem Haus in Stahl, Glas und Be­ton­fer­tig­tei­len auf­ge­setzt wur­den, las­sen sich die bau­li­chen Schich­ten der Ca­sa Ma­rí­lia wie ein of­fe­nes Buch le­sen.

„Die Be­hör­den wa­ren mit die­sem Pro­jekt ziem­lich über­for­dert, und der Um­bau des Hau­ses hat sich über vie­le Jah­re ge­zo­gen“, er­klärt Lu­is. „Aber es hat sich aus­ge­zahlt. Die Ca­sa Ma­rí­lia ist kein sin­gu­lä­res Ein­zel­pro­jekt, son­dern ei­ne Re­vi­ta­li­sie­rung mit ei­ner enor­men sym­bo­li­schen Strahl­kraft. Ich wür­de mir wün­schen, dass das Haus die Art und Wei­se, wie wir in Bra­si­lien mit al­ten, his­to­ri­schen Bau­ten um­ge­hen, nach­hal­tig ver­än­dern wird.“ Sehr er­fri­schend. Tief­gang noch da­zu. Mö­ge die hier zi­tier­te Strahl­kraft Mit­tel­eu­ro­pa er­rei­chen.
[ Wie­ner­ber­ger (Hg.), „Brick 16: Aus­ge­zeich­ne­te Zie­ge­lar­chi­tek­tur in­ter­na­tio­nal“. 264 Sei­ten / € 49,95. Call­wey-Ver­lag, Mün­chen 2016 ]

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