Mehr als nur eine schöne Nebensache

Während der Moderne verpönt, ist das Ornament in die Architektur zurückgekehrt. Heute wirft man ihm keinen Mangel an Funktion mehr vor, was an technischer Innovation und neuem Funktionsbegriff liegt.

Ursula Seibold-Bultmann
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Ein Sternenmeer überzieht den Erweiterungsbau des Zürcher Museums Rietberg von Grazioli und Krischanitz. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Ein Sternenmeer überzieht den Erweiterungsbau des Zürcher Museums Rietberg von Grazioli und Krischanitz. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Stahl, Beton und Glas, glatte Flächen, kühle Ausstrahlung und nur ja kein Schmuck? Das muss nicht mehr sein: Vielerorts steht man heute vor unterschiedlich ornamentierten neuen Fassaden. In St. Petersburg etwa schmücken sauber gereihte Darstellungen märchenhaft farbiger Figürchen in historischen Theaterkostümen die dunkle Glasfassade des 2008 vollendeten Geschäftszentrums Benois von Sergei Tchoban. Es steht in jenem Viertel, wo im späten 19. Jahrhundert Alexandre Benois aufwuchs, der Entwerfer besagter Kostüme. Im spanischen Los Barrios, nahe der Meerenge von Gibraltar, bildet das Betonfachwerk der beiden Torres de Hércules (2007–2009) von Rafael de La-Hoz Castanys ein optisch wie statisch tragendes Geflecht verfremdeter Buchstaben, die sich als «Non plus ultra» lesen lassen – laut Überlieferung zeigten die am Ausgang des Mittelmeers auf die Säulen des Herkules geschriebenen Worte das Ende der antiken Welt an. Und in Zürich funkelt das 2007 von Alfred Grazioli und Adolf Krischanitz geschaffene, blaugrün schimmernde gläserne Eingangsgebäude des Museums Rietberg dank geometrischen Siebdruck-Ornamenten wie ein Smaragd.

Wild und gefährlich

Ornamente schmücken Gebäude nicht nur, sondern haben auch eine gliedernde, rhythmisierende und somit ordnende Funktion. Zu den traditionellen formalen Mitteln der Ornamentik zählen Wiederholung, Reihung, Überschneidung, Verflechtung, Spiegelung, Drehung, Symmetrie der einzelnen Elemente. Wie die drei Beispiele zeigen, sind dabei die Übergänge vom Ornament zum Bild oder auch zur Dekoration, zu Schrift oder Muster heute fliessend. Da wundert man sich nicht, dass in der derzeitigen theoretischen Debatte zum Thema eine scharfe Definition des Ornaments eher vermieden wird. Der Architekturtheoretiker Mark Cousins nennt es sogar ein «Etwas», «das sich nicht anbinden oder definieren» lasse. Seine einstige, schon im 19. Jahrhundert verlorene Rolle als Komponente eines einheitlichen Zeitstils wie Gotik oder Barock hat es nie wieder erlangt. Aber eins ist klar: Seit geraumer Zeit erlebt das Ornament in der Architektur eine optische und taktile Neubestimmung, wie sie sich zum Beispiel in der Ausstellung «Ornament neu aufgelegt» im Schweizerischen Architekturmuseum in Basel (2008) spiegelte.

Mit Getöse zurück in die zeitgenössische Spitzenarchitektur fand das Ornament in Form stilisierter, Maschrabiyya genannter arabischer Sonnengitter aus schliessbaren Metallblenden, die Jean Nouvel an der Südfassade des Ende 1987 vollendeten Institut du monde arabe einsetzte. (Bild: Institute du monde arabe)

Mit Getöse zurück in die zeitgenössische Spitzenarchitektur fand das Ornament in Form stilisierter, Maschrabiyya genannter arabischer Sonnengitter aus schliessbaren Metallblenden, die Jean Nouvel an der Südfassade des Ende 1987 vollendeten Institut du monde arabe einsetzte. (Bild: Institute du monde arabe)

Überholt ist also offenbar der berühmte Vortrag des Wiener Architekten Adolf Loos von 1910 über «Ornament und Verbrechen», wo Ornamente abwertend in die Sphären der Frauen, der Naturvölker, der tätowierten Verbrecher und degenerierten Aristokraten verwiesen sind. Damit rückte der Autor das Ornament in die Nähe von allem, was dem Publikum wild, fremd oder gefährlich erscheinen konnte. Die von Loos nicht zuletzt auch aus ökonomischen Gründen geforderte Ornamentlosigkeit hingegen machte für ihn die Grösse seiner Zeit aus und bildete in seinen Augen «ein Zeichen geistiger Kraft». Auch wenn das Ornament in der Praxis nie ganz aus der Moderne verschwand, wie es verkürzende Darstellungen nahelegen, so geriet es doch damals enorm unter Druck. Seine Gegner sammelten sich ausser hinter Loos auch hinter dem amerikanischen Architekten Louis Sullivan und dessen Slogan «Form follows function».

Doch wie kam es in der Architektur nach einer langen Ära weitgehender Schmucklosigkeit zur heutigen Rückwendung zum Ornament? Etwas vereinfacht gesagt: Bevor ihm die ab den späten 1980er Jahren einsetzende Entwicklung computergestützter Entwurfs- und Produktionsmethoden ganz neue Möglichkeiten öffnete, hatte es sich schon in der Postmoderne eingenistet. Der amerikanische Architekt Robert Venturi war von Mies van der Rohes modernem Glaubenssatz «Less is more» zum gereimten Gegenschlag inspiriert worden: «Less is a bore!» Dieses muntere Motto impliziert ein neues Verständnis des Begriffs der Funktion: Anders als die Baumeister der Moderne bezog Venturi diesen ausdrücklich auf die kommunikativen Möglichkeiten von Architektur. So verstand er das Ornament als «Träger für Symbolik», dem in erster Linie eine «rhetorische» Aufgabe zukomme. Und auch Charles Jencks als Protagonist der postmodernen Architekturtheorie setzte sich für eine Architektur ein, die etwas kommunizieren sollte. So knüpfte die Postmoderne an die viel ältere Idee von sprechender Architektur an und konnte zugleich dem zusehends auch medial geführten Kampf neuer Bauten um Aufmerksamkeit Rechnung tragen.

Es versteht sich, dass ein ornamentierter Bau mehr zu sagen oder auch nur zu plaudern verspricht als ein schmucklos glatter Quader. Seit Venturi und Scott Brown 1978 die Fassade ihres kistenförmigen Best Products Catalog Showroom in Langhorne, Pennsylvania, mit einem Blütenmuster aufpeppten, hat sich in der Architektur trotz zeitweise gegenläufigen, minimalistischen Energien eine schier unübersehbare Vielfalt ornamentaler Möglichkeiten entfaltet. Vielleicht ist die Vorstellung von kommunikativer Architektur bis heute die einzige gemeinsame Klammer, die sich für diese Schmuckfülle anbietet, auch wenn sie bei weitem nicht alle Aspekte des Ornaments umfasst.

Thematisch reicht die Spanne von Motiven aus der Natur wie etwa der Foto der «Doldigen Schafgarbe» von Karl Blossfeldt, das Herzog & de Meuron 1993 in ornamentaler Reihung auf die Längsseiten ihres Ricola-Lagerhauses in Mulhouse aufdrucken liessen, über textil anmutende Strukturen bis hin zur Kartografie: So werden die rauen Fertigbeton-Tiefreliefs an der Fassade des Kongresszentrums von Nieto Sobejano in Mérida (2004) bei näherem Hinsehen als Ausschnitte des Plans der spanischen Stadt lesbar. Nicht immer sind die Motive allerdings so eindeutig zu benennen: Der Tokioter «Airspace» von Hajime Masubuchi und Thom Faulders (2007) wird von einer mehrschichtigen weissen Netzstruktur umhüllt, die Assoziationen an Nervenfasern oder Kunststoffgewebe wecken kann.

Interkulturelle Dimension

Auch Digitalfassaden, die wie beim Erweiterungsbau des Kunstmuseums Basel das Ornament ephemer und beweglich machen, lassen sich unter dem Oberbegriff der Kommunikation fassen. Was aber durch einen Bau und seine Ornamentik kommuniziert wird – etwa seine Zweckbestimmung, ein Lokalbezug, soziale Ambitionen der Bauherrschaft oder die Aura einer Marke –, unterscheidet sich im Einzelfall stark und erfordert ein scharfes Hinschauen. Denn Kommunikation ist ein zunächst einmal wertfreier Vorgang, durch den sich nicht jedes Ornament automatisch legitimieren lässt. Andererseits: Akzeptiert man, dass Ornamente ein besonderes kommunikatives Potenzial haben, so rücken sie fast zwangsläufig ins Zentrum bestimmter Bauprojekte.

Die Schrift als ornamentales Element kommt beim 2016 eröffneten Erweiterungsbau des Kunstmuseums Basel von Christ & Gantenbein in virtueller Form zum Einsatz, denn die Buchstaben erscheinen durch das gezielte Ausleuchten der Schattenzonen zwischen den einzelnen Ziegelsteinen. (Bild: Christian Beutler / Keystone)

Die Schrift als ornamentales Element kommt beim 2016 eröffneten Erweiterungsbau des Kunstmuseums Basel von Christ & Gantenbein in virtueller Form zum Einsatz, denn die Buchstaben erscheinen durch das gezielte Ausleuchten der Schattenzonen zwischen den einzelnen Ziegelsteinen. (Bild: Christian Beutler / Keystone)

Besonderes Fingerspitzengefühl ist dann nötig, wenn ein Bau einen Beitrag zur interkulturellen Kommunikation leisten muss. Dann steht die Sichtbarkeit kultureller Charakteristika von «Eigenem» und «Fremdem» im öffentlichen Raum zur Debatte. Bereits das erste prominente Gebäude, das im postmodernen Kontext das Ornament rehabilitierte – Jean Nouvels Institut du Monde Arabe in Paris (1987) –, ist in diesem Spannungsfeld zu verorten. Denn vor allem die an arabischen Fenstergittern orientierte technoide Ornamentik der Südfassade zielt auf Vermittlung zwischen westlichem und arabischem Kulturraum, wie sie durch die Bauaufgabe vorgegeben war. Diese Idee nahm Nouvel dann beim kuppelartigen Dach des Louvre Abu Dhabi wieder auf, der derzeit seiner Vollendung entgegengeht.

Im kuppelartigen Dach des Louvre Abu Dhabi, der demnächst eröffnet werden soll, nahm Jean Nouvel das von ihm schon beim Institut du monde arabe in Paris verwendete ornamentale Fenstergittermotiv der arabischen Baukunst im grossen Massstab wieder auf. (Bild: TDIC / Jean Nouvel)

Im kuppelartigen Dach des Louvre Abu Dhabi, der demnächst eröffnet werden soll, nahm Jean Nouvel das von ihm schon beim Institut du monde arabe in Paris verwendete ornamentale Fenstergittermotiv der arabischen Baukunst im grossen Massstab wieder auf. (Bild: TDIC / Jean Nouvel)

Die ornamentierte Fassade des Institut du Monde Arabe zeigt zugleich aber auch, dass sich die Funktionen der interessantesten neueren Architekturornamentik nicht nur auf Kommunikation beschränken. Denn die 25 000 Fotolinsen, die über diese Schauseite verteilt sind, regulieren computergesteuert den Lichteinfall in das Gebäude, wobei sich jeweils auch die Form der Ornamente ändert. Hier hat man es also nicht mehr mit blosser aufgesetzter Dekoration zu tun, wie sie die Kritiker historistischer Ornamentik am Beginn der Moderne so laut attackierten, sondern mit technisch funktionalen Details.

Die neuesten digitalen Design- und Produktionsmethoden lassen die Idee von Ornamenten als etwas der architektonischen Form Aufgesetztem vollends überholt erscheinen. Diese Methoden haben nämlich zu einer bisher undenkbar engen Verschränkung oder Verschmelzung von Ornament und Konstruktion geführt. Wie es der amerikanische Architekt Greg Lynn ausdrückt: «Ornament und Konstruktion müssten sich (füreinander) öffnen, so dass jeder dieser beiden Bereiche es dem anderen erlaubt, ihn intern zu reorganisieren.» Lynn geht es weder um eine Erweiterung der Konstruktion ins Feld des Ornaments noch um konstruktiv verwendete Ornamente, sondern um eine gegenseitige Abhängigkeit, die sowohl das Ornament als auch die Konstruktion in unvorhergesehener Weise ändert.

In den weiteren Zusammenhang einer Verschmelzung von Ornamenten mit technischen Funktionen gehört auch eine algorithmisch generierte und parametrisch modellierte Ornamentik, die die ökologische Performance von Gebäuden optimiert, indem sie zum Beispiel bestimmte Ventilationseffekte oder Belichtungspfade ermöglicht. Formal erinnert diese «environmental ornamentation», die von Architekten wie Anne Save de Beaurecueil und Franklin Lee (London und São Paulo) vorangetrieben wird, vielfach an komplexe organische Strukturen in der Natur.

Ornament in der Landschaft

Beim Begriff «Ornament» denkt man fast automatisch an kleine Massstäbe. Doch heute werden Grossbauten entworfen, die man als riesige Ornamente sehen kann – so Zaha Hadids Wettbewerbsbeitrag für das Kulturzentrum im chinesischen Qingdao (2013), das wie eine futuristisch gestraffte Rocaille in der Stadtlandschaft hätte liegen sollen. Eine zur Ausführung gekommene Variante aus dem Büro Hadids, das Kulturzentrum in Changsha (China), ist von der Architektin mit drei gekurvten Blütenblättern verglichen worden. In einem Aufsatz zum Thema «Tectonic Articulation» in der Zeitschrift «Architectural Design» (2014) schreibt Hadids Partner Patrik Schumacher über sein Anliegen, technisch bedingte Formelemente so einzusetzen, dass Bauten in sozialer und funktionaler Hinsicht lesbar werden. Ornamente wertet er dabei ausdrücklich als eine spezielle Art von «kommunikativer Performance». Trotzdem: Mit Venturis «architecture of communication» und den mitteilsamen, oft mehrdeutigen Zierelementen der Postmoderne hat Schumachers Position kaum noch etwas zu tun. Die festlich ornamentalen Grossformen der beiden Projekte für Qingdao und Changsha erzählen vor allem von den algorithmischen Verfahren und avancierten Konstruktionsmethoden, ohne die solche baulichen Visionen nicht denkbar wären.

Das Allover-Ornament der wie ein Strickpullover über den Erweiterungsbau der Tate Modern von Herzog & de Meuron in London gestülpten Ziegelmauer wird durch horizontale und vertikale Fensterbänder belebt. (Bild: Matt Dunham / Keystone)

Das Allover-Ornament der wie ein Strickpullover über den Erweiterungsbau der Tate Modern von Herzog & de Meuron in London gestülpten Ziegelmauer wird durch horizontale und vertikale Fensterbänder belebt. (Bild: Matt Dunham / Keystone)

Was soll und will man sich angesichts schier unendlicher technischer und gestalterischer Möglichkeiten vom Ornament in der Gegenwartsarchitektur erhoffen? Die Meinungen gehen diametral auseinander. Farshid Moussavi fordert in ihrem Buch «The Function of Ornament» (2006) Ornamente, die als «leere Zeichen» in multikultureller Umgebung eine unbegrenzte «Folge von Resonanzen» wecken. Anders Antoine Picon von der Harvard Graduate School of Design, wo auch Moussavis Buch entstand: Er ruft nach sinnstiftenden Regeln, da er im Ornament eine Art Spiegel sieht, der unseren Glauben über uns selbst ebenso reflektiere wie unsere Wunschvorstellungen über das, was wir gern wären. So seien Ornamente zwischen Wissen und Illusion zu verorten. Picon entscheidet sich gegen berauschende Emotionen: Nur das Wissen könne das Ornament über eine gegenwärtig verbreitete Vorstellung von Dekor erheben, die fast ausschliesslich auf Affekte ziele.

Dr. Ursula Seibold-Bultmann ist Kunsthistorikerin und Publizistin in Erfurt.