Neues Leben am Wasser

Der Bezug zum Wasser definiert Städte. Uferzonen können sich vom Verkehrsträger zum Niemandsland und dann wieder zur urbanen Schaufront wandeln. Sie sind Orte der städtebaulichen Inszenierung.

André Bideau
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Neoklassizismus mit Nachtbeleuchtung – die World's Columbian Exposition in Chicago simulierte ein Stadtzentrum am Lake Michigan. (Bild: Museum of Science and Industry, Chicago / Getty)

Neoklassizismus mit Nachtbeleuchtung – die World's Columbian Exposition in Chicago simulierte ein Stadtzentrum am Lake Michigan. (Bild: Museum of Science and Industry, Chicago / Getty)

Die Voie Georges Pompidou schlängelt sich entlang dem rechten Seineufer durch Paris. Mit einer beschränkten Zahl von Einfahrten verläuft sie kreuzungsfrei am Fuss hoher Quaimauern und unterquert in kurzen Tunnels die Seinebrücken. Nach zehnjähriger Bauzeit 1976 eröffnet, trägt die Schnellstrasse wie das Museum den Namen des kurz zuvor im Amt verstorbenen Präsidenten. Pompidou war Kunstsammler und begeisterter Autofahrer, der ganz im Geist der Trente Glorieuses, der Zeit von 1946 bis 1975, Land und Kapitale zu modernisieren beabsichtigte.

Entschleunigung

Wie in anderen Städten auch stand der Autoverkehr damals noch nicht im Widerspruch zum Schönheitsverständnis. Im Gegenteil: Ganz dem Privatverkehr überlassene Flussufer sollten dem Raser einen aktiven Genuss der Stadtkulisse bieten. Wo die Voie Georges Pompidou den Pont de l'Alma unterquert, sollte 1997 die vor den Paparazzi flüchtende Prinzessin Diana ihren fatalen Autounfall erleben. Wenige Jahre später diente die Expressstrasse ihrem ursprünglichen Zweck nur noch mit Unterbrechungen. Ihre sommerliche Schliessung gehört seit 2002 zum Programm der Mairie de Paris, den Zuhausegebliebenen eine sandbestreute Riviera anzubieten. Ähnliche Events wie Paris-Plages verwandeln inzwischen in andern europäischen Städten die einst unzugänglichen Uferzonen in Freizeitwelten. In der Regel bleibt die Beziehung zum Wasser aber visuell-atmosphärisch, weil – wie auch im Fall der Seine – das Baden nicht erlaubt ist.

Mehr Glück hat Zürich gegenwärtig mit seinem «Pavillon of Reflections». Am Ausfluss des Zürichsees steht das vom Studio des ETH-Professors Tom Emerson konzipierte hölzerne Manifesta-Floss. Zeichen und Veranstaltungsort, lädt der Pavillon Besucher der Manifesta zum Bad im See ein. Christian Jankowski, Künstler und Kurator der Manifesta, führt die Badanstalten in nächster Nähe als Inspirationsquelle an. Orte wie das Bad Utoquai erfüllen tatsächlich wichtige Aufgaben für die Zürcher Urbanität. Sie sind der Inbegriff eines demokratischen Dolcefarniente und die Antithese zum exklusiven Klub. Einst Institutionen der Grossstadt-Hygiene und einer damit verbundenen Körperkultur, wandelte sich die Badeanstalt zum sozialen Kondensator an Zürichs geschäftstüchtigen Ufern.

An der Limmat findet sich unter anderen Vorzeichen die Tendenz zur hedonistischen Entschleunigung, die auch Paris-Plages prägt. Mit Eröffnung der Fussgängerzone Limmatquai vor zehn Jahren haben selbst die Zunfthäuser ihre Arkaden in Lounges verwandelt. Wie der Detailhandel richtet sich die Gastronomie heute nach dem neuen touristischen Potenzial im Hochpreissegment. Die oftmals verschleierten Besucherinnen auf der neuen Flanierzone stehen diametral im Gegensatz zu den «Filles du Limmatquai», die noch 1982 von Stephan Eicher besungen wurden. Urbane Rauheit findet auf dem Limmatquai bestenfalls als Event statt. Dort, wo einst die Fleischhalle stand, sorgte 2014 eine andere Kunstaktion für industrielle Patina: Im Rahmen von «Zürich Maritim» gelangte ein Hafenkran mit Baujahr 1960 von Rostock nach Zürich. Nachdem die hiesigen Industrieareale fast ausnahmslos hochwertigen Immobilien Platz machen mussten, erschien das ausrangierte DDR-Objekt am Limmatquai wie ein Fetisch physischer Arbeit.

Mit dem Ende des real existierenden Sozialismus wurden deutsche Küsten und Ufer sowie ihre Infrastrukturen für neue Aneignungen frei. Zum städtebaulich-politischen Symbol der Wiedervereinigung wurde in Berlin die Spree – ein Raum, der im Stadtzentrum die unerbittliche Logik des Kalten Krieges abbildete. Nach dem Hauptstadtbeschluss von 1991 kristallisierte sich im Jahr darauf beim Spreebogen-Wettbewerb heraus, welches Regierungsviertel zwischen dem historischen Reichstagsgebäude, dem Tiergarten und dem Fluss entstehen würde. Ein Masterplan legte Achsen fest, die über den mäandrierenden Flusslauf hinweg die vom Zweiten Weltkrieg und vom DDR-Todesstreifen ausgedünnte Stadtmorphologie verklammern sollten. Die kompositorischen Strategien von Axel Schultes, der dieses «Band des Bundes» und auch das Bundeskanzleramt konzipierte, überraschen insofern, als Spreebogen und Tiergarten bereits einmal mit radikalen Hierarchien überzogen worden waren: Hier sollten Albert Speers «Germania»-Hauptstadtplanungen umgesetzt werden, und erst die Bombardierung Berlins setzte der Grossbaustelle ein Ende.

Entsprechend pragmatisch und zurückhaltend organisierte ab 1949 die Bonner Republik ihr «provisorisches» Regierungsviertel: eine Bandstadt am Rhein, deren Aneinanderreihung von Kanzleramt, Bundestag, Verwaltungen und Parteizentralen dem Flusslauf folgte. Genau ein halbes Jahrhundert später wechselte man vom Rheinufer an die Spree, wo repräsentative Grossbauten und Strassenfluchten nun einen Fluss überspringen. Zweck dieser monumentalen Geste ist es, das Bild der Einheit in die endlose Weite der Berliner Stadtlandschaft einzubrennen.

Chicagos elektrifizierte Lagune

Auch die Schweizer Landesausstellungen bemühen sich seit je um die Demonstration einer nationalen Idee. Diese Darstellungen und Reflexionen nationaler Identität fanden vorzugsweise an Gewässern statt, mit besonderem thematischem Nachdruck bei der Expo 02. Mit den Arteplages setzte man unter der künstlerischen Leitung von Pipilotti Rist auf das Ufer als Metapher für Austausch und Kreativität. Getreu der Befindlichkeit der 1990er Jahre wurde ein Diskurs des Vernetzt-Flüssigen angestossen, der jedoch zu keinem Zeitpunkt wirklich zu überzeugen vermochte. Die Expo 02 gab damit weder eine nationale Befindlichkeit wieder, noch lancierten ihre gesponserten Architekturen Ideen. Ebenso wenig hinterliessen die auf vier Standorte und drei Seen verteilten Arteplages eine bleibende Beziehung zwischen Stadt und Ufer – trotz Ikonen wie Jean Nouvels Würfel in Murten und der Wolke von Diller & Scofidio in Yverdon-les-Bains.

In eine dankbarere Zeit fiel die World's Columbian Exposition, die 1893 am Ufer des Lake Michigan in Chicago abgehalten und von 27 Millionen Menschen besucht wurde. Am Stadtrand der damals zweitgrössten US-Stadt waren Spektakel und Erbauung auf griffige Weise in einer Vergnügungslandschaft kombiniert. Ihr Epizentrum bildete die von Chefplaner Daniel Burnham erdachte White City. Rund um eine künstliche Lagune entstand ein Ensemble hoch aufragender, weisser Fassaden. Mit der von Burnham verordneten neoklassizistischen Einheitlichkeit bezog man sich auf ein metropolitanes Europa. Gleichzeitig orientierte man sich am Massstab römischer Kaiserforen, um den imperialen Rang der USA als neue Weltmacht zu unterstreichen.

Die World's Columbian Exposition verfügte als eine der ersten Weltausstellungen über elektrische Beleuchtung, so dass sich die White City nachts höchst effektvoll im Wasser reflektierte. Aus Stahl und Rigips gefertigt, war diese Kunstwelt ebenso vergänglich wie später die Arteplages der Expo 02. Doch mit ihrer städtebaulichen Ambition gilt diese Weltausstellung als Inkubator und Initialzündung für eine Stadtplanung, die auf Identitätsstiftung durch Schönheit setzte. Unter dem Namen «City Beautiful» richtete sich diese politisch noch diffuse Kampagne gegen konkurrenzierende Wolkenkratzer, ausufernde Industrieanlagen, Umweltverschmutzung, aber auch gegen den allgemeinen Sozialdarwinismus und die verbreitete Korruption – alles Merkmale der damaligen Urbanität in Amerika. Ein Umdenken zeichnete sich nach dem Erfolg der Weltausstellung ab, als sich – nicht zuletzt angesichts verschärfter gesellschaftlicher Spannungen – bei der Wirtschaftselite ein geläuterter Individualismus durchzusetzen begann.

Die halbprivate Chicago Plan Commission beauftragte Burnham zusammen mit dem Stadtplaner Edward Bennett, einen Gesamtplan für die Stadtregion zu verfassen. 1909 veröffentlicht, trug dieser den Titel «Paris on the Prairie». Seine Verfasser schlossen an Haussmanns Paris als Vorbild an, um die gegenüber Europa empfundenen kulturellen Defizite zu kompensieren. Ihr bis heute wohl nachhaltigster Vorschlag war Grant Park, die neue Visitenkarte vor dem Geschäftszentrum. Der weite Grünraum wurde mit französischen Broderien und Museumsbauten bestückt. Am Seeufer mussten Industriebetriebe weichen, Rangiergleise unter einer Plattform verschwinden und landeinwärts ein neuer Zentralbahnhof errichtet werden. Aber seither öffnet sich Chicago zum Lake Michigan.

Bewegungsdiagramm New York

Noch stärker als in Chicago avancierte in New York die Umordnung der Uferzonen zum zentralen Thema der Stadtentwicklung. Mitte des 20. Jahrhunderts wurden dort immense Investitionen in Massenwohnungsbau und Strassenbau getätigt, um während der Wirtschaftskrise und in der Nachkriegszeit die Bauwirtschaft anzukurbeln – allerdings weitgehend losgekoppelt von ästhetischen Vorgaben. Standen Burnham und Bennett beim Chicago-Plan noch im Bann der Académie des Beaux-Arts, ging in New York der Technokrat Robert Moses von abstrakten Verkehrsdiagrammen und Grundstückspreisen aus. Er hielt wenig von Stadtplanung als Disziplin und noch weniger von Architektur, erkannte in unternutzten Ufern vielmehr billiges Bauland für Sozialsiedlungen und Grünanlagen. Für diese Neubauviertel fatal war, dass die Uferzonen zugleich als Expresskorridore dienten: Hier gedieh das Schnellstrassensystem, mit dem Moses die Stadt New York überzog.

Seine Richtschnur war der über die Stadtgrenzen hinausreichende «Regional Plan for New York», der schon 1929 auf Massenmotorisierung setzte. Um die bereits beginnende Suburbanisierung zu fördern, sah diese Matrix zwischen New Jersey, Long Island und Connecticut Autobahnen vor, alle innerhalb von New York City mit neuen Brücken und Tunnels verknüpft. Zur Mobilität auf der Makroebene kam eine lokale Ebene, die sich ebenfalls auf das Wasser bezog – der Sport. Denn in seiner Rolle als Chef sämtlicher New Yorker Pärke war Moses – bis ins hohe Alter ein eifriger Schwimmer – zwischen 1934 und 1960 der Schöpfer zahlloser Freibäder und Strände. Sein Recycling der New Yorker Ufertopografie schloss somit Autoverkehr und Körperkultur kurz. Der geniale Organisator brachte zudem ein ehemaliges Schlachthofgelände am East River als Bauplatz für den Hauptsitz der neugegründeten Vereinten Nationen ins Spiel – mit Erfolg. Oft war Moses seiner Zeit voraus, etwa als er den schleichenden Niedergang von Hafen und Industrien in New York als Möglichkeit erkannte, an deren Stelle Institutionen wie die Uno anzusiedeln. Die unzimperlichen Methoden, für die Moses berüchtigt war, hatten noch nichts mit dem postindustriellen Städtebau zu tun. Meisterhaft spielte er Machtgefüge aus, stellte seine Gegner kalt und mobilisierte für seine Vorhaben heute undenkbare staatliche Subventionen.

Atmosphären-Ökonomie

Top-down-Ansätze wie in New York waren endgültig diskreditiert, als die Industrie aus den meisten nordamerikanischen und europäischen Städten verschwand. Für Investitionen veränderte dies die Ausgangslage schlagartig, was sich auch auf die Hierarchie von Zentrum und Rand in der postmodernen Stadt ausgewirkt hat. Unsicherheiten und Zwischennutzungen haben einigen abgeschriebenen Uferbrachen zu einer spektakulären Blüte verholfen – in Bilbao dank dem Guggenheim-Museum, in London dank der Tate Modern oder in Manhattan dank dem High-Line-Park. Inzwischen ist es eine erprobte Formel, bei der trist-atmosphärische «off locations», zeitgenössischer Kunstbetrieb und spezialisierte Architekturlabels in einer neuen Ökonomie zusammenwirken. Darin spielt der Handel mit physischen Gütern kaum noch eine Rolle – umso mehr aber der Umgang mit Symbolen. In dieser Hinsicht erscheinen der Zürcher Hafenkran von 2014 oder die fast fertiggestellte Elbphilharmonie in der Hamburger Hafencity von Herzog & de Meuron wie die Zuspitzung einer Logik des maritimen Recyclings.

André Bideau ist Architekturtheoretiker und Dozent an der Architekturakademie Mendrisio sowie an der Universität Zürich.