Filigrane Miniaturen

Einst klotzten die Architekten in Barcelona mit monumentalen Gebäuden. Doch nun werden zwei kleine Bauten, ein Jachtklub und ein Informationspavillon, als neue Attraktionen der Stadt gefeiert.

Roman Hollenstein
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Der von den Barceloner Jungarchitekten Marta Peris und José Manuel Toral konzipierte Informationspavillon auf der Plaça de les Glòries Catalanes erinnert entfernt an ein umgekehrtes Hängemodell von Antoni Gaudí. (Bild Roman Hollenstein / NZZ)

Der von den Barceloner Jungarchitekten Marta Peris und José Manuel Toral konzipierte Informationspavillon auf der Plaça de les Glòries Catalanes erinnert entfernt an ein umgekehrtes Hängemodell von Antoni Gaudí. (Bild Roman Hollenstein / NZZ)

Dank Stränden und Bergen, Promenaden und Parks zählt Barcelona zu den attraktivsten Metropolen Europas. Seit der Zeit der hedonistischen Movida, als Spanien das bleierne Grau der Franco-Zeit mit Lebenslust und Optimismus überwand, gilt die Stadt als hip und wird von unzähligen Touristen überrollt. Dies, obwohl die Zeiten längst vorbei sind, als exzentrische Bars, trendige Geschäfte und unkonventionelle Platzanlagen aus vernachlässigten Altstadtquartieren Paradiese für Partygänger, Fashion Victims, Architekten und Designfans machten. Sogar die Baukunst, die sich im Umfeld der Olympischen Spiele von 1992 als grosse Attraktion der Stadt zu etablieren wusste, darbt seit der Wirtschaftskrise; und dem Architektennachwuchs fehlt es an bedeutenden Aufträgen.

Auf der von Jean Nouvels bunt schillernder Torre Agbar überragten Plaça de les Glòries Catalanes bildet der filigrane Informationspavillon von Peris Toral einen betont waagrechten Akzent. (Bild Roman Hollenstein / NZZ)

Auf der von Jean Nouvels bunt schillernder Torre Agbar überragten Plaça de les Glòries Catalanes bildet der filigrane Informationspavillon von Peris Toral einen betont waagrechten Akzent. (Bild Roman Hollenstein / NZZ)

Stahlrohr und Maschendraht

Nur von der ewigen Baustelle der Stadt, der vieltürmigen Sagrada Familia, kommen gute Nachrichten. Der florierende Wochenend- und Kreuzfahrttourismus beschert dem Gotteshaus inzwischen jährlich über drei Millionen Besucher – und damit Einnahmen von über dreissig Millionen Euro. Deswegen verfügt die 1895 zur Finanzierung der Kirche gegründete Fundació Sagrada Familia heute über ein so grosses Vermögen, dass sie den umstrittenen Weiterbau der Kirche, die derzeit einem von steinernem Zuckerguss gerahmten Atommeiler gleicht, bis 2030 vollenden will – 145 Jahre nachdem Antoni Gaudí sein erstes Konzept vorgelegt hatte.

Der Andrang auf die Sagrada Familia und auf die vor 20 Jahren noch leicht zugängliche Casa Batlló am vornehmen Passeig de Gràcia ist so gross, dass Einheimische und regelmässige Besucher der Stadt längst die Gaudí-Bauten meiden. Um bei den Barcelonern Goodwill zu schaffen, wurde ihnen nun Ende September anlässlich ihres Hauptfestes zu Ehren der Jungfrau Mercè kostenloser Zugang zum Gotteshaus offeriert. So konnten sie wieder einmal staunend feststellen, dass ihr mehr oder weniger geliebtes Steingebirge ein wahres Meisterwerk ingenieurtechnischer Innovation darstellt. Die Zug- und Druckkräfte des filigranen, zwischen Neugotik und Jugendstil oszillierenden Gebäudes erarbeitete Gaudí an einem Hängemodell aus Fäden und Gewichten. Gaudís netzartigem Arbeitswerkzeug erweist nun ein Informationspavillon an der Plaça de les Glòries Catalanes die Ehre, der derzeit in der katalanischen Architekturszene und an der Architekturbiennale Venedig interessiert diskutiert wird.

Neben der Torre Agbar lockt das neobrutalistisch sich aufspielende Designmuseum der katalanischen Altmeister Martorell, Bohigas und Mackay Ebenfalls immer mehr Touristen an die Plaça de les Glòries Catalanes. (Bild: Roman Hollenstein / NZZ)

Neben der Torre Agbar lockt das neobrutalistisch sich aufspielende Designmuseum der katalanischen Altmeister Martorell, Bohigas und Mackay Ebenfalls immer mehr Touristen an die Plaça de les Glòries Catalanes. (Bild: Roman Hollenstein / NZZ)

Bei der an ein umgekehrtes Hängemodell erinnernden architektonischen Miniatur, die sich die beiden seit zwölf Jahren zusammenarbeitenden Barceloner Jungarchitekten Marta Peris und José Manuel Toral ausgedacht haben, handelt es sich um eine knapp 50 Meter lange temporäre Konstruktion aus «armen», preisgünstigen Materialien. Dünne Stahlrohre und Maschendraht bilden eine kubistisch anmutende Hülle. Unter ihr erhebt sich auf einem hellen Holzboden ein seitlich offener, asymmetrischer Giebelbau aus wasserdichtem, lichtdurchlässigem Polycarbonat, der durch ein baumbestandenes Mini-Atrium akzentuiert wird. In diesen luftig-hellen Tunnel stellten die Architekten zwei schwarze, containerartige Boxen, in denen eine Auskunftsstelle der Touristeninformation und ein Veloverleih untergebracht sind.

Der spektakuläre Neubau des von Fermín Vázquez Arquitectes realisierten Flohmarkts «Els Encants» beeindruckt durch sein futuristisch anmutendes, mehrfach geknickt auf massiven Stahlpfeilern ruhendes Spiegeldach. (Bild: Roman Hollenstein / NZZ)

Der spektakuläre Neubau des von Fermín Vázquez Arquitectes realisierten Flohmarkts «Els Encants» beeindruckt durch sein futuristisch anmutendes, mehrfach geknickt auf massiven Stahlpfeilern ruhendes Spiegeldach. (Bild: Roman Hollenstein / NZZ)

Denn seit gut zwei Jahren locken der in einem spektakulären Neubau von Fermín Vázquez Arquitectes untergebrachte Flohmarkt «Els Encants» und das sich mit neobrutalistischer Eloquenz aufspielende Designmuseum der katalanischen Altmeister Martorell, Bohigas und Mackay immer mehr Touristen in das einst verrufene und stiefmütterlich behandelte Quartier rund um den Glòries-Platz. Vor allem dem auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblickenden Trödelmarkt, dessen offene Verkaufsflächen nun durch Vázquez' futuristisch anmutendes, mehrfach geknickt auf massiven Stahlpfeilern ruhendes Spiegeldach vor der Witterung geschützt wird, statten Shopping-Verrückte aus aller Welt gerne einen Besuch ab, nachdem sie sich in den Geschäften des Barri Gòtic und in den Mode- und Designerläden an den eleganten Einkaufsstrassen sattgesehen haben.

Gloriose Grossbaustelle

Aber nicht nur Touristen und Architekturfans betreten den gleich neben dem Flohmarkt gelegenen Informationspavillon. Auch Einheimische durchschreiten gerne die beiden holzgerahmten Eingänge, um sich in einer kleinen Ausstellung über den Fortgang der Bauarbeiten auf der riesigen Plaça de les Glòries Catalanes, der derzeit grössten Baustelle Barcelonas, zu informieren. Hier, wo sich drei Hauptachsen der Metropole, die Avingudes Diagonal und Meridiana sowie die Gran Via de les Corts Catalanes kreuzen, sollen die Blechlawinen umgeleitet und in einem 400 Meter langen Tunnel auf der Gran Via unter dem Platz hindurch geführt werden. Dieses Infrastrukturprojekt bildet den Auftakt zur Transformation des Glòries-Platzes, der einst im zukunftsweisenden Stadterweiterungsplan von Ildefons Cerdà zum neuen Mittelpunkt Barcelonas bestimmt war. Denn der lange durch ein aufgeständertes, das enorme Verkehrsaufkommen regulierende Rondell verunstaltete Aussenraum soll zu einem Begegnungsort werden, der alle Platz- und Parkanlagen, in den Schatten stellen wird, mit denen Barcelona vor dreissig Jahren international für Aufsehen sorgte.

Der durch Wände aus weissem, von bullaugenartigen Löchern durchbrochenem Stahl verhüllte Pavillon des "One Ocean"-Jachtklubs von SCOB Arquitectes integriert sich perfekt in die Landschaft des als Marina dienenden alten Hafens von Barceloneta. (Bild: Roman Hollenstein / NZZ)

Der durch Wände aus weissem, von bullaugenartigen Löchern durchbrochenem Stahl verhüllte Pavillon des "One Ocean"-Jachtklubs von SCOB Arquitectes integriert sich perfekt in die Landschaft des als Marina dienenden alten Hafens von Barceloneta. (Bild: Roman Hollenstein / NZZ)

Als Zeichen der Erneuerung des Problemquartiers ragt schon seit 2005 die von Jean Nouvel konzipierte Torre Agbar wie ein farbig gepixelter Riesenpenis in den Himmel, nachdem bereits vor gut 20 Jahren Ricardo Bofills tempelförmiges Teatre Nacional und Rafael Moneos kistenartiges Auditorium bei der Plaça de les Arts, die sich weiter südlich an der einst abgetakelten Avinguda Meridiana weitet, errichtet wurden. Die sie umgebenden Grünflächen sollen schliesslich mit dem riesigen Park verbunden werden, der in den kommenden Jahren auf der Plaça de les Glòries Catalanes entstehen wird. Die Idee zur Neugestaltung des Platzes bestand seit geraumer Zeit. Doch erst nach dem grossen Wettbewerb, den die katalanische Architektin und Landschaftsgestalterin Ana Coello de Llobet 2013 zusammen mit der Pariser Agence Ter für sich entschied, konnte das Jahrhundertprojekt in Angriff genommen werden.

Auf einer Fläche, die zehnmal so gross ist wie der Sechseläutenplatz, soll ein autofreies, «hybrides urbanes Ökosystem» mit viel mediterranem und exotischem Grün entstehen. Dieser Park, der weit in die Avingudes Diagonal und Meridiana ausgreifen und von neuen zeichenhaften Bauten gerahmt werden soll, gibt sich auf den Computerbildern mit seinen Palmen und Pinien, durch die man in der Ferne die Türme der Stadt erahnt, wie ein Grossstadtdschungel. Dieser lichtet sich nur entlang der Wasserflächen und bei der 20 000 Quadratmeter grossen Veranstaltungswiese. Wie weit die im vergangenen März entdeckten Überreste eines wohl bis in die römische Antike zurückreichenden Aquädukts der einstigen Wasserversorgung Barcelonas in diesen städtischen Urwald integriert werden kann, ist derzeit offen. Ebenso ungewiss sind die Auswirkungen, die der Park, der wohl kaum wie vorgesehen 2018 eröffnet werden kann, auf die Nachbarschaft mit ihren bis anhin noch immer preisgünstigen Wohnungen haben wird. Kritiker jedenfalls wollen schon jetzt erste Anzeichen einer Gentrifizierung ausmachen.

Die fliegenden Händler auf der neu gestalteten Uferpromenade von Barceloneta können vom luxuriösen Leben, das sich im "One Ocean"-Jachtklub abspielt, nur träumen. (Bild: Roman Hollenstein / NZZ)

Die fliegenden Händler auf der neu gestalteten Uferpromenade von Barceloneta können vom luxuriösen Leben, das sich im "One Ocean"-Jachtklub abspielt, nur träumen. (Bild: Roman Hollenstein / NZZ)

Ein Refugium am Port Vell

Was der Gegend um den Glòries-Platz blühen könnte, zeigt ein Blick in Richtung Barceloneta, das einst arme und lange wegen seiner hohen Kriminalitätsrate gemiedene Arbeiterviertel zwischen Hafen, Altstadt und Strand. Nachdem man Barceloneta im Hinblick auf die Olympischen Spiele restauriert und den Strand revitalisiert hatte, veränderte eine schleichende Gentrifizierung die gesamte Sozialstruktur. Mittlerweile richten sich viele Restaurants und Geschäfte nur noch auf Touristen aus, genauso wie die fliegenden Händler, die ihre gefälschten Louis-Vuitton-Schals, Gucci-Taschen und Converse-Turnschuhe auf der neu bepflanzten Promenade am Port Vell feilbieten.

Vom hier herrschenden Rummel kann man seit neustem in eine Oase der Ruhe fliehen, bei einem Getränk direkt am Wasser die Seele baumeln lassen – oder sich mit Blick auf Luxusjachten, neben denen die grössten Zürichseeschiffe klein aussehen, wie ein Milliardär fühlen. Möglich macht dies der von der Verwaltung der Marina Port Vell in Auftrag gegebene und vor wenigen Monaten eröffnete «One Ocean»-Jachtklub, dessen Bar auch Passanten offensteht. Doch das wirklich Interessante an diesem Refugium ist seine architektonische Form. Haben doch die beiden Katalanen Sergi Carulla und Oscar Blasco, die seit elf Jahren das Büro SCOB leiten, den Jachtklub wie einen modernen Pfahlbau ins ruhige Wasser des nun als Marina dienenden alten Hafens gestellt.

Die auch der Öffentlichkeit zugängliche Bar des "One Ocean"-Jachtklubs von SCOB Arquitectes ist ein Paradebeispiel der vielgerühmten zeitgenössischen Innenarchitektur von Barcelona. (Bild: Roman Hollenstein / NZZ)

Die auch der Öffentlichkeit zugängliche Bar des "One Ocean"-Jachtklubs von SCOB Arquitectes ist ein Paradebeispiel der vielgerühmten zeitgenössischen Innenarchitektur von Barcelona. (Bild: Roman Hollenstein / NZZ)

Ist der Glòries-Informationspavillon eine Verneigung vor Gaudí, so stellt der bungalowartige Jachtklub eine Hommage an Mies van der Rohes legendären, vor 30 Jahren wiedererrichteten Barcelona-Pavillon dar. Nur sind die beiden aus Holz und Glas konzipierten «Container» des Jachtklubs, in denen sich eine trendig eingerichtete Bar und das elegant gestaltete private Klubrestaurant befinden, nicht unter einem auskragenden Betondach zusammengefasst, sondern unter einer weissen, perforierten Dachkonstruktion. Dieses netzartige, von kleinen Bullaugen durchlöcherte Stahlgitter umhüllt auch die sonnenexponierten Aussenräume des pavillonartigen Doppelhauses bis hinunter zum massiven Sockel und erzeugt so eine nautische Anmutung. Dem Jachtklub antwortet am anderen Ende des für Aussenstehende nicht zugänglichen Quais, an dem sich Luxusjachten aus aller Welt ein Stelldichein geben, das zweigeschossige Verwaltungsgebäude der Marina. Das den Jachtklub verhüllende weisse Gitternetz bestimmt auch sein Erscheinungsbild und betont damit die optische Einheit der beiden sich ebenso perfekt wie diskret in die Hafenlandschaft integrierenden Kleinbauten.

Dass in Barcelona derzeit so viel gestalterische Energie in kleine Architekturen fliesst, die im Weichbild der Stadt kaum auszumachen sind, hängt nicht zuletzt mit der noch immer prekären Situation im Baubereich zusammen. Während sich Peris Toral und SCOB in ihrer Heimatstadt mit kleinen Aufträgen über Wasser halten, suchen andere begabte Architekten ihr Glück im Ausland. Nur wenigen gelingt es, von Barcelona aus die Welt zu erobern. Zu ihnen zählen Fabrizio Barozzi und Alberto Viega, die derzeit international erfolgreichsten katalanischen Jungstars, die 2015 für ihre weiss gezackte Philharmonie in Stettin mit der höchsten Architekturauszeichnung der EU, dem Mies-van-der-Rohe- Preis, geehrt wurden. Zurzeit sind sie aber vor allem in der Schweiz erfolgreich, wo sie dank siegreichen Wettbewerbsprojekten nicht nur die Erweiterung des Kunstmuseums in Chur realisieren konnten, sondern nun auch das Tanzhaus in Zürich und das neue Kunstmuseum von Lausanne bauen. Von ähnlichen Erfolgen in Spanien dürfen sie vorderhand – wohl genauso wie Peris Toral und SCOB – nur träumen.