Unter wispernden Ästen

Die wenigen noch erhaltenen historischen Wohnviertel Pekings, Hutongs genannt, sind eine Touristenattraktion. Ihnen versucht Zhang Ke mit architektonischen Interventionen neues Leben einzuhauchen.

Jürgen Tietz
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Massgeschneidert und verspielt – und nicht nur für Kinder: Behausungen von ZAO Standard Architecture in Peking. (Bild: PD)

Massgeschneidert und verspielt – und nicht nur für Kinder: Behausungen von ZAO Standard Architecture in Peking. (Bild: PD)

Über Nacht kam der Wind. Seine staubigen Böen fegten die Smogglocke über Peking fort und vertrieben den metallischen Geschmack, den die Luft im Mund hinterlässt. Sanft bewegt er die Äste der mächtigen Esche im Hof des «Cha'er Hutong», eines der traditionellen Hofhäuser in der chinesischen Hauptstadt. Unter den weit ausladenden Zweigen hat Zhang Ke mit seinem 2001 gegründeten, inzwischen weit über China hinaus respektierten Büro ZAO Standard Architecture eine zarte Intervention vorgenommen, indem er in die vorhandene Struktur des Hofhauses eine kleine Bibliothek eingepflanzt hat. Es ist ein öffentlicher Ort, an dem sich die Kinder des Quartiers nach Schulschluss treffen, während darum herum auf engstem Raum weiter gewohnt wird.

Sozialer Treffpunkt

Rund einen Kilometer südlich des Platzes des Himmlischen Friedens gelegen, bietet das bei Touristen beliebte Dashilar-Quartier noch immer eine gültige Vorstellung der traditionellen städtischen Strukturen des alten Peking. In den schmalen Gassen reihen sich die niedrigen Häuschen eng aneinander. Hier finden sich heute westliche Design- und Modeboutiquen, neben denen chinesische Familien wohnen; und Touristen übernachten in Minihostels hinter Betonmasten, von denen beängstigende Kabelbündel herabhängen.

Neben Holz, Beton und Kunststoff bestimmt vor allem der schwarzbraun bis bläulich changierende Ziegelstein das Bild des Viertels. Wie zu einem gebauten Märchen öffnet sich in einer Gasse eine Holztür. Dahinter liegt der kleine Hof des «Cha'er Hutong» mit seiner mächtigen Esche.

Mit sparsamen Eingriffen hat Zhang Ke, der zu den Stars der chinesischen Architekturszene zählt, den Bestand belebt. Im «Da-Za-Yuan», dem «grossen unordentlichen Hof», hat er mit kleinen Gebäudekuben aus Beton, Holz und traditionellen Ziegeln weitergebaut. Ganz ohne Einschränkungen durch Sicherheits- und Bauvorschriften, wie sie in Westeuropa gelten, wurde und wird hier gebaut. Vielleicht kann erst dadurch der Hof seinen Zauber entfalten. Eine Treppe folgt der Rundung des Stammes und führt auf das Dach eines der kleinen Ziegelkuben, dessen Abmessung sich an der offenen Küche im Hof orientiert, die sich gleich dahinter anschliesst und von einem alten Bewohner des Hofes genutzt wird.

Leise lärmend

Von hier oben schaut man über die sanft bewegte Dachlandschaft dieser Mikrowelt, deren extreme Dichte sich nur durch die räumliche Erfahrung vor Ort vermitteln lässt und vor der jede noch so poetische Fotografie versagt. In einer von Zhang Kes Holzboxen, die in den Hof hineinragt, können die Kinder hinter einer grossen Scheibe hocken und lesen. Oder sie können einfach in die Äste des wintergrauen Baums schauen und träumen.

Auf wenigen Quadratmetern fliessen inmitten des sonst so ruppig wirkenden Peking Alt und Neu, traditionelles Wohnen und heutige Gemeinschaft harmonisch ineinander. Die räumliche Dichte, die Zhang Ke hier fortschreibt, macht angesichts des in westlichen wie in asiatischen Metropolen gleichermassen verbreiteten Flächenfrasses nachdenklich. Für seine poetische Intervention im Bestand hat Zhang Ke 2016 zu Recht den Aga Khan Award erhalten. Die starke internationale Rezeption des «Cha'er Hutong» mag nicht zuletzt darin begründet sein, dass hier idealtypisch der Versuch unternommen wird, Tradition und Innovation behutsam zusammenzuführen, die Strukturen historischer Orte räumlich und gesellschaftlich zu bewahren und sie leise für die Zukunft zu ergänzen. Ganz so, als gelte es, im Geiste Chinas das «sanfte Gesetz» eines Adalbert Stifter von der Literatur in die Gegenwartsarchitektur zu übersetzen.

Nur einen kurzen Spaziergang durch das Quartier entfernt, hat ZAO Standard Architecture einen weiteren Hutong umgebaut und ihm eine «Mikroarchitektur» einverleibt. Zunächst als Stahlkonstruktion mit Sperrholzverkleidung ausgeführt, wurde sie inzwischen in Beton mit rauer Bretterschalung gegossen. In diesem Hutong für eine gewisse Zeit zu wohnen, setzt neben einem minimierten Raumanspruch auch eine hinreichende körperliche Beweglichkeit voraus, will man Leiter auf, Leiter ab durch die versetzten Ebenen dieser kleinen Stadtlandschaft klettern, sich durch niedrige Raumöffnungen schieben und durch handtuchschmale Durchgänge drängen.

Hinter der spröden Strassenfassade des Hutongs, die an einen Bretterverschlag erinnert, zündet Zhang Ke ein Feuerwerk kleinteiliger Raumfolgen, die den Besuchern in ihrer komplexen, aber einfach gestalteten Komposition ein Lächeln auf die Lippen zaubern. In den Abmessungen eines kompakten Abenteuerspielplatzes entfaltet sich eine Raumskulptur, die an einen jener zauberhaften Pavillons erinnert, mit denen die Serpentine Gallery Jahr für Jahr den Londoner Sommer dekoriert. Trotz dem eingebauten Badezimmer fragt man sich, ob es sich bei dem Hutong tatsächlich um ein Wohnhaus handelt oder nicht doch eher um einen Kunstraum – und ist schon in die Falle getappt, indem man beides voneinander trennen will.

Öffentliche Privatheit

Auf engstem Raum formuliert Zhang Ke ein differenziertes Repertoire unterschiedlicher Grade von Öffentlichkeit und Privatheit. Das lässt sich so hemmungslos begeistert schildern, weil es sich in jeder Hinsicht völlig jenseits europäischer Normen bewegt und daher in keiner Weise übertragbar wäre. Was aber durchaus übertragbar ist, das ist der erfrischende Ostwind. Seine freche und poesiegetränkte Interventionskraft nimmt man gerade aufgrund ihrer tiefgreifenden Andersartigkeit gern als Inspiration mit zurück nach Europa.