Der falsche Glanz der Transparenz

Grossflächig verglaste Häuser richten sich gegen die Bewohner selbst. So wird der beliebte Baustoff zum Albtraum für die Privatsphäre.

Adrian Lobe
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Kristalliner Kubus aus vertikalen Glaslamellen – mit dem 2019 vollendeten Bürohaus 2050 M Street in Washington treiben Rex Architects aus New York die Gebäudetransparenz auf die Spitze. (Bild: Visualisierung Luxigon)

Kristalliner Kubus aus vertikalen Glaslamellen – mit dem 2019 vollendeten Bürohaus 2050 M Street in Washington treiben Rex Architects aus New York die Gebäudetransparenz auf die Spitze. (Bild: Visualisierung Luxigon)

Vor wenigen Monaten präsentierte Joshua Prince-Ramus' New Yorker Architekturbüro Rex einen Entwurf für ein neues Bürogebäude im Golden Triangle Business District von Washington. Das konkave, kristalline Gebäude besteht aus 900 identischen Glasplatten, die wie vertikale Lamellen einer Jalousie aussehen und von aussen die Illusion einer multiplen Spiegelung erzeugen. In den lichtdurchfluteten Büroräumen wird man das Gefühl haben, auf einer Terrasse zu sitzen. Das Aussen und das Innen fliessen ineinander. Der Entwurf treibt den Transparenzgedanken von Gebäuden auf die Spitze und mischt ihn mit Stilelementen des Neoklassizismus, des Art déco und des Brutalismus.

Glas ist zum beliebten Baustoff geworden. In immer mehr Städten entstehen gläserne Bürotürme und modernistische Luxusapartments mit Glasfassaden. Wo einst kleine Fenster den Blick ins Weite ganz knapp rahmten, haben Bewohner nun einen Panoramablick dank bodentiefen Fensterfronten. Doch der Blick auf die Dächer der Stadt ist kein einseitiges Vergnügen. Wo man hinausschauen kann, kann man auch hineinschauen.

Der Nachbar als Voyeur

Die Bewohner der von Richard Rogers entworfenen Neo-Bankside-Türme in London beschwerten sich vor ein paar Monaten, weil die Besucher der jüngst vollendeten Erweiterung der Tate Modern von deren Observation Deck in ihre Penthäuser glotzen. Die Aussichtsplattform auf dem vom Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron realisierten Switch House eröffnet einen Panoramablick über London.

Nach Darstellung der Anwohner sollen die Museumsbesucher aber nicht nur die Skyline der britischen Hauptstadt bestaunen, sondern mit Kamerazoom und Ferngläsern durch die Glasfassade hindurch in ihre Apartments gaffen. Man sitzt in den Wohnkapseln wie auf einem Präsentierteller, der Alltag wird zum Reality-TV. Die Transparenz wirkt geradezu exhibitionistisch. «Niemand konnte vorhersehen, dass die Museumsbesucher buchstäblich über den Balkonen hängen, Fotos von unseren Zimmern machen und sie dann ins Internet stellen», sagte ein Anwohner.

Vor einigen Wochen wurde im Netz ein Video viral, das ein Paar in einem Hotel beim Geschlechtsverkehr zeigte. Die belustigten Büromitarbeiter hatten das Paar durch die Glasfront gefilmt. Der Nachbar wird zum Voyeur, wenn die Wohnungen wie ein Panoptikum anmuten: Der Aussenstehende hat wie ein Wächter alle Wohnzellen im Blick, jede Handlung ist sichtbar, jeder Bewohner gläsern.

«Ich sehe was, das siehst du auch.» (Bild: Novartis)

«Ich sehe was, das siehst du auch.» (Bild: Novartis)

Deshalb empfahl der scheidende Direktor der Tate Modern, Nicholas Serota, den Neo-Bankside-Bewohnern, Vorhänge aufzuhängen und sich vor den Blicken neugieriger Museumsbesucher zu schützen. Ein Hinweisschild mahnt diese daran, die Privatsphäre der Nachbarn zu respektieren. Doch damit ändert sich das Problem der gläsernen Architektur nicht. Die Transparenz richtet sich gegen die Bewohner.

Wände aus Fenstern

Die Komplexität resultiert aus einem Missverständnis zeitgenössischer Architektur – der Unterschied zwischen einem Fenster und einer Wand. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts träumten Modernisten von Transparenz, davon, Mauern einzureissen und Strukturen aufzulösen. Die moderne Architektur versuchte den wuchtigen Baukörper mit Glaselementen zu einem schwebenden Gerüst zu dekonstruieren. Der 1851 erbaute Crystal Palace im Hyde Park erdachte die Architektur neu: Es waren, notiert der Architekturkritiker Edwin Heathcote in der «Financial Times», keine Wände mit Fenstern, sondern Wände, die allesamt aus Fenstern bestanden.

Dieses Element zieht sich wie ein roter Faden durch die Architekturgeschichte. Vom Pariser Grand Palais über den Apple Store bis hin zu Googles neuem Hauptquartier, unter dessen gigantischen Glaskuppeln bis 2020 eine Arbeitslandschaft entstehen soll – immer wieder sind Architekten dem Vexierspiel zwischen Ein- und Ausblick, Spiegelung und Durchlässigkeit erlegen. Transparenz ist spätestens seit den Enthüllungen von Wikileaks das Gebot der Stunde. Und dieser Gedanke manifestiert sich auch in der Architektur.

Nachdem zuerst Diener & Diener und danach auch das Tokioter Büro Sanaa für den Basler Novartis-Campus schon gläserne Bürohäuser errichtet hatten, wurde nach den Plänen des Rotterdamer Architekturbüros MVRDV, das 2000 den spektakulären niederländischen Pavillon an der Expo in Hannover entworfen hatte, ein Gebäude an der Wai Yip Street auf der Halbinsel Kowloon in Hongkong konstruiert, das nicht nur nach aussen, sondern auch nach innen komplett verglast ist. Die Mitarbeiter arbeiten an Glasschreibtischen und sitzen auf Glasstühlen, der Fussboden und die Trennwände sind ebenfalls aus Glas.

Alles wirkt fragil wie in einem Glashaus, die Räumlichkeiten kalt und steril. Doch es geht hier weniger um Funktionalität als um ein Statement. «Wir bewegen uns auf eine transparente Gesellschaft zu», sagte der Architekt Winy Maas von MVRDV. «Die Geschäfte werden offener gegenüber dem Publikum, und die Leute wollen wissen, was sich hinter verschlossenen Türen abspielt.» Der Topos der verschlossenen Tür existiert in diesem Glashaus schon gar nicht mehr, weil man Türen zwar schliessen, aber Gespräche nicht mehr verbergen kann. Alles ist offen.

Glashaus und Trutzburg

Während einerseits ultratransparente Glasfabriken entstehen, wird anderseits eine «weaponized architecture» – so nennt es der Architekt Léopold Lambert – vorangetrieben, mit schiessschartenartigen Fenstern und trutzburgenhaften Mauern. Zu beobachten ist dieses Phänomen an den Polizeirevieren der Pariser Banlieue, die so gebaut sind, als müssten sie auf einen Belagerungszustand reagieren. Die Eingänge sind versteckt, zum Teil vergittert, die Gehwege vor dem Eingang durch Metallplanken gesperrt.

Dieser Kontrast zeigt sich – wohl eher unfreiwillig – zwischen den Neo-Bankside-Bauten und dem gegenüberliegenden Switch House wie unter einem Brennglas. Der Tate-Anbau wirkt mit seinem Backstein und seinen schmalen Fensteröffnungen wie eine Festung, unnahbar, undurchdringbar. Ironischerweise spiegelt sich darin der Fortifizierungscharakter der Neo Bankside, deren Bewohner zwar freien Blick haben, aber doch wie in einem Gefängnis leben. Den Blicken der anderen entkommt man nicht.

Glasfassaden sind die neuen Mauern. Es sind keine räumlichen, eher unsichtbare Grenzen, die den Einzelnen zum Gefangenen seiner Offenheit machen. Vielleicht müsste man den Begriff der «eigenen vier Wände» in dieser Umgebung neu denken. Lässt sich der Schutzbereich der Unverletzlichkeit der Wohnung noch aufrechterhalten? Wo soll ein Eingriff in das Grundrecht vorliegen, wo doch ohnehin alles offen und für jeden einsehbar ist?

Zum Eier braten

Zumindest unter Praktikabilitätserwägungen stösst Glas an Grenzen. Als 2013 in London der verspiegelte Wolkenkratzer «20 Fenchurch Street» von Rafael Viñoly, der im Volksmund wegen seiner Form auch «Walkie-Talkie» genannt wird, in die Höhe wuchs, war die Reflexion der Sonne so stark, dass in einem im Schatten parkierten Jaguar das Armaturenbrett samt Seitenspiegel wegschmolz. Die konkav geschwungene Südfassade bündelte die Sonnenstrahlen wie ein Brennglas. Reporter machten sich einen Spass und brutzelten Spiegeleier.

Unter ökologischen, aber auch unter zoologischen Aspekten sind Glasbauten eine mittlere Katastrophe, weil sie das Stadtklima (Stichwort Urban Heat Island) unnötig aufheizen und zu gigantischen Vogelfallen werden. Aber auch ästhetisch sind Glasbauten umstritten, da sie sich spiegelnd die Schau stehlen und in ihrer Gesamtkomposition auch zunehmend beliebig sind.