Zeitschrift

TEC21 2017|07-08
Mein Haus ist mein Kraftwerk
TEC21 2017|07-08
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Altruist

Sieht so die Zukunft aus? Weil Architekten zu Forschern wurden und ein Gebäude zum ­selbstlosen Energieversorger, entstanden allerlei technische ­Neuerungen. Das Wohnhaus ist ein Ideenpool für künftige Energiesysteme.

17. Februar 2017 - Nina Egger, Viola John, Wojciech Czaja
Viele Jahre vergehen für Planung und Bau, getragen von Akteuren, die man nicht unbedingt erwarten würde: Im Zentrum von Vaduz entsteht derzeit das Active Energy Building von Falkeis Architects – Anton Falkeis und Cornelia Falkeis-Senn und einem Team von Forschern, Entwicklern, ­Schlossern, Maschinenbauern, Robotikern und vielen mehr. Das Gebäude setzt sich aus zwölf Wohneinheiten zusammen und produziert mehr erneuerbare Energie für Heizung und Kühlung, als es selbst verbraucht. Dabei versorgt es gleichzeitig sich selbst und bildet einen Versorgungsknoten für die Nachbargebäude. Das Energiekonzept des Gebäudes basiert einerseits auf bewährten Prin­zipien und Systemen, beispielsweise Geothermie zur Bereitstellung von Wärmeenergie sowie Photovoltaikzellen für Strom. Andererseits sind einige der ein­gebauten Technologiekomponenten eigens für dieses Gebäude entwickelte Prototypen, deren Anwendung für zukünftige Energiesysteme als Vorlage dienen kann, etwa jene für die Klimaregulierung.

Gebaut wird im Energy Cluster

Das Areal, auf dem das Bauwerk errichtet ist, beinhaltet Wohn- und Bürogebäude, Grünanlagen und überbaute Tiefgaragen. Hier soll durch die ausschliessliche Verwendung von erneuerbaren Energiequellen sowie durch die Verknüpfung mit einem Pumpspeicherwerk und E-Mobility die CO2-Bilanz künftig auf vorbildlich niedrigem Niveau gehalten werden. Das Active Energy Building steht im Verbund mit den anderen Gebäuden des Areals und bildet mit ihnen einen sogenannten ­Energy Cluster (Abb.). Der Vorteil: Die dezentrale Energieversorgung kann innerhalb dieses Netzwerks besser genutzt werden als von einem Einzelobjekt. Denn je nach Nutzung der Wohn- und Büroräume entstehen zu unterschiedlichen Tageszeiten Energiebedarfsspitzen. In Summe sind sich die Energieverbräuche auf dem Areal am Vormittag und Abend dadurch viel ähnlicher, als dies im Einzelfall für Wohngebäude oder Büros zutrifft, wo sich der Bedarf im Tagesverlauf von tiefen Tälern zu hohen Spitzen und wieder talwärts schwingt.

Bewährte Systeme weisen den Weg zu Innovationen in der Energietechnik

Für die Nutzung von Geothermie wird dem Erdreich an zwei Stellen Wärme entnommen bzw. zugeführt. Einmal mit einer Entnahmetiefe von 13 m und einer Förder­leistung von 900 l/min, im anderen Fall mit einer ­Entnahmetiefe von 15 m und einer Förderleistung von 1800 l/min. Die Verteilung der thermischen Energie im Cluster erfolgt je nach Aktivität der Nutzungen.

Für die Bereitstellung von PV-Strom sind die schmale Südseite und das gesamte Dach als aktive Flächen ausgebildet. Um bei jedem Sonnenstand für einen maximalen Energieertrag zu sorgen, spielt die ideale Ausrichtung der PV-Zellen zur Sonne eine grosse Rolle. Daher wurden die energiegewinnenden Elemente so konzipiert, dass sie sich mit dem Sonnenstand mit­drehen (Abb.). Die Photovoltaikflügel wurden speziell für dieses Projekt entwickelt. Die Solarzellen selbst sind zwar weitläufig erhältlich, doch für die ­Konstruktion der gebäudeintegrierten, dreiachsigen Nachführung wurde das Planungsteam um Robotik­ingenieure und Maschinenbauer erweitert.

Für die Klimaregulierung an der Ost- und Westseite des Gebäudes wurden in Zusammenarbeit mit Forschern der Hochschule Luzern spezielle Fassadenmodule mit Latentwärmespeicher entwickelt. Die Tests und Simulationen mit den mit einem Phase-Change-Material (siehe Kasten «Phase Change Materials» unten) auf Paraffinbasis gefüllten Flügelelementen nahmen fast drei Jahre in Anspruch. Die Recherche gestaltete sich schwierig, denn die meisten PCM-Hersteller am Markt rieten von dieser noch kaum erforschten Technologie ab. Nachdem sich keine Partner aus der Industrie gefunden hatten, musste die erforderliche Kompetenz für Forschung, Entwicklung und Umsetzung von falkeis.architects selbst aufgebaut werden.

Als Vorbild dient die Natur

Um die im obersten Geschoss angebrachte Energie- und Klimatechnik aufzunehmen, entwickelten die Planer ein Tragwerk aus Stahl, das sie auf das Gebäude setzten. Die Konstruktion umspannt das Dachgeschoss sowie Teile der Ostfassade und ermöglicht zudem die elf Meter lange, südseitige Auskragung des Attikageschosses.

Die Stahlstruktur basiert auf einem Vorbild aus der Natur: dem Voronoi, das organischen Zellen ähnelt. Zum Beispiel bestehen die Flügel einer Libelle aus einer solchen Struktur aus einzelnen Feldern, die so zusammengesetzt sind, dass sie bei geringem Gewicht eine sehr hohe Stabilität aufweisen. Nur so kann die Libelle fliegen. Als Voronoi-Algorithmus bezeichnet man eine Zerlegung des Raumes in bestimmte Regionen. Jede Region wird durch genau ein Zentrum bestimmt und umfasst alle Punkte des Raumes, die näher am Zentrum der Region liegen als an jedem anderen Zentrum.

Die Voronoi-Tragstruktur besteht aus einzelnen zusammengeschweissten Blechträgern. Hierzu wurden die Einzelteile entweder über Kopfplatten mit Schraubverbindungen gefügt oder an ihren Flanschen mit V-Nähten zusammengeschweisst. Alle Träger weisen eine gleichbleibende Höhe von 80 cm auf, bei variabler Neigung der Stege von bis zu 42°. Sie sind im Stahl­betonverbund mit der Gebäudehülle verschnitten. Die Dach- und Fassadenelemente sind über Metalllaschen untereinander verbunden.

Wie Blütenköpfe drehen sich die PV-Elemente zur Sonne

In die polygonalen Felder der Voronoi-Struktur fügen sich Fenster, Oberlichter und alle beweglichen Elemente ein. Darunter sind mehrere Arten von PV- und PCM-Modulen. An der Lamellenfassade im Süden und auf den Balkonelementen im Osten sind polykristalline Zellen installiert, die zusammen 11 kWp liefern. Elf mit monokristallinen Modulen ausgestattete Oberlichter kommen auf 5.4 kWp. Der Grossteil des PV-Ertrags kommt aber von 13 dreiachsig nachgeführten Photovoltaikflügeln mit Flächen von bis zu 12 m², die in der Voronoi-Struktur des Dachs untergebracht sind. Sie folgen, ähnlich den Blütenköpfen von Blumen, während des Tages dem Sonnenverlauf.

Mit einem seit 2014 installierten Mock-up konnten Forscher der HSLU einen Ertragsfaktor von 2.9 nachweisen. Die 34.79-kWp-Anlage wird somit den jährlichen Solarertrag einer gleich grossen, fix ­montierten Solaranlage nahezu verdreifachen. Damit soll das gesamte Areal mit Solarstrom versorgt werden können. Überschüsse, die nicht genutzt werden, nimmt die Kraftwerks AG ab.

Die Klimaregulierung funktioniert phasenweise verschoben

Sieben mit einem Phase Change Material (PCM) als Latentwärmespeicher ausgestattete Klimaflügel sind an der Ost- und Westseite des Gebäudes in die polygonalen Zwischenräume der Voronoi-Struktur eingepasst. In ihrer Ruheposition liegen die Flügel flach in der Trag­struktur und dienen dem Schutz vor sommerlicher Überwärmung. Mit von Solarstrom betriebenen Spindelmotoren, die die Flügel bis zu 110° aufklappen und dem Himmel beziehungsweise der Sonne entgegenstrecken, wird das Potenzial des Phase Change Materials maximal ausgeschöpft.

Die vier Heizflügel (Abb.) befinden sich an der Westfassade des Gebäudes und klappen in den Morgenstunden auf, während das darin enthaltene PCM noch fest ist. Dank der Ausrichtung zur Sonne wird das Paraffin im Material erhitzt und verflüssigt sich bei einer Temperatur von 32 °C. Sobald das geschmolzene PCM am Ende des Tages den maximalen Wärmeeintrag erreicht hat, schliessen sich die Flügel automatisch und docken mittels eines Ventils an das Lüftungssystem an. Über einen Wärmelufttauscher wird die freigegebene Energiemenge an das Haus abgegeben. Die PCM-Flügel decken rund 10 % der gesamten Heizlast ab.

Genau umgekehrt verhält es sich bei den drei ostseitigen Kühlflügeln (Abb.). Diese liegen untertags plan in der Fassade und klappen sich nachts auf, wenn das Material aufgrund der absorbierten Gebäudewärme vollständig geschmolzen ist. In den Nachtstunden wird die überschüssige Energie abgestrahlt. Bei 21 °C verfestigt sich das Paraffin und erstarrt. Noch vor Sonnenaufgang klappen die abgekühlten und erstarrten PCM-Module wieder ein und tragen zur Kühlung der zweigeschossigen Attikawohnung bei. Auf diese Weise können 16 % der Gesamtkühllast des Hauses eingespart werden.

Sowohl bei den Heiz- als auch bei den ­Kühl­flügeln handelt es sich um polygonale Carbon­faserrahmen, die mit waagerecht montierten Alu­minium­lamellen bestückt sind. Der Querschnitt der stranggepressten Lamellen erinnert an jenen von Flugzeugflügeln: Die Wölbung kann sich leicht verformen und nimmt auf diese Weise die zehnprozentige Volumen­änderung auf, die das darin enthaltene Paraffin zwischen flüssigem und festem Zustand aufweist.

Bei der Konstruktion zählt die digitale Innovation

Für das Tragwerk des Gebäudes kamen zwei verschiedene Stützenmodelle zum Einsatz: eine gleichschenk­lige symmetrische Betonfreiformstütze sowie ein asymmetrisches Modell mit einem diagonalen und einem ­vertikalen Schenkel (Abb.). Durch die mal A-, mal V-förmige Verbauung verdoppelt sich das Repertoire auf insgesamt vier Varianten.

Die genaue Position jeder einzelnen A- und V-Stütze wurde in einem iterativen digitalen Berechnungsverfahren, gesteuert durch einen genetischen Algorithmus, so lange optimiert, bis eine Synthese aus minimalem Materialeinsatz und maximalem Sonneneintrag über die Ost-, Süd- und Westfassaden erreicht war ­(siehe Kasten «Digitaler Entwurf» unten).

Die Stützen verbinden sich untereinander zu komplexen Baumgebilden mit Verästelungen und Verzweigungen. Mit jeder Etage nimmt nicht nur die abzutragende Eigen- und Nutzlast ab, sondern auch die Zahl der dafür verantwortlichen Stützen. Die Spannweiten zwischen den Fuss- beziehungsweise Kopfpunkten betragen bis zu 12 m.

Die Freiformgeometrie mit der gedrehten Naht verleiht den Säulen ein weiches, organisches Erscheinungsbild. Zu verdanken ist die hohe Zeichnungsfähigkeit des ­Materials dem selbstverdichtenden High-Performance-­Beton (HP-Beton) mit hohem Quarzanteil, harter Gesteinskörnung und beigemischten Polypro­pylen­fasern (PP-Fasern). Entwickelt wurde die Betonrezeptur ­namens «alphapact P080» in Kooperation mit Holcim Schweiz.

Für den ungleichmässigen Querschnitt der ­Stütze wurde eine dreiteilige Gussform als Schalung entwickelt, die auf Basis der 3-D-Daten aus Epoxidharz gegossen wurde und keinerlei Hinterschneidungen enthält. ­Eingeschweisste und einbetonierte Anker- und Anschlussplatten mit integrierten Messpunkten erleichterten nicht nur die Montage vor Ort, sondern sorgten auch dafür, dass die geringe Bautoleranz von zwei Millimetern sogar noch unterschritten werden konnte.

Ein interessantes Experiment

Das Active Energy Building ist zweifellos interessant hinsichtlich seiner technischen Funktionen und Entstehungsgeschichte. Seine Erstellung erforderte einen hohen planerischen und bautechnischen Aufwand, was nur durch die finanzielle Unterstützung der Bauherren möglich wurde, die als Forschungsmäzene wirkten.

Das Ehepaar Marxer, das den Auftrag für das Bauwerk erteilte, appellierte an den Erfindungsreichtum der Architekten und bot ihnen die Chance, die Grenzen des technisch Möglichen auszureizen. Das ­Active Energy Building ist nicht als klassisches Architekturprojekt zu verstehen, sondern als ein Experiment, das zur Architektur- und Wohnbauforschung beiträgt. Nach dem Bezug des neuen Gebäudes wird über einen Zeitraum von zwei Jahren ein externes Monitoring zur weiteren Optimierung der Energieproduktion und -einsparung eingesetzt werden. Schon jetzt gibt es dank dem Active Energy Building einige neue Patente für Bauelemente. Es bleibt spannend und abzuwarten, wie sich die Forschungsergebnisse zukünftig auf die Baubranche auswirken werden.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

Tools: