«Normal»

Was hat das Normale mit der Norm und dem rechten Winkel zu tun? Ein Blick in die Sprachgeschichte verrät es.

Klaus Bartels
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Der 90-Grad-Winkel heisst bei Euklid orthé gonía. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Der 90-Grad-Winkel heisst bei Euklid orthé gonía. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Die Bauleute suchen das Gerade und Genaue, das im Wortsinn Senk(blei)-rechte und Waage-rechte. In seinem naturphilosophischen Lehrgedicht macht Lukrez einmal das Bauhandwerk zum Bild der Wissenschaft: Wenn das Richtscheit so krumm wie lang ist, das Winkelmass vom rechten Winkel abweicht, die Wasserwaage auf wackligen Füssen steht, werde das windschiefe Haus bald vollends einstürzen; geradeso könne aus einer falschen Wahrnehmung nur eine falsche Erkenntnis hervorgehen.

Die Instrumente, die Lukrez da nennt, sind alle drei in unserer Sprache heimisch geworden: das Richtscheit, lateinisch regula, mit der «Regel», das Winkelmass, lateinisch norma, mit der «Norm», die Wasserwaage, lateinisch libella, mit der «Libelle» und dem «Niveau».

Der 90-Grad-Winkel heisst bei Euklid orthé gonía, «aufrechter Winkel», und danach bei den Römern rectus angulus; es verwundert nicht, dass dieser «rechte, richtige Winkel» bald überhaupt zum Massstab des Rechten, Richtigen wurde. Cicero spricht einmal von der «norma rationis», dem «Winkelmass der Vernunft», an dem der jüngere Cato sein Leben ausrichte; ein andermal nennt er die Natur die «norma legis», das «Winkelmass des Gesetzes». Wir sprächen da mit einem entsprechenden Bild von einer «Richtschnur der Vernunft» und einer «Richtschnur des Rechts». Und der jüngere Plinius rühmt den grossen Redner Demosthenes einmal gleich zwiefach als «norma oratoris et regula», das «Winkelmass eines Redners und sein Richtscheit» – daran mochten die Späteren dann ihre Schieflage ablesen.

Das von der norma abgeleitete Adjektiv normalis bedeutet «mit dem Winkelmass in den rechten Winkel eingepasst, rechtwinklig», ein angulus normalis ist ein Winkelmass-Winkel, eben ein «rechter Winkel». Von einem «normalen Menschen» hat die Antike noch nicht gesprochen. Aber nehmen wir das Wort beim Wort, so wäre dieser «Winkelmass-Mensch» einer, der im rechten, richtigen Winkel steht zu den Menschen und den Dingen um ihn her, einer, der aus keinem Blickwinkel als ein «schräger Vogel» in der Landschaft steht. Oder mit den einschlägigen Redensarten vom Bau: einer, bei dem alles «im Lot» ist, den man nicht öfter «in den Senkel», sprich: ins Senkblei, stellen muss. Aber wie gesagt: Von einem so wundervollen homo normalis war in der Antike noch nicht die Rede.

In neuerer Zeit hat die norma ihre Bedeutung ausserordentlich, geradezu «enorm» erweitert und gesteigert. Weit über die industrielle Fertigung hinaus, bis ins gesellschaftliche Verhalten hinein sprechen wir von technischen und ethischen «Normen» im Sinn von allgemein anerkannten verbindlichen Richtmassen. Dagegen ist die Bedeutung des «Normalen» in unserem Sprachgebrauch zum ganz «Gewöhnlichen, Durchschnittlichen, Unauffälligen» verblasst; da ist die kunstgerechte winkelrechte Fügung zur beiläufigen, alltäglichen «Normalität» herabgesunken. Erst wo das Normale im Gegensatz zum abweichenden «Abnormen», krankhaft Anomalen oder Anormalen steht, scheint die ursprüngliche Bedeutung des im rechten Winkel sorgsam Eingepassten wieder durch.

«Anomal» oder «Anormal»? Da hat der Anklang des – nicht verwandten – griechischen Adjektivs homalós, «eben, gleichmässig, gleichartig», oder vielmehr seiner Negation an-(h)ómalos, «uneben, ungleich, anomal», an das lateinische Wort zu einer ausgesprochen schrägen Wörter-Liaison verlockt. Unser Fremdwortschatz kennt das rein griechische «anomal» und die «Anomalie»; in Anlehnung daran hat sich das griechische Kopfstück a-, an-, im Deutschen «un-», mit dem lateinischen normalis zu dem griechisch-lateinischen Zwitter «a-normal» verbunden. Sprachliche Anomalien im ureigenen Wortfeld der «Norm»: Ein rein lateinisches in-normalis hat es nie gegeben, aber dafür findet sich am anderen Ende des Alphabets noch ein zweiter solcher Zwitter, das deutsch-lateinische «unnormal».

Und noch ein letztes Wort vom Bau: Am Anfang seiner Schrift «Wie einer seinen Fortschritt in der Tugend wahrnehmen könne» zitiert Plutarch ein streng gefügtes – fast möchte man hier sagen: an Richtscheit und Winkelmass ausgerichtetes – namenloses Dichterwort: «Nach der Richtschnur sollst / den Stein du setzen, nicht die Richtschnur nach dem Stein.»