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Wohnhaus für Exhibitionisten
Der Standard

In Neu-Leopoldau entsteht ein Wohnhaus mit komplett verglasten Wohnungseingängen. Die offenen Schaufensterräume sind als Kreativzone für Selbstverwirklichung der jungen Mieter gedacht.

1. März 2017 - Wojciech Czaja
Wien – Die Niederländer, sagt man, wohnen in der Auslage. Das calvinistische Wohnverständnis ohne Scham und ohne Vorhänge mutet hierzulande in der Tat seltsam an. In Kürze wird auch Wien sein erstes extrovertiertes Haus haben. Am südwestlichen Zipfel von Neu-Leopoldau, Parzelle H1, entsteht ein Wohnbau mit 65 geförderten Wohnungen, die zum Stiegenhaus hin raumhoch verglast sind. Sämtliche Wohneinheiten werden über eine Glastür mit anschließendem Fenster erschlossen. Die ersten Visualisierungen verheißen einen Hauch von urbaner Setzkasten-Atmosphäre.

„Dieses Haus richtet sich speziell an junge Leute, die sich danach sehnen, kreativ zu sein und einen Teil der Wohnung als Schaufenster in den sozialen, halböffentlichen Raum zu nutzen“, erklärt Richard Scheich, Projektleiter im Wiener Architekturbüro feld72. Angedacht sind Ateliers, Hobbyräume, Hausbibliotheken, ausgefallene Sammlungen oder kleine gewerbliche Einheiten wie etwa Minifriseur oder Tätowierstudio. „Es geht um Selbstverwirklichung“, so Scheich. „Und wenn es nur der eigene Weinkeller oder ein kleiner Hausflohmarkt ist, den man einmal in der Woche veranstaltet.“

Züricher Vorbild

Was in Österreich exotisch anmutet, ist in der Schweiz All- tag. Viele innovative Wohnbaugenossenschaften praktizieren genau das: Offenheit gegenüber den Nachbarn. Und die Mieter scheinen das Angebot zu lieben. Am Hunzikerareal in Zürich, mit dem das Projekt feld72 große Ähnlichkeit aufweist, sieht man die ausgiebige Experimentierlust der Bewohnerinnen – und weit und breit weder Vorhänge noch Jalousien.

„Das ist progressiv und sicher nicht jedermanns Geschmack“, meint der Architekt, der den fünf bis acht Quadratmeter großen, verglasten Vorraum als „Plusbereich“ bezeichnet. „Auch der Wohnfonds Wien hat in der Entwicklungsphase Bedenken gehabt. Aber es reicht schon, wenn wir aus ganz Wien ein paar Dutzend Junge und Junggebliebene für diese Idee begeistern können.“ Hinter dem „Plusbereich“ wird es übrigens einen baulich fix eingeplanten, undurchsichtigen Vorhang geben. Dahinter darf sich dann jeder in klassischer Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit üben.

Hinter dem ungewöhnlichen Projekt, das mit dem Architektursoziologen Jens Dangschat entwickelt wurde, steckt die Wohnbaugenossenschaft Schwarzatal. Mit außergewöhnlichen Wohnprojekten hat der gemeinnützige Bauträger bereits Erfahrung. Das als Baugruppe entwickelte Wohnprojekt Wien am Nordbahnhofareal wurde bereits mit etlichen Preisen überhäuft – darunter auch mit dem Österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit.

„Wir wollen etwas Neues ausprobieren“, sagt Benjamin Heinrich, Projektmanager bei Schwarzatal. „Und das heißt, dass man sich auch trauen muss, experimentell zu arbeiten und ein gewisses Risiko einzugehen. Wir sind davon überzeugt, dass wir Menschen finden werden, die sich für genau diese Form des Wohnens interessieren.“ Der Großteil der Wohnungen hat zwischen 39 und 75 Quadratmeter und wird bei knapp acht Eure Miete pro Quadratmeter liegen. Hinzu kommen ein paar Wohnungen mit zwei separaten Eingängen – für Homeoffices, Airbnb-Kandidaten und renitente Pubertierende. „Den Mietern wird schon was einfallen“, meint Heinrich. „Hier ist Kreativität gefragt.“

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Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

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