Schlaflos in Delhi

Vor 45 Jahren schufen Raj Rewal und Mahendra Raj auf dem «Pragati Maidan»-Messegelände in Delhi drei Meisterwerke der modernen indischen Architektur. Nun sind sie vom Abriss bedroht.

Britta Petersenl
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Meisterwerk indischer Betonbaukunst – Raj Rewal und Mahendra Raj realisierten die Hall of Nations 1972 auf dem Messegelände «Pragati Maidan» in Delhi.(Bild: Ariel Huber)

Meisterwerk indischer Betonbaukunst – Raj Rewal und Mahendra Raj realisierten die Hall of Nations 1972 auf dem Messegelände «Pragati Maidan» in Delhi.(Bild: Ariel Huber)

Er ist gerade erst ins Büro gekommen, aber er sieht bereits erschöpft aus. «Schon wieder eine schlaflose Nacht», sagt der 83-jährige Architekt Raj Rewal. «Was momentan passiert, ist sehr schmerzhaft für mich.» Am Nachmittag soll der High Court in der indischen Hauptstadt Delhi ein Urteil fällen, von dem es vermutlich abhängt, ob ein Teil seines international bekannten Lebenswerks unwiderruflich zerstört wird. Zusammen mit dem 92-jährigen Ingenieur Mahendra Raj hat Rewal 1972 auf dem Pragati-Maidan-Messegelände im Zentrum Delhis drei ikonische Bauwerke geschaffen, die nach dem Willen der neuen Regierung nun einem modernen Tagungszentrum weichen sollen: die Hall of Nations, die Hall of Industries und der Nehru Pavilion.

Einzigartige Zeitzeugen

Jahrelang galt die Hall of Nations – das erste und bis heute grösste Ortbeton-Fachwerk der Welt – als Symbol der indischen Hauptstadt. Sie wurde zur 25-Jahr-Feier der Unabhängigkeit erbaut und zierte Briefmarken und Werbebroschüren für Touristen. Aufbruchstimmung und Optimismus der 1970er Jahre spiegeln sich in der Halle. Das Raumfachwerk von knapp 80 Metern Spannweite überzeugt auch heute noch durch Leichtigkeit und Eleganz – wie die «Jalis» genannten Gitterelemente der traditionellen indischen Architektur, die Rewal inspiriert haben. Doch heute wollen viele vom Sozialismus der damals regierenden Kongresspartei, an deren grosse Zeit die Bauten erinnern, nichts mehr wissen. Die neue Regierung der Hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) hat eine andere Vision für Indien.

«Für mich sind die Hallen auch ein Denkmal für jene indischen Arbeiter, die mit 500 Familien monatelang auf dem Gelände wohnten, um mit dem Bau rechtzeitig fertig zu werden», sagt Raj Rewal. «Eigentlich waren sie in Stahl geplant, aber damals fehlten uns in Indien dafür die Kapazitäten.»

Erstaunliche Ingenieurleistung

Also beschlossen er und Mahendra Raj, in Beton zu bauen. Dahinter steckt eine erstaunliche Ingenieurleistung und eine gehörige Portion von dem, was in Indien Jugaad genannt wird: Improvisation. «Die Baufirmen haben mir alle gesagt: Das ist unmöglich», erinnert sich Mahendra Raj. Vorgefertigte Betonteile konnten damals in Indien nicht in der Präzision produziert werden, die notwendig ist, um das enorme Gewicht der Raumstruktur zu tragen. Also wurden die Betonstreben in situ von Hand gefertigt – von Arbeitern, die über nur sehr geringe Qualifikation verfügten. «Ich habe keinen Augenblick geglaubt, dass es unmöglich ist», sagt Mahendra Raj trocken. «Ich entwerfe nichts, was nicht gebaut werden kann. Ich bin Ingenieur, kein Träumer.»

Weder zuvor noch danach wurde ein Gebäude auf diese Art gefertigt. International hat dies Mahendra Raj und Raj Rewal viel Anerkennung eingebracht. Nicht zuletzt deshalb haben das Museum of Modern Art in New York, das Centre Pompidou in Paris, die International Union of Architects und die ETH Zürich, wo Mahendra Raj im vergangenen Jahr zu Gast war, die indische Regierung in eindringlichen Briefen darauf hingewiesen, dass es sich um architektonische Meisterwerke handelt. Alarmiert von den Abrissplänen, verfasste der Bund Schweizer Architekten (BSA) am 7. Februar eine Presseerklärung, in der er «ausdrücklich und eindringlich» für den Erhalt der drei Bauwerke eintritt. Diese seien «einzigartige Zeugen der indischen Baukunst», deren Bedeutung in die ganze Welt hinaus strahle: «Sie müssen deshalb für heutige und kommende Generationen erhalten bleiben.»

Doch die Verantwortlichen in Delhi interessiert das wenig. Am Nachmittag des 15. Februar erhielt der Architekt Rohit Raj Mehendiratta, der sich zusammen mit seinem Vater Mahendra Raj für den Erhalt der drei Gebäude engagiert, einen Anruf von seinem Anwalt. «Die Nachrichten sind nicht gut», sagt er. Das staatliche Heritage Conservation Committee (HCC) habe eine frühere Empfehlung für den Erhalt der Bauten zurückgezogen; diese sei nur von einem Unterkomitee abgegeben worden.

Ein Urteil fällen

«Was bleibt mir da übrig?», fragte der zuständige Richter am High Court, Sanjeev Sachdeva. «Das HCC ist die entscheidende Behörde.» Eine rechtliche Grundlage fehlt bis anhin. Bis zum 6. März will sich das Gericht Zeit zum Nachdenken nehmen und dann ein Urteil fällen. Danach bliebe nur noch ein Gang zum Obersten Gericht, dem Supreme Court – mit ungewissem Ausgang.

Auf dem Pragati Maidan jedenfalls sind bereits Abrisskommandos im Einsatz. Eine Halle direkt neben dem Nehru Pavilion, die aber nicht zu dem architektonisch bedeutsamen Komplex gehört, wurde schon demoliert. Im Nehru Pavilion selbst, der eine Ausstellung über Leben und Werk des ersten indischen Premierministers Jawaharlal Nehru beherbergt und dessen Innenausstattung zum Teil vom amerikanischen Designer Charles Eames gestaltet wurde, hört man die Bagger bedrohlich.

Der Nehru Pavilion ist im Grundriss einem Yantra, einer geometrischen Meditationsstruktur in der hinduistischen Tradition, nachempfunden und wie frühe buddhistische Stupas in einen grasbewachsenen Hügel eingelassen. «Es ist das erste moderne indische Gebäude, das sich auf diese Tradition bezieht», sagt Rewal. «Es ist bewusst einfach gehalten, weil Nehru keinen Pomp um seine Person gewollt hätte.»

Ein Blick ins Innere der Hall of Nations in Delhi. (Bild: Ariel Huber)

Ein Blick ins Innere der Hall of Nations in Delhi. (Bild: Ariel Huber)

Die Hall of Nations und die angrenzende, im selben Stil gebaute Hall of Industries machen einen vernachlässigten, aber intakten Eindruck. Ausstellungen finden auf dem Pragati Maidan nur in der Saison statt. Auch deshalb will die zuständige India Trade Promotion Organisation (ITPO) dort ein Tagungszentrum schaffen, das rund ums Jahr bespielbar ist.

In der Hall of Nations hocken Arbeiter auf dem Boden und kochen sich auf einem kleinen Gaskocher Tee. Der Boden ist übersät mit Taubenkot. Eine vertrocknete Blumengirlande von der letzten Ausstellungseröffnung hängt noch am Eingang. «Betongebäude müssen regelmässig gewartet werden», sagt Mahendra Raj. «Davon abgesehen sind die Hallen in Ordnung.» Die mehr als 40 Jahre alten Gebäude sind nicht vom Einsturz bedroht. «Man könnte dort auch Klimaanlagen einbauen», sagt Raj Rewal. Dabei bricht die bestehende gitterartige Struktur schon jetzt das Sonnenlicht, so dass die Temperatur im heissen Sommer drinnen um etwa zehn Grad niedriger ist als draussen.

Kühne Bauten

Rewal versteht, dass für einen modernen Konferenzbetrieb die Hallen umgebaut werden müssten. Insgesamt habe der Pragati Maidan eine Fläche von 50 Hektaren. Die drei Gebäude nähmen nur etwa fünf bis sieben Prozent davon ein. Genug Platz wäre also, um eine Neugestaltung des Messegeländes vorzunehmen, ohne die alten Strukturen abzureissen. Doch die Ideen der Erschaffer sind der ITPO nicht willkommen. In einem Wettbewerb für die Neugestaltung des Pragati Maidan, der im vergangenen Jahr abgehalten wurde, gaben internationale Juroren dem Vorschlag von Rewal und Raj die höchste Bewertung, bei den indischen Jurymitgliedern jedoch fiel er durch.

Die Entwürfe, die einen Erhalt der Hall of Nations, der Hall of Industries und des Nehru Pavilion vorsahen, verschwanden in der Schublade. Ein zweiter Wettbewerb wurde ausgeschrieben, mit der dezidierten Auflage, die bestehenden Gebäude nicht zu erhalten. «Es ist eine Schande», sagt Mahendra Raj. «Dies sind kühne Gebäude, Ingenieure aus aller Welt haben das anerkannt. Ich würde mich elend fühlen, wenn sie abgerissen werden.»

Wie ein Omen mutet daher das Gedicht des ersten indischen Premierministers am Eingang des Nehru Pavilion an, das so gar nicht zum Optimismus seiner Zeit zu passen scheint: «Die Wälder sind lieblich, dunkel und tief. Aber ich habe Versprechen zu halten. Und noch Meilen zu gehen, bevor ich schlafe. Noch Meilen zu gehen, bevor ich schlafe.»

Die Journalistin Britta Petersen ist Senior Fellow bei der indischen Denkfabrik Observer Research Foundation (ORF) in Delhi.